Belletristik
Erich Loest hat seiner Heimatstadt Leipzig ein weiteres literarisches Denkmal gesetzt
Pünktlich zu seinem 83. Geburtstag am 24. Februar erschien Erich Loests Roman mit dem doppelsinnigen Titel "Löwenstadt". Durch einen überraschenden Erzählkniff werden darin 200 Jahre von der Niederlage Napoleons in der Völkerschlacht bei Leipzig bis zum Jahr 2009 lebendig. Loest wäre nicht Loest, fände sich da nicht auch manche "Geschichte, die noch qualmt". Nach "Nikolaikirche" (1995), seiner Hommage an die friedliche Revolution und seinem Roman "Reichsgericht"(2001) über diesen Leipziger Justizbau im 20. Jahrhundert, führt er nun mit "Löwenstadt" seinen großen Geschichtsroman "Völkerschlachtdenkmal" (1984) fort. Damit setzt er seiner alten Liebe Leipzig einmal mehr ein literarisches Denkmal. Allerdings - eine rein schwärmerische Liebe sähe wohl anders aus.
Wie schon in "Völkerschlachtdenkmal" ist Fredi Linden die Hauptfigur. Wegen seinem Plan, den Leipziger Denkmalsklotz zu sprengen, landet er in der Psychiatrie. In einem so langen wie kurzweiligen Monolog berichtet Linden dem Professor in verhörähnlichen Sitzungen aus seinem bewegten Leben und schlüpft in das seiner Ahnen. Charakteristisch für sie alle ist, dass sie meist auf der falschen Seite der Geschichte standen: "Der friedfertigste Sachse ist immer ein geschlagener Sachse." Und wie schon in "Völkerschlachtdenkmal" glaubt man ihm gern, er sei tatsächlich dabei gewesen: als Bauernbursche Carl Friedrich im sächsischen Linienregiment auf Napoleons Verliererseite; als Gutsherr Fürchtegott von Lindenau, dem es zur Obsession wird, aus den Gebeinen der Gefallenen eine Schädelstätte zu errichten, die noch keiner will; als Vojciech Machulski aus Oberschlesien, der 100 Jahre später am monströsen Völkerschlachtdenkmal mitbaut. Bei dessen Einweihung versucht der anarchistisch angehauchte Sozialdemokrat in einer großartigen Slapstick-Szene, Löwen, das Wappentier der Stadt, ins Denkmal zu schleusen. Die anwesenden Monarchen sollen im Jahr 1913 schwören: "Nie wieder Krieg."
Loest lässt Fredi von historischen Irrtümern erzählen, auch von denen seines Vaters, des SA-Manns Felix Linden, der nach einem Fliegerbombenangriff die Leipziger Universitätskirche rettete und dabei sein Leben verlor. In der DDR wird Fredi zum Sprengmeister. Als er 1968 die von der Partei angeordnete Sprengung der Leipziger Universitätskirche sabotiert und erst nach mehreren Wochen aus der "staatssichernden Institution" freigelassen und als Denkmalspförtner eingestellt wird, ist er von der fixen Idee besessen, das Völkerschlachtdenkmal aus Protest gegen die "sozialistischen Verderber" in die Luft zu sprengen.
Kurz vor dem Zusammenbruch der DDR wird der gealterte Fredi aus der Psychatrie in ein Altenheim entlassen und wird zum Zaungast der Revolution. Fortan bietet er den Mitbewohnern dank der Berichte seines Sohnes Joachim, einem Parteifunktionär, exklusive Einblicke in die inneren Zirkel der Macht. Er erzählt auch über das Schweigen der Berliner Zentrale angesichts der 70.000 Menschen auf dem Leipziger Ring am 9. Oktober 1989 und über die weitreichende Entscheidung des Polizeichefs Generalmajor Straßenburg: Rückzug und Eigensicherung. Das ist ein Stück Geschichte, das selbst in Geschichtsbüchern bislang so nicht vorkommt.
Die Mauer fällt und "alles sortiert sich neu". Im Roman wie im richtigen Leben hat die Partei, personifiziert im ehemaligen Bezirksleitungsfunktionär Ratzel, schnell begriffen, "Positionen des Staates mussten geopfert werden, um die Partei zu retten". Die Staatssicherheit wird öffentlich demontiert, eigene "Kaderrettung ist angesagt". Die künftige Strategie besprechen Ratzel und Joachim im "Fürstenhof": Untertauchen, unterwandern, überwintern, bis die Zeit reif ist - vielleicht in 20 Jahren, mit Hilfe einer unbelasteten Generation.
Von nun an arbeitet die Zeit für sie. Der Uni-Rektor lässt das 33 Tonnen schwere, bronzene Marx-Relief, Streitobjekt in der Stadt seit 1990 und Prestigeobjekt der Linken, neu vor der Mensa der Sporthochschule aufstellen. Auch Werner Tübkes sozialistisches Kolossalgemälde "Arbeiterklasse und Intelligenz" lässt er im Universitätsneubau aussagekräftig platzieren. Darauf findet man auch den früheren SED-Bezirkschef Paul Fröhlich konterfeit, jenen Funktionär, der die bürgerlich-humanistische Universität zerschlagen ließ und sich 1968 als Sprengmeister der Universitätskirche einen Namen machte. Das ist nicht mehr nur erzählerische Fiktion.
In der Gegenwart angekommen, beim illustren Mahl im Edelrestaurant "Falco" hoch über den Dächern der Stadt, schauen Ratzel, Joachim und der ehemalige Stasi-Zuträger Kaltow, jetzt Spitzenkandidat der "Linken", auf das Lichtermeer unten und resümieren: "Gar so blöd waren wir damals nicht. Der Kapitalismus hat das doch ganz gut hingekriegt." Nun gelte es, "im Großwahljahr alle Kraft zu mobilisieren".
In "Löwenstadt" spürt man hautnah, welche politisch restaurative Spannung sich im Osten aufbaut. Erich Loests überaus frisch und mit funkelnder Ironie erzählter Roman tut gut in einer Zeit, in der unser gesellschaftliches Gedächtnis einmal mehr auffällig schwächelt.
Löwenstadt. Roman.
Steidl Verlag, Göttingen 2009; 336 S., 20 ¤