Berlin: (hib/KOS) Nach Einschätzung Ulrich Kerstens gibt es keine Hinweise, dass vom Bundeskriminalamt (BKA) zur Jahreswende 2001/2002 an US-Stellen gelieferte Informationen zur mehrjährigen Inhaftierung des Bremer Türken Murat Kurnaz in Guantanamo führten. Zum Auftakt der für Donnerstag anberaumten Zeugenvernehmungen vor dem Untersuchungsausschuss wollte der seinerzeitige BKA-Präsident jedoch nicht ausschließen, dass deutsche Ermittlungserkenntnisse in die USA über die 15 FBI-Verbindungsleute gelangt sein könnten, die nach den Attentaten vom 11. September 2001 zu der damals neu eingerichteten 600-köpfigen BKA-Sonderkommission zur Bekämpfung des Terrorismus entsandt wurden. "Kurnaz erlitt Unrecht": Mit diesen Worten bedauerte Kersten die lange Gefangenschaft des in Bremen aufgewachsenen Türken, der nach seiner Festnahme Ende 2001 in Pakistan über Afghanistan im Februar 2002 nach Guantanamo gebracht wurde und erst im August 2006 nach einer Intervention von Kanzlerin Angela Merkel bei US-Präsident George W. Bush nach Deutschland zurückkehren konnte. Die Verantwortung für die Inhaftierung unter Vorenthaltung elementarer Rechte liege jedoch bei den USA.
Kersten erläuterte, dass seit der Jahreswende 2001/2002 aufgrund der seinerzeit vorliegenden Erkenntnisse Kurnaz als potentieller Gefährder eingeordnet worden sei. Die Kontakte des Türken zu als islamistisch einzustufenden Gruppen und die Umstände seiner Reise Anfang Oktober 2001 nach Pakistan hätten in ein Muster gepasst, das von der Anwerbung und der Vorbereitung für den Dschihad her bekannt gewesen sei. In diesem Zusammenhang, so der Zeuge, seien bei Kurnaz bis heute Fragen offen geblieben. Auch das Verhör von Kurnaz durch drei deutsche Geheimdienstler in Guantanamo im Herbst 2002 hat laut Kersten seinerzeit den Verdacht nicht entkräftet, dass von dem Türken möglicherweise doch weiterhin eine Gefahr ausgehen könnte.
Zu der im Oktober 2002 von den Geheimdienstspitzen unter Verantwortung des damaligen Kanzleramtschefs Frank-Walter Steinmeier (SPD) in der sogenannten "Präsidentenrunde" verhängten Einreisesperre gegen Kurnaz sagte Kersten, man habe die deutsche Position vorsorglich für den Fall abstimmen wollen, dass die USA ein dann nicht zustande gekommenes Angebot zur Entlassung des Guantanamo-Häftlings unterbreiten sollte. In der Runde sei die Freilassung von Kurnaz durchaus befürwortet worden. Doch habe man den USA rechtzeitig signalisieren wollen, ihn in einer solchen Situation wegen seiner türkischen Staatsbürgerschaft in die Türkei zu entlassen. Auf Nachfrage des FDP-Abgeordneten Max Stadler erklärte Kersten, im Falle einer deutschen Staatsangehörigkeit hätte man Kurnaz trotz der Gefährdungsprognose in die Bundesrepublik einreisen lassen.
Unter Hinweis auf entsprechende Zeugenaussagen vor dem Ausschuss hielt Stadler dem Ex-BKA-Präsidenten vor, dass den USA nur die Mitteilung über die Einreisesperre gegen Kurnaz übermittelt worden sei, der Hinweis auf die Türkei als Alternative für eine Überstellung jedoch gefehlt habe. Dies habe, so der Liberale, auf US-Seite möglicherweise den Eindruck verfestigt, bei ihrem Gefangenen handele es sich eben doch um eine gefährliche Person, die man besser nicht freilasse. Kersten entgegnete, er wisse nicht, auf welche Weise das damit beauftragte Bundesamt für Verfassungsschutz die US-Behörden über das Ergebnis der Präsidentenrunde unterrichtet habe.
Mehrfach äußerten die Oppositionssprecher Stadler, Wolfgang Nescovic (Linkspartei) und Hans-Christian Ströbele (Grüne) den Verdacht, dass über die FBI-Verbindungsleute oder über das BKA zwischen Anfang Oktober 2001 und Mitte Januar 2002 in Deutschland gesammelte Verdachtsmomente zur US-Seite gelangten und so die US-Behörden erst zur Entscheidung brachten, Kurnaz vom afghanischen Kandahar nach Guantanamo zu transportieren. So äußerte Nescovic die Vermutung, dass die USA bereits in den ersten Oktobertagen 2001 über die Umstände des Abflugs von Kurnaz nach Pakistan und über damals aufgetauchte erste Verdachtsmomente unterrichtet worden sein könnten, der Bremer Türke wolle angeblich mit den Taliban kämpfen. Ströbele verwies auf Aussagen von Kurnaz, dass er bereits in Kandahar von US-Vernehmern mit Details aus seinem Bremer Leben konfrontiert worden sei. SPD-Obmann Thomas Oppermann hingegen sagte, zu Jahresbeginn 2002 sei nicht bekannt gewesen, dass der Informationsaustausch zwischen Sicherheitsbehörden einen Beitrag zu rechtswidrigen Inhaftierungen leisten könne.
Kersten meinte, auch ohne Erkenntnisse von deutscher Seite seien die USA im Fall Kurnaz zu dem entschlossen gewesen, was sie dann taten. Nach den Angaben des Zeugen haben die FBI-Verbindungsleute zwar nicht selbst ermittelt, waren jedoch in die Arbeit der BKA Sonderkommission eingebunden. Ob die FBI-Vertreter auch Zugriff auf die Computer der BKA-Beamten hatten, wisse er nicht.
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