Bosnien-Krieg
Emir Suljagics bedrückender Zeitzeugenbericht des Massakers von Srebrenica
Das Buch "Srebrenica. Notizen aus der Hölle" ist der erschütternde Bericht eines Überlebenden. Der Autor Emir Suljagic war 20 Jahre alt, als serbische Milizen am 11. Juli 1995 die von den Vereinten Nationen geschützte Sicherheitszone von Srebrenica einnahmen. Dorthin hatte sich die muslimische Bevölkerung geflüchtet und auf den Schutz durch die Uno vertraut. Doch die niederländischen Blauhelm-Soldaten überließen die Menschen der bosnisch-serbischen Armee unter General Ratko Mladic. Die meisten von ihnen wurden in den umliegenden Wäldern erschossen. Srebrenica steht seither mit mehr als 7.000 ermordeten bosnischen Muslimen für das größte Verbrechen in Europa seit dem Zweiten Weltkrieg. In Bosnien-Herzegowina dauern bis heute die Suche nach den Toten und die Exhumierung der Massengräber an. Suljagic entkam diesem Massaker dank seiner damaligen Tätigkeit als Dolmetscher für die Vereinten Nationen. Aber das Erlebte hat ihn bis zum heutigen Tag niemals mehr losgelassen.
"Zwischen ihrem Tod und meinem Dasein gibt es keinen Unterschied, weil ich in einer Welt weiterlebe, die dauerhaft, unwiederbringlich von ihrem Tod gezeichnet ist", schreibt der Autor. Suljagic studierte nach dem Krieg Politikwissenschaft an der Universität von Sarajevo, arbeitete als Journalist für das in Sarajevo erscheinende Wochenmagazin "Dani" und ist heute am Institut für Friedensforschung und Sicherheitspolitik an der Universität Hamburg tätig. In seinem Buch zeigt er sich als subjektiver Zeitzeuge des Alltages von Srebrenica während des Krieges und erzählt, wie die Menschen dort überlebten, warteten und verzweifelten. Seine bedrückende Darstellung des Hungerregimes im Juli 1992 geht einem dabei ebenso unter die Haut wie Episoden über den Missbrauch bosnischer Frauen durch UN-Soldaten oder den selbstlosen Einsatz von Amateurfunkern.
Verdienstvoll ist auch, dass der Autor in seinen Ausführungen beispielsweise mit der Schilderung des Überfalls auf das serbische Dorf Kravica im Januar 1993 auch Kriegsverbrechen der muslimischen Seite nicht ausspart. "An Weihnachten aus ihren Häusern vertrieben, wie wir acht Monate früher am Bairam, ließen sie wie wir reich gedeckte und unberührte Tische zurück", umreißt Suljagic die Kriegsereignisse in wenigen Worten.
So dicht dem Autor die Beschreibung der Atmosphäre in Srebrenica gelingt, so schemenhaft bleiben dagegen viele Personen. Auch die Geschichte der eigenen Familie ist im Buch nur skizziert. Aber vielleicht zeugen diese Aussparungen gerade von der Größe seines Schmerzes. Fast beiläufig wird erwähnt, wie Suljagic seine eigenen Großeltern in eine Halle führt und nie mehr wiedersieht. Später heißt es dann kurz, im Sommer 2002 seien die sterblichen Überreste des Großvaters in einem der Massengräber bei Zvornik gefunden und nach Sarajevo überführt worden. Kein Wunder also, dass der Überlebende ein Gefangener seiner Erlebnisse bleibt. "Seither betrüge ich die neuen Männer und Frauen in meinem Leben. Ich betrüge sie mit den Toten", schreibt der Autor über die Schwierigkeit nach dem Krieg, wieder neue Freundschaften schließen zu können. Es sind gerade diese persönlichen Erfahrungen, die das Buch zu einer Lektüre machen, deren Eindruck noch lange nachwirkt.
Eine Schwäche des Buches ist leider, dass es wie eine Folge von Notizen verfasst ist, deren zeitliche Abfolge keiner erkennbaren Gliederung folgt. Die Zeitsprünge erschweren die Lektüre bisweilen. Wem die Fakten des Bosnien-Krieges nicht geläufig sind, wird im Buch eine Zeittafel ebenso vermissen wie einen Begleittext, der für den unkundigen Leser die historische Einordnung ermöglichen würde. Das Nachwort des Südosteuropa-Korrespondenten der "Frankfurter Allgemeinen Zeitung", Michael Martens, leistet dies leider auch nicht, sondern konzentriert sich auf eine moralische Bewertung der Ereignisse.
Srebrenica. Notizen aus der Hölle.
Paul Zsolnay Verlag, Wien 2009, 239 S., 17,90 ¤