Wiedervereinigung
Andreas Rödders Blick auf die Jahre 1989/90
Erich Honecker hatte es 1970 unmissverständlich von Leonid Breschnew zu hören bekommen: "Erich, ich sage dir offen, vergesse das nie: die DDR kann ohne uns, ohne die SU, ihre Macht und Stärke nicht existieren. Ohne uns gibt es keine DDR." Dass sich ohne den schützenden Beistand der Sowjetunion das DDR-Regime nicht würde halten können, bewahrheitete sich in den Umbruchmonaten1989/90. Michail Gorbatschow hatte sich von der "Breschnew-Doktrin" verabschiedet, wonach die Aufrechterhaltung der kommunistischen Herrschaft in den sozialistischen "Bruderstaaten" mit allen Mitteln geboten sei - notfalls mit militärischer Intervention wie 1968 in der Tschechoslowakei. Statt dessen galt nunmehr, dass "jedes Volk selbst das Schicksal seines Landes bestimmt" - so das Kommuniqué der Warschauer-Pakt-Staaten vom 8. Juli 1989.
Der "reformkommunistische Idealist" Gorbatschow, meint der Mainzer Historiker Andreas Rödder, wurde mit seiner "Sinatra-Doktrin" des "My Way" (Gennadi Gerassimow) zum "Zauberlehrling", der revolutionäre Entwicklungen in den Ländern des Ostblocks lostrat und nicht mehr kontrollieren konnte. Der Erfinder von "Glasnost" und "Perestrojka" und erklärte Verfechter einer Politik des Gewaltverzichts ermöglichte es den oppositionellen Kräften im Ostblock, die kommunistischen Staaten zu Fall zu bringen - obwohl er sie eigentlich nur reformieren wollte.
Gorbatschows "Entzug der sowjetischen Bestandsgarantie für die DDR" bezeichnet Rödder neben der Bürgerbewegung und der Ausreisebewegung als die wichtigste Ursache, die den Zusammenbruch der SED-Herrschaft im Herbst 1989 in Gang setzte. Denn auch noch so viel Unmut und Proteste der DDR-Bevölkerung über ihr Eingesperrtsein in einem ideologisch gleichgeschalteten Einheitsstaat, über Versorgungsprobleme und mangelnde Reisefreiheit hätten dem Regime nichts anhaben können, wenn der "große Bruder" weiterhin seine starke militärische Hand schützend darüber gehalten hätte.
Zwanzig Jahre nach den revolutionären Umwälzungen hat Andreas Rödder mit "Deutschland einig Vaterland" eine Arbeit vorgelegt, die, wie der Autor schreibt, als "erste wissenschaftliche Gesamtdarstellung der Wiedervereinigung von 1989/90" den Anspruch verfolgt, einen thematischen Bogen von der Bürgerbewegung in der DDR bis zu den internationalen Rahmenbedingungen und der inneren Ausgestaltung der deutschen Einheit zu spannen. Rödder hat diesen Anspruch als sorgfältiger und umfassender Chronist der Ereignisse und auch als historischer Analytiker beeindruckend in die Tat umgesetzt. Er hat vielerlei in- und ausländische Akten und sonstige Dokumente studiert, wobei ihm allerdings gewisse regierungsamtliche Quellen wegen langjähriger Sperrfristen noch nicht zugänglich waren. Zudem hat er Tagebuchaufzeichnungen, Interviews und Medienberichte herangezogen, die in sein Buch Leben, Atmosphäre und Spannung bringen und es über die Wissenschaft hinaus für ein allgemeineres Publikum lesenswert machen.
Im Rückblick erscheint es fast unglaublich, mit welchem Tempo sich innerhalb eines Jahres die Auflösung der DDR und die deutsche Einheit vollzogen haben. Im Herbst 1989 "geriet der ‚Weltprozess' plötzlich in furchtbare Schnelligkeit; Entwicklungen, die sonst Jahrhunderte brauchen, scheinen in Monaten und Wochen wie flüchtige Phänomene vorüberzugehen und damit erledigt zu sein". Rödder wendet die über 100 Jahre alten Worte des Altmeisters der Geschichtswissenschaft, Jacob Burckhardt, auf die Situation von 1989/90 an um anzudeuten, dass sich mit dem plötzlichen Zusammenbruch des sowjetischen Imperiums Welthistorisches ereignet hat mit entsprechenden Auswirkungen für Deutschland und Europa.
