Irak-krieg
Die Geschichte eines Foltergefängnisses
Vielleicht kennen Sie den folgenden Albtraum. Sie liegen in einer Wohnung, während nebenan unentwegt die Stereoanlage dröhnt: "If I die before I wake/Pray the Lord my soul to take." Sie wollen schlafen, doch der Krach hört nie auf. "Hush little baby, don't say a word/And never mind that noise you heard." Dieser Krach, er kommt von Ihrem Nachbarn. Stunde um Stunde spielt der immer wieder das gleiche gellende Lied: Enter Sandman - ein Klassiker der Hard-Rock-Band Metallica. Irgendwann, da drehen Sie durch. Sie beginnen zu schreien oder klopfen gegen die Zimmerwand. Und dann plötzlich: Totenstille! Der Protest hat gewirkt. Die Regeln des guten Zusammenlebens, sie sind wieder hergestellt.
Es gibt aber auch noch eine andere Version des oben beschriebenen Albtraums: Während Sie noch klopfen, dreht der Nachbar den Regler nur noch weiter auf. Während Sie protestieren, kommt er zu Ihnen hinüber, knebelt Ihren Mund und fesselt Ihre Hände. Dann entkleidet er Sie und springt auf Ihren wehrlosen Körper. Schließlich stößt er Sie gegen die Wand und zwingt Sie zu entwürdigenden Handlungen. Von dieser weit grausameren Version berichtet das neue Buch des amerikanischen Journalisten Philip Gourevitch und seines Landsmanns Errol Morris. Denn dieser Albtraum, er ist vor einigen Jahren Wirklichkeit geworden - nicht in einem deutschen Mehrfamilienhaus, sondern in einem Gefängnis westlich der irakischen Hauptstadt Bagdad. Monatelang sollen hier Angehörige des US-Militärs Menschen auf eben diese Weise gequält und gefoltert haben. Der Name dieses Gefängnisses, er ist zu einer Chiffre für Amerikas moralisches Scheitern im Irak geworden: Abu Ghraib.
Gourevitch und Morris haben versucht, detailgenau zu rekonstruieren, was sich in den Jahren 2003 und 2004 in Abu Ghraib ereignet hat. Denn bekannt sind heute vor allem die Bilder. Bilder, die für beide Autoren zu "Ikonen der amerikanischen Schande" geworden sind. Da posieren uniformierte Soldaten vor einem Berg aus nackten und kotverschmierten Menschenkörpern. Eine Frau hält einen Mann an einer Leine, als wäre er kein Mensch sondern ein entrechteter Hund. Auf einem Kasten steht eine verkabelte Silhouette, die Arme gespreizt wie zur Kreuzigung. Diese Bilder sind zu Bildern des "homo sacer" geworden - zu Urszenen des Martyriums.
In ihrer Geschichte von Abu Ghraib versuchen Gourevitch und Morris hinter diese weltweit bekannte Folter-Ikonografie zu dringen. Gestützt auf Tagebücher und Briefe von Beteiligten sowie flankiert von Interviews mit Soldaten und Militärexperten versuchen die Autoren eine naheliegende Frage zu beantworten. Wie konnten durchschnittliche amerikanische Bürger dazu gebracht werden, Verbrechen zu begehen, die ihnen daheim in ihrer Zwei-Zimmer-Wohnung wohl nicht im Traum eingefallen wären?
Die Antwort: In Abu Ghraib vollzog sich ein Prozess der Abstumpfung. Wer Gourevitchs und Morris' erschütternde Recherche aus dem Inneren der Barbarei liest, der kann en detail nachvollziehen, wie sich ein ethisches Phlegma langsam entwickelt. Standen am Anfang Überbelastung und Befehlsnotstand, so hat sich daraus bald der Ausnahmezustand der Humanität entwickelt. Die beiden Autoren unterstreichen damit, was die historische Täterforschung in den vergangenen Jahren bestätigt hat: Nicht Biografien oder Gelegenheiten machen aus Menschen Monster. Vielmehr ist es die schrittweise Verschiebung des Normalzustands.
Hierfür, so legt das wohltuend nüchtern gehaltene Buch nahe, waren nicht nur die im Gefängnis stationierten Militärangehörigen verantwortlich. Am Beginn des moralischen Verfallsprozesses stand der damalige US-Präsident George W. Bush. Im Januar 2002 nämlich verfügte der, dass im Krieg gegen den Terror die Genfer Konvention keinen Gesetzesrang mehr haben soll. Sogenannten "Sicherheitshäftlingen" und "ungesetzlichen Kombatanten" wurde durch diesen Erlass ihre Menschenwürde genommen. Laut Gourevitch und Morris hat der Präsident damit einen Stein ins Rollen gebracht. In der Folgezeit nämlich hätte sich unter Amerikas Soldaten eine Verunsicherung breit gemacht. Eine Verunsicherung, die in Abu Ghraib schwerwiegende Folgen hatte. So sollen in dem Gefängnis innerhalb nur eines Monats fünf verschiedene Richtlinien für die Durchführung von Gefangenenverhören in Umlauf gebracht worden sein. Eine habe dabei die Andere an Grausamkeit übertroffen. Welche gerade Geltungskraft hatte, war den Soldaten nicht bekannt. Doch es waren nicht nur die undurchsichtigen Normen und Regeln. Hinzu kam der Wahnsinn des täglichen Krieges. Granateneinschläge und die ständige Gefährdung des eigenen Lebens hätten einfache Soldaten an den Rand ihrer Kräfte gebracht.
Philip Gourevitch und Errol Morris, sie wollen mit ihrer beachtenswerten Publikation nichts relativieren. Im Gegenteil. Für sie steht fest, dass die Taten von Abu Ghraib das Ansinnen einer ganzen Nation bloßgestellt haben. Die Namen der Täter - Lyndie England, Charles Graner oder Sabrina Harman -, werden auf Ewig für die schauderhaftesten Verbrechen stehen, zu denen Menschen fähig sind. Doch ein Verbrechen erklärt sich eben nicht aus grobkörnigen Bildern. Bis dato war die Geschichte des Foltergefängnisses von Abu Ghraib nur ein abscheulicher Fotoroman. Dank Philip Gourevitch und Errol Morris ist sie nun zu einer komplexen und anschaulichen Erzählung geworden.
Die Geschichte von Abu Ghraib.
Carl Hanser Verlag, München 2009; 301 S., 19,90 ¤