Russland hat aus Sicht Joachim Hörsters die Notwendigkeit erkannt, sich auf den Europarat zubewegen zu müssen und deshalb die Reform des überlasteten Menschenrechtsgerichtshofs ermöglicht. Der wiedergewählte Leiter der Bundestagsdelegation beim Europarat sieht gleichwohl im Verhältnis zwischen Straßburg, dem Sitz des Europarates, und Moska viele Probleme ungelöst. Aus Anlass der am Montag, 25. Januar 2010, beginnenden fünftägigen Wintersession der Parlamentarischen Versammlung des Europarates äußert sich Hörster im Interview auch zur Türkei. In der anstehenden Wahl eines Türken zum Präsidenten der Paralmentarischen Versammlung des Staatenbundes sieht der CDU-Politiker ein Signal an Ankara, sich am Bosporus stärker für die Beachtung von Grundrechten zu engagieren.
Zum Amtsantritt der neuen Bundestagsdelegation in
Straßburg präsentiert Russland eine Morgengabe beim
Europarat: Als letztes der 47 nationalen Parlamente hat die Duma
den Weg für eine Reform des überlasteten
Menschenrechtsgerichtshofs freigemacht. Zeichnet sich eine
Entspannung im konfliktbeladenen Verhältnis zwischen dem
Europarat und Moskau ab?
Die in allen 47 Ländern erforderliche Ratifizierung des Zusatzprotokolls 14 zur Menschenrechtscharta über die Verbesserung der Arbeitsweise des Gerichtshofs signalisiert in der Tat eine gewisse Entspannung. Aber aus Straßburger Sicht sind noch viele Probleme unerledigt. Man denke nur an die Beschneidung der Medienfreiheit, an die Wahlabläufe oder besonders an den Krieg mit Georgien von 2008 samt den schwärenden Konflikten um die Provinzen Südossetien und Abchasien, die von Russland abgesichert ihre Abspaltung von Tiflis zu betreiben suchen. Ob der Ratifizierungsakt durch die Duma auch bei diesen Fragen Fortschritte bewirken wird, bleibt abzuwarten. Offenbar hat man aber in Moskau die Notwendigkeit erkannt, sich auf den Europarat zubewegen zu müssen, wenn man dort weiter mitspielen will.
Was haben die Bürger von den Neuerungen?
Die Reform ist ein erheblicher Fortschritt. Ich denke, dass Kläger nicht mehr jahrelang auf ein Urteil aus Straßburg werden warten müssen. Gegenwärtig harren über 120.000 unerledigte Klagen einer Bearbeitung. Dieser Stau kann sich nun auflösen, da die geplanten Maßnahmen zur Verfahrensbeschleunigung vor allem bei vielen unzulässigen und einfach zu regelnden Eingaben künftig schnelle Entscheidungen erlauben. Die von Russland jetzt akzeptierte Reform kann im Übrigen bewirken, dass auch der in Straßburg seit Jahren anhängige und für Moskau schwierige Fall von Michail Chodorkowski endlich auf die Tagesordnung des Gerichtshofs kommt: Aus Sicht des russischen Ölmagnaten und Oppositionellen erfolgte seine Verurteilung zu mehrjähriger Haft wegen Steuerhinterziehung in Wahrheit aus politischen Gründen und verstoße deshalb gegen die Menschenrechtskonvention.
Während der Sitzungswoche wird das Europaratsparlament einen Türken und damit erstmals einen Vertreter dieses Landes in eine hochrangige Funktion bei dem Staatenbund wählen. Ein Zufall des politischen Machtspiels? Oder geht von dieser Wahl ein politisches Signal aus?
Mevlüt Cavusoglu, bislang Leiter der türkischen Delegation, wird wohl als einziger Bewerber eine Mehrheit erhalten. Nach den Proporzregeln steht dieses Mal der konservativen Fraktion, der uunter anderem britische Konservative und viele russische Abgeordnete angehören, das Recht auf die Benennung eines Kandidaten zu, und dort hat sich Cavusoglu durchgesetzt. Die Wahl eines Türken wäre ein Vertrauensvorschuss des Europarates, der im Gegenzug von der Politik am Bosporus mehr Anstrengungen bei der Lösung des Zypern-Problems, aber auch bei der Durchsetzung innerer Reformen erwartet, zum Beispiel eine rechtsstaatliche Justiz, humanen Strafvollzug, Pressefreiheit oder Minderheitenrechte.
Ein Türke an der Spitze des Europarats-Parlaments: Soll diese Botschaft Brüssel auffordern, sich gegenüber Ankara stärker zu öffnen? Hilft die Wahl in Straßburg vielleicht, eine EU-Mitgliedschaft der Türkei zu befördern?
Nein, auf keinen Fall, das will ich deutlich unterstreichen. Die Wahl Cavusoglus wäre kein Signal an die EU, sich auf Ankara zuzubewegen. Sie wäre eine Aufforderung an die Türkei, sich intensiver für die Beachtung der Standards unserer Menschenrechtscharta zu engagieren. Geschieht dies nicht, werden wir in Straßburg darüber diskutieren, ob wir die dortige Regierung stärker unter Druck setzen können.
Ausgerechnet dieses Mal debattiert das Europarats-Parlament über die Situation nichtmoslemischer Minderheiten in der Türkei, um deren Freiheit es nicht unbedingt zum Besten steht.
Auch Christen in der Türkei sind von solchen Restriktionen betroffen. Gerade die Gewährleistung von Minderheitenrechten wird zeigen, ob in Ankara das von der Wahl Cavusoglus ausgehende Signal richtig verstanden wird. Das wird zu einer Nagelprobe für die Glaubwürdigkeit der Türkei.
Welche Schwerpunkte hat sich die neue Bundestagsdelegation für die nächsten vier Jahre in Straßburg gesetzt?
Wir werden in erster Linie darauf dringen, dass sich der Europarat auf seine Kernaufgaben konzentriert und so international Profil gewinnt. Der Staatenbund darf sich thematisch nicht verzetteln, sondern muss sich verstärkt um die Wahrung freiheitlicher Rechtsstaatlichkeit in den Mitgliedsländern kümmern. Dazu zählen etwa eine funktionsfähige Justiz, demokratische Wahlsysteme oder die Medienfreiheit. Ein wenig beachteter Aspekt: Die Sozialcharta ist nicht nur von wohlhabenden, sondern auch von ärmeren Staaten einzuhalten.
Bisher spielt der Europarat im Bundestag keine große Rolle. Wird sich das ändern?
Befasst sich der Staatenbund mit Themen wie etwa Klimapolitik, Rauchverboten oder Rundfunkrecht, die nichts mit seinem Auftrag zu tun haben, so beschäftigt das den Bundestag eben nur mäßig. Wenn sich Straßburg aber auf demokratische Rechtsstaatlichkeit konzentriert und dann Länder wie etwa Russland, die Türkei oder die Ukraine ins Blickfeld geraten, wird es politisch brisant. Das interessiert dann auch den Bundestag.