Die dramatischsten Kapitel des Buchs führen uns die Tage, Wochen und Monate vor dem Fall der Berliner Mauer am 9. November 1989 vor Augen, die Hilflosigkeit der DDR-Staatsführung, dann die "nationale Wende" und die entschlossene Initiative Helmut Kohls mit seinem Zehn-Punkte-Programm zur Wiedervereinigung Deutschlands. Der vor Fernsehkameras wohlinszenierte Auftritt des Kanzlers am 19. Dezember 1989 vor der Dresdner Frauenkirche machte Kohl für die Ostdeutschen zum "Heilsbringer", meint Rödder. Zehn Monate später, mit dem Beitritt der DDR zum Geltungsbereich des Gundgesetzes am 3. Oktober 1990, dem Tag der deutschen Einheit, hatte sich dann Kohl seinen Platz in den Geschichtsbüchern als "Kanzler der Einheit" endgültig gesichert.
Man muss aber auch sehen, dass der Prozess der Wiedervereinigung nie so problemlos und ungefährdet war, wie man vielleicht bei oberflächlicher Kenntnis meinen könnte. Das kommt bei Rödder immer wieder zur Sprache. Das SED-Regime hatte zum Beispiel durchaus erwogen, die Demonstrationen in Leipzig gewaltsam niederzuwerfen und dafür auch schon Tausende bewaffneter Kräfte bereitgestellt. Und Gorbatschows Politik des Nichteingreifens war stets gefährdet, sie fand in Moskau kaum Rückhalt.
Deutschlands europäischen Nachbarn, Polen, England und Frankreich im besonderen, waren aus historischer Erfahrung keineswegs an einem noch größeren und stärkeren Deutschland interessiert. Anders jedoch die westliche Führungsmacht unter George Bush: Die USA wollten die Schwäche der auseinanderfallenden Sowjetunion nutzen, um den Kalten Krieg mit einem "Europe whole and free" siegreich zu beenden. Bush wollte ein wiedervereinigtes Deutschland als Mitglied der Nato, dem Gorbatschow nach anfänglichem Widerstand zustimmte.
Bei der Frage, wieso Gorbatschow zu so weit gehenden Zugeständnissen bereit war, muss die marode wirtschaftliche Situation der Sowjetunion gesehen werden. Gorbatschow brauchte zur Fortführung seiner Reformpolitik unbedingt finanzielle Unterstützung. Er bekam sie von Deutschland, und Deutschland bekam von ihm die Wiedervereinigung. War es also eine "gekaufte Einheit"?, fragt Rödder und antwortet "Nein". Das gesamte Volumen der "deutschen Unterstützungsmaßnahmen für den Reformprozeß in der UdSSR" betrug nicht mehr als rund 57 Milliarden D-Mark. Sicherlich hätte ein "Kaufpreis" für die deutsche Einheit, wenn die Sowjetunion das gewollt hatte, sehr viel höher sein können.
Interessant ist es, bei Andreas Rödder zu lesen, wie ablehnend renommierte westdeutsche Publizisten und Intellektuelle 1989/90 auf den Wiedervereinigungsprozess reagierten. Theo Sommer, Chefredakteur der "Zeit", meinte zum Beispiel: "Wer heute das Gerippe der deutschen Einheit aus dem Schrank holt, kann alle anderen nur in Angst und Schrecken versetzen." Auch Jürgen Habermas war skeptisch. Der Philosoph machte als Wurzel des Einigungsprozesses einen "pausbackigen DM-Nationalismus" aus, gestützt auf die "vorpolitischen Krücken von Nationalität und Schicksalsgemeinschaft".
Deutschland einig Vaterland. Die Geschichte der Wiedervereinigung.
Verlag C.H. Beck, München 2009; 490 S., 24,90 ¤