EDMUND STOIBER
Der ehemalige
bayerische Ministerpräsident und Vorsitzende der Föderalismuskommission I lobt die Schuldenbremse und fordert eine weitere Stärkung der Länderrechte
Föderalismus in Deutschland.
Herr Stoiber, Sie waren zusammen mit Franz Müntefering Vorsitzender der Föderalismuskommission (Föko) I und wollten die Verkrampfungen in der deutschen Politik lösen, indem Sie die Quote zustimmungspflichtiger Gesetze verringerten. Sehen Sie heute Erfolge Ihrer Arbeit?
Die Föderalismusreform I war die umfassendste Reform seit Verabschiedung des Grundgesetzes. Sie ist Beleg der Reformfähigkeit des deutschen Bundesstaates. Vor der Reform waren 60 Prozent aller Gesetze im Bundesrat zustimmungspflichtig. Heute sind es 39 Prozent. Das ist ein großer Erfolg.
Andererseits sollten die Länder wieder mehr Staatlichkeit bekommen. Ist das geschehen?
Ja, man sieht das in vielen Politikbereichen ganz deutlich. Ganz aktuell etwa am Nichtraucherschutz, für den die Länder durch die Föderalismusreform jetzt zuständig sind. Oder: Die Länder können jetzt selbst in Beamtengesetzen festlegen, dass die Leistung für die Besoldung eine größere Rolle spielt statt wie früher allein das Alter. Lehrer können besser besoldet werden, ohne dass sie gleich eine neue Position erhalten müssen. Besonders wichtig war das Verbot der Einmischung des Bundes in Bereichen, in denen er auch finanziell keine Gesetzgebungszuständigkeit hat. Diese goldenen Zügel sind abgeschafft worden. Die Länder haben heute die absolute Zuständigkeit für den Bildungsbereich, für die wir lange gekämpft haben. Ich bin aber etwas enttäuscht über einen starken unitaristischen Zug auch in manchen Ländern, die gar nicht auf eigenständige Akzente und Lösungen setzen.
Was Sie jetzt loben, bezeichnet der ehemalige SPD-Wirtschaftsminister Wolfgang Clement als Reföderalisierung, da Eltern mit Kindern angesichts unterschiedlicher Schulsysteme nicht mehr in andere Länder umziehen könnten.
In der Tat gibt es unterschiedliche Schulsysteme. Das ist der Föderalismus. Wir sind kein Einheitsstaat wie Frankreich, sondern ein von den Ländern gebildeter Bundesstaat. Die Länder haben Eigenstaatlichkeit und Kulturhoheit. Unterschiedliche Bildungsangebote bedeuten auch Wettbewerb um den besten Weg. Und es gibt eine zunehmende Mobilität in Europa. Niemand käme deshalb auf den Gedanken, ein europaweit geltendes Schulsystem einzuführen. Im Gegenteil: Die Proteste der Studenten im Bologna-Prozess zeigen gerade, dass Vereinheitlichung nicht immer der Königsweg ist.
Aber die Bundesbildungsministerin fordert ein Zentralabitur, und die Kanzlerin ruft die "Bildungsrepublik Deutschland" aus. Die sind dafür gar nicht zuständig, oder steckt dahinter die Absicht, Kompetenzen auf den Bund zu verlagern?
Deutschland muss eine Bildungsrepublik sein. Die Wirtschaftskraft, die Leistungsfähigkeit und der Lebensstandard Deutschlands hängen ganz entscheidend von der Ausbildung der jungen Menschen ab. Diese Aufgabe ist aber eindeutig den Ländern mit Verfassungsmehrheit übertragen worden. Wenn CDU, CSU und FDP im Koalitionsvertrag das Wort Bildung an prominente Stelle setzen, ist das in diesem Kontext zu sehen. Das Kernanliegen der Föderalismusreform I besteht darin, die Zuständigkeit von Bund und Ländern im Bildungsbereich vollständig zu entflechten und die in über Jahrzehnte hinweg erfolgte Aufweichung der Zuständigkeit der Länder wieder auf ein klares Fundament zu stellen.
Wird der Zentralismus stärker?
