Russland
Viktor Jerofejew gewährt liebevolle und ironische Einblicke in seine Heimat
Russland gibt immer wieder Rätsel auf. Wer der russischen Sprache nicht mächtig ist, dem fehlt der wichtigste Schlüssel zu den Geheimnissen dieser fremden Kultur. Umso schöner ist es, wenn ein russischer Schriftsteller wie Viktor Jerofejew auch den deutschen Leser ein wenig durchs Schlüsselloch blicken lässt und mit feiner Beobachtungsgabe, beißender Ironie und viel Liebe von seiner Heimat erzählt. Jerofejew gehört in Deutschland zu den meistgelesenen russischen Schriftstellern der Gegenwart. Nicht nur mit seinen Romanen, vor allem dem in 27 Sprachen übersetzten Werk "Die Moskauer Schönheit", sondern auch mit seinen in deutschen Zeitungen publizierten Essays und Artikeln wurde der 1947 geborene Moskauer Diplomatensohn berühmt. Nun hat der Berlin Verlag den schönen Essayband "Russische Apokalypse" herausgebracht, in dem sich der Schriftsteller dem modernen Russland widmet. Darin geht es um Patrioten, Hedonisten, ideale Gatten, Freunde, Prostituierte und Hausfrauen, aber auch um den Kampf um Demokratie und Freiheit.
Brillant ist gleich im ersten Kapitel der Text "Auf dem Schlachtfeld der russischen Flüche", in dem Jerofejew deftig und zugleich feinsinnig die vielseitige Welt der einzigartigen russischen Schimpfsprache "Mat" entwirft. Da liest sich vergnüglich, wie die zeitgenössische Literatur mit dem Wiederauftauchen der "Mat" nicht nur die Zensur, sondern auch die Schamhaftigkeit überwand. Der Autor erlebte das selbst, als sich 1990 eine Druckerei in Wladimir noch weigerte, seinen Roman "Die Moskauer Schönheit" zu drucken, und sich die Drucker erst nach langer Debatte überzeugen ließen. Zur Sensation gerieten auch die Neuauflagen der russischen Klassik nach der Perestrojka, bei denen die Leser verblüfft erlebten, dass auch Puschkin, Lermontow und Tschechow den von der rigiden Sowjetmoral verpönten "Mat" benutzten. Doch längst haben sich die Gegner des freien Wortes auch im neuen Russland wieder formiert.
Sehr eindringlich liest sich auch die Erzählung von der Zusammenarbeit und Freundschaft zum genialen, inzwischen verstorbenen, Komponisten Alfred Schnittke. Anfang der 1990er Jahre hatten die beiden Männer gemeinsam im Auftrag des Amsterdamer Opernhauses die Oper "Leben mit einem Idioten" geschaffen, die international gefeiert wurde. Jerofejew schildert mit großer Komik Anekdoten dieser Inszenierungsarbeit, beispielsweise wie die vom Künstler Ilja Kabakow aus Latex gefertigten Kostüme den Sängern die Luft zum Singen raubten. Gleichzeitig ist der Essay eine liebevolle, sehr menschliche Erinnerung an einen verlorenen Freund.
Glänzend geschrieben ist auch das Städteportrait einer Reise nach Norilsk, in das "Golgotha des Nordens". Schon auf dem Inlandsflug ist der Schriftsteller selbst überrascht, dass Norilsk wegen seiner Raketenbasen längst wieder wie zur Sowjetzeit zu den geschlossenen Städten zählt, die nur Russen ohne eine Sondergenehmigung besuchen dürfen. Umso interessanter lesen sich seine Schilderungen.
Im zweiten Kapitel des Bandes "Warum russische Schönheiten immer billiger werden" finden sich vor allem Texte über die russische Frau, in denen Jerofejew eine sehr chauvinistische Sicht enthüllt, die vielen Leserinnen eher missfallen dürfte. Doch wer bereit ist, sich auf diese in Russland verbreitete, sehr männliche Sicht auf das Zusammenleben der Geschlechter einzulassen, liest auch diese Passagen mit Gewinn, verraten sie doch viel vom Fühlen und Denken typischer Machos. Umso überraschender gelingt es dem Autor dann auch in die vermeintlich weibliche Perspektive zu schlüpfen. So schildert Jerofejew in der kurzen Erzählung "Frauenumkleide" sehr anschaulich, mit welch bösen Blicken Frauen auf andere Frauen blicken. Im dritten Kapitel fällt die Sammlung kürzerer Texte zu Freundschaft und Liebe dagegen in der Qualität erstaunlich ab, als habe sich der Autor nun literarisch verplaudert.
Russische Apokalypse.
Berlin Verlag; Berlin 2009, 255 S.; 22,70 ¤