Überfall auf Polen
Richard Overy über die letzten zehn Tage vor Kriegsausbruch
Musste der Zweite Weltkrieg zwangsläufig ausbrechen? Im Prinzip Nein, meint der britische Historiker Richard Overy. Anhand einer Analyse der "inneren Geschichten" der "großen Ereignisse" versucht er zu belegen, dass "nichts in der Geschichte unausweichlich" ist. Auch wenn nach dem Ende des Ersten Weltkriegs und der Weltwirtschaftskrise die systemischen Schwächen der kapitalistischen Ordnung offensichtlich waren und ungelöste Fragen der politischen Geografie eine militärische Lösung wahrscheinlich machten - das Schicksal von Millionen Menschen war damit noch nicht besiegelt. Overy versichert: Ungeachtet der in Europa herrschenden Untergangsstimmung und der Kriege im Fernen Osten hätte die Weltgeschichte anders verlaufen können. Denn noch Ende August 1939 sei "vieles im Lot" gewesen.
Overy, der Geschichtswissenschaft an der Universität Exeter lehrt, ist ein international anerkannter Experte für den Zweiten Weltkrieg und den Nationalsozialismus. Handelte es sich bei seinen bisherigen Büchern um gute handwerkliche Arbeiten eines professionellen Historikers, so ist ihm mit dem vorliegenden, 125 Seiten umfasenden Taschenbuch ein wahres Kunststück gelungen. Overy nahm Hitlers Polen-Politik unter die Lupe und setzte sie in Beziehung zu den Ereignissen in den europäischen Hauptstädten. Zwischen dem 24. August und dem 3. September 1939 - die Zeitgenossen wussten nicht, dass es die letzten Tage vor Kriegsbeginn waren - fand ein Nervenkrieg zwischen Hitler und dem britischen Premierminister Neville Chamberlain statt. Am Ende standen Großbritannien und Frankreich zu ihrem Versprechen und erklärten Hitler-Deutschland wegen des Überfalls auf Polen den Krieg.
Der Autor beschreibt zwei Szenarien, die einen Kriegsausbruch im September 1939 hätten verhindern können: Hitler hätte eine internationale Lösung der Danzig-Frage akzeptiert. Oder die polnische Regierung hätte den Krieg gegen Deutschland als unsinnige Option verworfen und einer Revision des Status von Danzig und seiner Westgrenze zu Deutschland zugestimmt.
Chamberlain, der wegen des Münchener Abkommens und seiner Appeasement-Politik gegenüber Hitler in die Kritik geraten war, konnte Frankreich schließlich davon überzeugen, in der Danzig-Frage nicht nachzugeben: Die internationale Ordnung stehe auf dem Spiel. Die Entschlossenheit Großbritanniens unterschätzten die deutschen Diplomaten, die durchaus einen kleinen Krieg gegen Polen führen, sich aber nicht mit ganz Europa anlegen wollten.
Um nicht in einen Zwei-Fronten-Krieg zu geraten, unterzeichnete Hitler-Deutschland am 24. August 1939 einen Nichtangriffspakt mit der Sowjetunion. In einem geheimen Zusatzprotokoll vereinbarten beide Staaten zudem die Aufteilung des Baltikums und Polens. Mit diesem Trumpf in Händen glaubte Hitler, Großbritannien und Frankreich in die Knie zwingen zu können. Mehr noch: "Der Führer" war zutiefst davon überzeugt, dass die Tage der Regierungen in London und Paris gezählt seien. "Unsere Gegner sind kleine Würmchen. Ich sah sie in München", versicherte Hitler seinen Oberbefehlshabern am 22. August auf dem Obersalzberg. Als Chamberlain am 3. September in einer Radioansprache Deutschland den Krieg erklärte, bedeutete das einen harten Schlag für den deutschen Regierungschef. Schließlich suchte er keinen Krieg mit Großbritannien. "Wie versteinert saß Hitler da und blickte vor sich hin. Er war nicht fassungslos, tobte auch nicht, saß völlig still und reglos an seinen Platz", erinnerte sich sein Dolmetscher.
Overys Arbeit zielt weder auf eine Revision der bekannten historischen Ereignisse noch verbreitet er Verschwörungstheorien. Stattdessen versetzt er den Leser in die unmittelbare Zeit vor Ausbruch des Weltkriegs und lässt ihn an den Entscheidungen der politischen Akteure teilhaben. Ein großartiges Buch.
Die letzten zehn Tage. Europa am Vorabend des Zweiten Weltkriegs.
Pantheon Verlag, München 2009; 159 S., 12,95 ¤