Die Mauer
20 Jahre nach ihrem Fall wird das menschenverachtende Bauwerk noch einmal rundum besichtigt
Zwei Bücher, ein Titel: "Die Mauer". Zwei Autoren, eine Ansicht? Jein! Weitgehend einig sind sich Edgar Wolfrum und Frederick Taylor, dass Walter Ulbricht und nicht Nikita Chruschtschow eine Mauer hochziehen wollte. Und dass die Westalliierten sie aus Furcht vor einem Atomkrieg nicht einzureißen bereit waren, liegt für sie ebenso auf der Hand wie die Ursachen, die im November 1989 zu ihrer Öffnung geführt haben. Fachlich gesehen liefern die beiden Mauer-Monografien also kaum neue Erkenntnisse. Dafür haben der deutsche und der britische Historiker ganz unterschiedliche Ansichten, wie die bekannten Fakten und Argumente für den Leser vermittelt werden sollen. Zeichnet Taylor ein detailverliebtes Bild von den Entscheidungsprozessen und Akteuren, ist Edgar Wolfrum stärker an klaren Konturen und Thesen interessiert. Wo Taylor auf eine szenische Erzählweise und markige Worte setzt, ist Wolfrum ein Freund der prägnanten Analyse und eleganter Formulierungen. Lesenswert sind beide Bücher.
Taylor hat für ein Publikum geschrieben, das weder mit der Geschichte Deutschlands noch mit der Geschichte der Mauer vertraut ist. Dementsprechend weit holt der Brite aus. Er lässt Berlins Vergangenheit von der mittelalterlichen Stadtgründung bis zur Besatzungszeit genauso ausführlich Revue passieren wie die unmittelbare Vorgeschichte des Mauerbaus. Auf die von Ulbricht bei den Warschauer Pakt-Staaten durchgepeitschte und von Erich Honecker organisierte "Aktion Rose", die Vorbereitung und den Verlauf der Nacht-und-Nebel-Aktion des Mauerbaus, kommt er erst nach knapp 200 Seiten zu sprechen. Die nächsten 200 Seiten verweilt er dann bei den unmittelbaren Ereignissen rund um den 13. August, den lautstarken Reaktionen der Westberliner und dem stillen Protest der Ostberliner.
Den ernsten Verstimmungen zwischen dem erzürnten Berliner Oberbürgermeister Willy Brandt und dem nüchternen agierenden US-Präsidenten John F. Kennedy schenkt Taylor indes besondere Aufmerksamkeit und lotet den Handlungsspielraum der beiden präzise aus. Er zeigt Verständnis für die Interessen- und Zwangslagen beider Seiten und macht verständlich, weshalb dem militärischen Protest ein diplomatischer allemal vorzuziehen war. Auf einen atomaren Schlagabtausch wollten es weder die USA noch die Sowjetunion ankommen lassen und hielten ihre Verbündeten an der kurzen Leine. Weder Brandt noch Ulbricht vermochten sich mit ihren radikalen Forderungen nach mehr Konfrontation durchzusetzen. Wieso der Westen keine ökonomischen Sanktionen ergriffen hat, um die Sowjetunion und ihre Satellitenstaaten unter Druck zu setzen, wird nicht weiter untersucht. Schließlich pflegte die DDR intensive Handelsbeziehungen zum Westen und lebte zu einem Gutteil vom Import-Export-Geschäft mit dem kapitalistischen Ausland.
Sicher wollte man die ohnehin schon angespannte Lage so rasch wie möglich entspannen und der ostdeutschen Bevölkerung weitere Zumutungen ersparen. In erstaunlich kurzer Zeit fanden sich die Regierungen dann auch mit dem Status quo ab - auch wenn es immer wieder zu Drohgebärden kam, wie etwa am Checkpoint Charlie, als wegen eines diplomatischen Zwischenfalls amerikanische und sowjetische Panzer aufeinander zielten. Im Grunde waren die "Schutzmächte" nach der Berlin-Blockade 1948/49, der Berlin-Krise 1958/59 und den anhaltenden Massenfluchten froh, dass sich der zentrale Krisenherd im Ost-West-Konflikt mit dem Mauerbau abgekühlt hatte.
Dass sich die Eingesperrten damit nicht abfinden konnten, zeigten vor allem die Fluchten und gescheiterten Fluchtversuche an der Mauer deutlich. Über sie ist in TV-Dokumentationen, Büchern und Zeitungsartikeln zwar schon alles gesagt worden. Dennoch führen die von Taylor ausführlich und mitfühlend erzählten Fluchtgeschichten noch einmal vor Augen, wie menschenverachtend das Grenzregime war und wie groß die Unzufriedenheit der "Republikflüchtlinge" gewesen sein muss, um sich den tödlichen Gefahren auszusetzen.