Es geht in Deutschland im Moment wieder Richtung Unitarismus, was die Diskussion über die Bildungspolitik zeigt. Wir hatten Anfang des Jahrtausends ein günstiges Zeitfenster für die Föderalismusreform, ja sogar eine Renaissance des Föderalismus. Ich habe den Eindruck, dass die Unterschiede in den Ländern heute schwerer ertragen werden und der Wunsch, alles zentral zu regeln, stärker geworden ist. Hinzu kommt: Es gibt auch starke Interessen an einer europäischen Einheitlichkeit, gerade in der Wirtschaft. Wenn Europa nicht subsidiär aufgebaut wird, wird der Hang zur Einheitlichkeit unendlich groß.
Hans-Jürgen Papier, der Präsident des Bundesverfassungsgerichts, sieht eine Entparlamentarisierung. Immer mehr Entscheidungen werden von Ministerräten in Brüssel getroffen, die Parlamente haben weniger zu sagen. Hat Papier recht?
Ja und Nein. Jedes nationale Parlament kann sich mit jedem Thema, das in Europa entschieden wird, befassen. Gerade der Lissabon-Vertrag und die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts führen zu mehr Parlamentarisierung. Denn über 90 Prozent aller europäischen Entscheidungen bedürfen nach dem Lissabon-Vertrag künftig der Zustimmung des Europäischen Parlaments. Das Verfassungsgericht hat den Bundestag aufgefordert, sich mehr um europäische Themen zu kümmern. Das wird dazu führen, dass sich der Bundestag häufiger mit Entscheidungen des Rates befassen wird.
Und wo sind die Probleme?
80 bis 85 Prozent der für deutsche Bürger entscheidenden Vorschriften kommen aus Brüssel - etwa aus den Bereichen Landwirtschaft-, Lebensmittel-, Verbraucherschutz- und Arzneimittelrecht. Das alltägliche Leben wird zu vier Fünfteln von Europa initiiert, bestimmt und entschieden. Nehmen Sie als Beispiel das Glühbirnenverbot, das vom Europäischen Parlament nach einer leidenschaftlichen Debatte beschlossen, in Deutschland seinerzeit aber kaum beachtet wurde. Das Parlament bekommt bisher leider nicht die Aufmerksamkeit, die es eigentlich bekommen müsste. Es gibt keine europäische Öffentlichkeit. Daher werden europäische Entscheidungen nicht ausreichend kommuniziert, und die Leute bekommen manchmal das Gefühl, die Entscheidungen würden über ihre Köpfe hinweg getroffen. Deshalb ist das Urteil des Bundesverfassungsgerichts mit der Vorgabe, dass sich der Bundestag intensiver mit Europa auseinandersetzen muss, enorm wichtig, weil es in Deutschland eine Öffentlichkeit für europäische Entscheidungen herbeiführt.
Friedrich Merz, ehemaliger Unions-Fraktionschef, hat festgestellt, dass in Brüssel heute mehr Bedienstete der deutschen Länder stationiert sind als des deutschen Bundesstaates. War das im Sinne des Erfinders, als Sie für die Ausweitung der Rechte und Beteiligung der Länder in der EU gekämpft haben?
Aber natürlich. Ob Landwirtschaft, Verbraucherschutz oder Wettbewerbspolitik: Ein Land hat heute in vielen Bereichen mehr mit Brüssel zu tun als mit Berlin. Die Vertretung zum Beispiel bayerischer Interessen in Brüssel ist manchmal sogar noch wichtiger, weil Brüssel eine Fülle von Zuständigkeiten hat. Für den bayerischen Landwirtschaftsminister hat das Verhältnis zum europäischen Agrarkommissar ähnlich große Bedeutung wie das zur Berliner Landwirtschaftsministerin. Auch bei der Verteilung von Regionalfördermitteln muss ein Land in Brüssel engagiert sein. Wir haben in Bayern sehr früh erkannt, dass Europa nicht nur ein Europa der Mitgliedstaaten, sondern auch ein Europa der Regionen ist. Wenn Zuständigkeiten nach Brüssel abwandern, ist es in einem föderalen Staat selbstverständlich, dass die Länder, die eine eigene Staatsqualität haben, in Brüssel vertreten sind.
