Polen und Deutsche
Zwölf Reportagen aus unterschiedlichen Lebensrealitäten
Aus zwölf Reportagen entstand der Band "Die Nacht von Wildenhagen", für den Wlodzimierz Nowak 2008 den wichtigsten polnischen Literaturpreis "Nike" erhielt. Die Schicksale von Deutschen und Polen in den letzten Kriegsmonaten 1944/45, während des Kriegsendes und der Nachkriegszeit sind ein zentrales Thema für Nowak. Für seine Berichte hat Nowak genau recherchiert, um Zeugen zu finden, die über ihre eigenen Erlebnisse und Erfahrungen berichten. Das vermittelt einen hohen Grad an Authentizität und erhebt die einzelnen Beiträge zu historischen Dokumenten. Einige Beispiele: Ein ehemaliger deutscher Soldat schildert die Kämpfe im Warschauer Aufstand 1944, als sich die deutsche Soldateska als mörderische Bestie demaskierte. Oder der Bericht über einen jungen deutschen Landser, der 1944 zu polnischen Partisanen überlief und nach Ende der Kampfhandlungen in die Mühlen der Roten Armee geriet, die ihn nach Sibirien deportierte. Seine Odyssee endete nach vielen Irrfahrten in den 1950er Jahren im Westteil Berlins. Hier fand und traf ihn Nowak.
Den Titel des Buches trägt der gleichnamige Beitrag "Die lange Nacht von Wildenhagen". Wildenhagen ist ein kleines Dorf unweit der Grenze bei Slubice an der Oder; heute heißt es Lubin. Der Ort erlangte in den letzten Kriegswochen traurige Berühmtheit durch die zahlreichen Selbstmorde von Frauen, die meist ihre Kinder mit in den Tod nahmen. Es waren überwiegend Bäuerinnen aus dem Dorf. Diese Selbsttötungen aus Furcht vor Vergewaltigungen geschahen in vielen Teilen des von der Roten Armee zwischen Ende 1944 und Anfang 1945 überrannten ehemaligen Osten Deutschlands. Dieses düstere Kapitel ist von der Forschung bis heute nicht aufgearbeitet worden. Verifizierte Daten existieren nicht, nur Schätzungen von Selbstmorden und Vergewaltigungen, die in die Hunderttausende gehen. Nowak konsultierte polnische und deutsche Hochschullehrer, die begonnen haben, sich mit der Gesamtproblematik auseinanderzusetzen, er erwähnt auch als wichtige Quelle die große Dokumentation der Vertreibung, die in den 1960er Jahren in der Bundesrepublik aus Zehntausenden von Befragungen von Vertriebenen entstand. Ein Resümee lautet, dass die Frauen "unter Beschuss zweier Propagandasysteme standen": von der einen Seite durch die Berichte von Joseph Goebbels über die Grausamkeiten der Rotarmisten, von der anderen Seite durch die sowjetische Propaganda der Rache.
Ein weiterer Schwerpunkt des Bandes sind aktuelle Berichte über Menschenschmuggel in der Region Guben, über die Anfänge von Slubice als Grenzstadt, heute ein pulsierender Ort mit wachsenden kommunalen Verbindungen zu Frankfurt oder über die Befürchtungen der Opel-Arbeiter in Bochum und in Gleiwitz, dass ihre Arbeitsplätze weiter in die Ukraine verlagert werden. In allen zwölf Beiträgen stellt Nowak Polen und Deutsche in unterschiedlichen Lebensrealitäten vor, die durch Krieg und Nachkriegszeit sowie die Westverschiebung der deutsch-polnischen Grenze geschaffen wurden. Der Grundtenor ist überwiegend pessimistisch und erzeugt Betroffenheit. Die beschriebenen Schicksale sind Teil der gemeinsamen deutsch-polnischen Geschichte, die nicht verdrängt werden darf. Der Leser muss sich auf schwere Kost einstellen.
Es gibt aber auch erfreuliche und zukunftsweisende Beispiele aus den letzten Jahrzehnten: Vielleicht hätte eine Reportage berichten sollen, wie Vertriebene im Zeichen offener Grenzen in ihre ehemalige Heimat zurückkehren und mit den heutigen Bewohnern, vielfach auch Vertriebene aus dem früheren Ostpolen, Kontakte herstellen, Freundschaften schließen und gemeinsame Projekte für die Infrastruktur planen und durchführen. Zahlreiche Beispiele vom früheren Ostpreußen bis Schlesien können benannt werden; leider nimmt die deutsche Öffentlichkeit diese Brückenarbeit kaum zur Kenntnis.
Die Nacht von Wildenhagen. Zwölf deutsch-polnische Schicksale.
Eichborn-Verlag, Frankfurt/M. 2009; 301 S., 19,95 ¤