Gleichwohl mussten Ost- und Westberliner ebenso wie ihre Regierungen lernen, mit der Mauer zu leben. Um "aus dem Dampfdrucktopf (...) Dampf entweichen" zu lassen, lockerte die SED kurzfristig die Zügel und versorgte die unzufriedene Bevölkerung mit Konsumgütern, während die Staatsmänner in Bonn die Westberliner mit Subventionen auf ihrer "Insel" hielten. Nur bedingt gelingt es Taylor jedoch, das Lebensgefühl in der geteilten Stadt einzufangen. Zu sehr betont er das Plakative, das Klischee. "Den surrealistischen Käfig" Berlin bevölkerten im Westteil nicht nur radikale 68er und "alternative Zuwanderer", die eine "quirlige Party- und Kulturszene" etablierten. Sondern vor allem Otto Normalverbraucher, die im Schatten der Mauer Tischtennis spielten, weil hier der Ostwind nicht so heftig blies. Auch die Punkkultur im Osten war nur ein Randphänomen, das im Straßenbild der Hauptstadt der DDR zwar auffiel, aber es keineswegs prägte. Aufschlussreicher wären Lebensberichte gewesen, die vom Alltag, aber auch von der schleichenden Entfremdung zwischen den Bürgern beider Staaten zeugen. Hiervon ist bei Taylor leider nichts zu lesen.
Am Ende beschäftigt er sich mit dem langsam aufkeimenden Widerstand in der Bevölkerung und dem schrittweisen Zerfall der Staatsmacht. Er erläutert alle wichtigen Ereignisse und Entscheidungen, die am 9. November 1989 zur Grenzöffnung führten, und teilt die Freude der Menschen über die Wiedervereinigung. Die Nachwehen der Teilung, die vielzitierte, aber nicht immer zu verleugnende "Mauer in den Köpfen" streift er nur kurz. Wie einst Willy Brandt gibt sich auch der Brite optimistisch, es werde zusammenwachsen, was zusammengehört. Dass sich bis vor zwei Jahren noch jeder fünfte Deutsche die Mauer zurückwünschte, zeigt jedoch, wie lang der Weg zur inneren Einheit noch ist.
Die Gedenkfeiern zum 20. Jahrestag des Mauerfalls und zum 60. Jahrestag der Bundesrepublik werden an diesem Befund nichts ändern. Bücher über die deutsche Teilung können indes daran erinnern, dass zugemauerte Grenzen Probleme niemals lösen, sondern nur verschärfen. Das beweist nicht nur Taylor mit seiner Darstellung, sondern vor allem der schmale Band von Edgar Wolfrum. Der Heidelberger Historiker beantwortet nicht nur überzeugend die Frage, wie es zum Bau und Abriss der Mauer gekommen ist. Er geht auch der Frage nach, was "die Einmauerung, das Eingesperrtsein für die Deutschen in der DDR" bedeutete und welche "erinnerungskulturellen Spuren" die Teilung in Deutschland bis heute hinterlassen hat. Im Gegensatz zu Taylor ist Wolfrums Blick deutlich facettenreicher und dabei immer auf die Menschen vor und hinter der Mauer gerichtet.
Mit der Mauer zu leben, hieß für die meisten Ostdeutschen vor allem, sich mit dem Staat zu arrangieren. "Mitmachen so weit wie nötig, Rückzug ins Private so weit wie möglich", fasst Wolfrum es kurz und bündig zusammen. Ein Zustand, der letztlich zur Folge hatte, dass das System der DDR immer mehr erstarrte. Und nur so lange lebensfähig blieb, wie es die Bedürfnisse seiner Bürger zu befriedigen und die eigene Macht abzusichern vermochte. Dieses Prinzip von Zuckerbrot und Peitsche erklärt, wieso sich erst Ende der 1980er Jahre und dann auch nur allmählich Widerstand regte und wieso es der DDR-Führung nicht gelang, ihr System zu reformieren. Die Mentalität, der Staat kümmere sich um alles und jeden, erklärt auch, weshalb der Freude über den Mauerfall sogleich Ernüchterung und Anpassungsprobleme folgten. Und zwar auf beiden Seiten. Denn die Mauer teilte Deutschland nicht nur geografisch und politisch, sondern auch mental. Das ist vielleicht das bitterste und nachhaltigste Erbe des Mauerbaus.
Bei Wolfrum kann man nachlesen, wie es dazu kam und weshalb es im vereinten Deutschland immer noch "geteilte Ansichten" zur Geschichte seiner Teilung gibt. Der Versuch einer gesamtdeutschen Betrachtung ist die große Stärke seines Buchs. Der umsichtige Historiker nimmt denn auch die Propagandalüge vom "antifaschistischen Schutzwall" im Osten ebenso ins Visier wie die Mauer-Kunst im Westen. Die provokanten Graffitis waren nicht allein Zeichen des Protests. Vor der kreativ-bunten Mauer verschwamm bisweilen auch "ihre menschenverachtende Funktion als Bollwerk". Der Westen gewöhnte sich an die Mauer, sie wurde eine hässliche Mischung "aus Tragödie und Touristenattraktion".
Heute, da sie im Stadtbild nicht mehr erkennbar ist, ihre Reste etwa in den vatikanischen Gärten zu besichtigen oder als Splitt unter ostdeutschen Landstraßen verschwunden sind, droht auch die Erinnerung an sie zu verblassen. Ein gutes Mittel gegen das Vergessen und für das Zusammenwachsen der Deutschen bietet die Lektüre dieser beiden Bücher.
Die Mauer. 13. August 1961 bis 9. November 1989.
Siedler Verlag, München 2009; 576 S., 29,95 ¤
Die Mauer. Geschichte einer Teilung.
Verlag C.H. Beck, München 2009; 192 S., 16,90 ¤