Der Wirtschaftswissenschaftler Rolf Peffekoven kritisiert die Föderalismusreformen, weil sie den bundesstaatlichen Finanzausgleich nicht geregelt haben. Er erwartet eine Föko III und will eine Steuerautonomie der Länder. Peffekoven müsste Ihnen eigentlich aus dem Herzen sprechen...
Auf der einen Seite sind wir föderal strukturiert. Auf der anderen Seite gibt es aber die Vorgabe der Gleichwertigkeit der Lebensverhältnisse. Das zwingt zu einem innerstaatlichen Ausgleich, wie ihn zum Beispiel föderale Staaten wie die USA oder die Schweiz nicht kennen. Die Unterschiede bei der Leistungsstärke der 16 Bundesländer führen schon zu der Frage, ob der Finanzausgleich nicht anders gelöst werden muss. Aber vor dem Auslaufen des Solidarpakts 2019 wird es keine Entscheidung geben. Gleich starke Länder wären in der Theorie eine Lösung, aber Länderneugliederungen können nicht gegen den Willen der Menschen erzwungen werden.
Wolfgang Clement meint, fünf bis sechs Bundesländer würden reichen statt heute 16.
Unter rein ökonomischen Gesichtspunkten ist das richtig. Nur noch sechs bis sieben Länder würden nach dieser reinen Lehre eine erhebliche Stärkung des Föderalismus bedeuten. Aber es macht keinen Sinn, eine Länderneugliederung zu befehlen. Es handelt sich um Staaten. Und sie können von keinem Staat verlangen, er solle seine Staatlichkeit aufgeben.
Es wurde eine Schuldenbremse für Bund und Länder beschlossen, und schon gibt es Unzufriedenheit. Schleswig-Holstein etwa klagt, weil es seinen Handlungsspielraum eingeschränkt sieht.
Die Schuldenbremse ist ein großer Erfolg der Föderalismuskommission II. 16 Länder und der Bund haben sich darauf verständigt, im Prinzip nicht mehr auszugeben als sie einnehmen. Das ist ein hohes Maß an Nachhaltigkeit und genauso wichtig wie die Nachhaltigkeit im Umweltschutz. Eine Generation darf sich nicht wegen angeblich guter Dinge verschulden, was die nachwachsende Generation dann bezahlen soll. Massive Staatsverschuldung bringt auch immer die Gefahr der Inflation mit sich. In den ersten Legislaturperioden der Bundesrepublik hat der Staat nicht mehr ausgegeben als er eingenommen hat. Es gab sogar Überschüsse. Aber in den vergangenen 40 Jahren hat der Staat immer Schulden gemacht und es sind keine Schulden mehr zurückgezahlt worden, auch wenn versprochen wurde, in Zeiten des Wachstums Schulden zu tilgen. Deshalb ist die Schuldenbremse ein epochales Werk, das absolut notwendig war. Der Staat darf nicht anders wirtschaften als der Privatmann.
Die Föderalismusreformen haben nicht zur Einführung von Volksentscheiden geführt, die in anderen Länder wie etwa in der Schweiz und auch in deutschen Ländern wie Bayern selbstverständlich sind. War das richtig?
Die repräsentative Demokratie braucht als ein gewisses Korrelat auch die unmittelbare, direkte Demokratie. In welchen Bereichen Volksentscheide und Volksbefragungen möglich sein sollen, darüber kann man streiten. Aber insgesamt lebt die Demokratie von einer stärkeren Beteiligung der Bevölkerung. Die Parteien- und Gremiendemokratie hat bereits zur Enthaltsamkeit vieler Bürger geführt. Wir haben in Bayern gute Erfahrungen mit Volksentscheiden gemacht, auch wenn sie manchmal gegen die Position der Staatsregierung ausgegangen sind. Aber das ist zu akzeptieren und zu respektieren. Wenn zum Beispiel die Europäische Union um die Türkei erweitert werden soll, ist es für mich selbstverständlich, dass die Deutschen darüber abstimmen.
Das Interview führte
Hans-Jürgen Leersch.