REFORMGESCHICHTE
Reformversuche gab es schon vor »FöKo I« und »FöKo II«. 1973 setzte der Bundestag die Enquête-Kommission Verfassungsreform ein. Dabei war ein junger FDP-Abgeordneter namens Burkhard Hirsch. Ein Erfahrungsbericht
Die Enquête-Kommission hatte Vorgänger und Nachfolger. Man wird zwar sagen können, dass die meisten der mehr als 50 Verfassungsänderungen, die das Grundgesetz erdulden musste, weniger von Kommissionen erdacht worden sind, sondern aus Anlässen beschlossen wurden, die man gerade für dringend hielt. Die Verhandlungsberichte der Kommissionen sind gleichwohl ganz zu Unrecht vernachlässigt worden. Es sind Schatzkammern. Es gibt keine vergleichbaren Gremien, in denen bekannte Staatsrechtler, erfahrene Verwaltungsbeamte und politische Praktiker so lange, so eng und so gutmütig zusammengearbeitet und beraten haben.
Der Andrang der Parlamentarier zu Sach-Enquêten ist gleichwohl überschaubar. Abgeordnete möchten zwar die Welt verändern, trennen sich dabei aber nur ungern von ihren eigenen Vorstellungen. Skandal-Enquêten sind wunderbare Gelegenheiten, sich sozusagen an die Spitze der empörten Gewissen zu setzen. Sach-Enquêten aber sind Mahnbescheide. Sie beschreiben, was man tun sollte. An ihrem Ende sieht man sich der Mehrheit derjenigen gegenüber, die vor allem an das glauben, was sie selbst geschrieben haben.
Seit Jahren war im Bundestag erörtert worden, ob das Grundgesetz der Verfassungs-wirklichkeit angepasst werden sollte. Dafür sprachen insbesondere unbefriedigende Auskünfte über die Tätigkeit der Nachrichtendienste und die Bedrohung der Eigen-staatlichkeit der Länder durch eine zunehmende Bundesgesetzgebung. Dabei konnte man von der 1970 eingesetzten Enquête keine revolutionären Vorstellungen erwarten. Der Bundestag benannte neben den Sachverständigen erfahrene Abgeordnete. Die Länder entsandten einen leibhaftigen Ministerpräsidenten - Helmut Lemke (CDU), Schleswig-Holstein -, den Präsidenten eines Verfassungsgerichts und fünf renommierte Ministerialbeamte. Die Kommission arbeitete gründlich und sachkundig und wurde daher von der Auflösung des Bundestages im September 1972 überrascht. Sie legte eine bemerkenswerte Zwischenbilanz vor. Darin schlug sie ein Selbstauflösungsrecht des Bundestages vor, eine gesetzliche Regelung der Untersuchungsausschüsse und die Möglichkeit von Bundesgesetzen im Bereich der ausschließlichen Länderzuständigkeit, wenn die Bundesländer den Bund darum ersuchen. Zur Kontrolle der Nachrichtendienste beschränkte sich die Kommission auf die Erwartung, daß der Vorsitz eines entsprechenden Gremiums von einem Abgeordneten wahrgenommen werde.
Die Enquête-Kommission des nächsten Bundestages erfreute sich noch größerer Aufmerksamkeit der Exekutive von Bund und Ländern. An ihren Sitzungen nahmen ständig Vertreter des Kanzleramtes, mehrerer Bundesministerien sowie einiger Staats-kanzleien der Länder teil. Die Länder benannten erneut hochrangige Vertreter ihrer Verwaltungen, an ihrer Spitze einen Landtagspräsidenten, der seinerseits eine weitere Länderkommission Verfassungsreform einrichtete. In ihr waren Landesregierungen und Landtage vertreten, teilweise in Personalunion mit der Enquête des Bundes. Die Beratungen erleichtert hat das nicht. Es führte vielmehr dazu, dass das Verhältnis Bund-Länder und die Finanzverfassung des Grundgesetzes unverhältnismäßig eingehend beraten wurden. Immerhin konnte jedes Kommissionsmitglied ein Sondervotum formulieren, das mit dem Schlußbericht veröffentlicht wurde.
Einige Ergebnisse wurden bereits während der Beratungen verwirklicht: die verfas-sungsrechtliche Verankerung des Petitionsausschusses, das Recht der kommunalen Spitzenverbände auf förmliche Anhörung, und das Ende der Legislaturperiode mit dem Zusammentritt des nächsten Bundestags. Die Beratungen verliefen in größtmöglicher Höflichkeit. Man war ja wer. Der glänzende Vorsitzende Friedrich Schäfer (SPD), gleichzeitig allseits respektierter Vorsitzer des Innenausschusses des Bundestages, erstickte mit schwäbischer Breitflächigkeit in Tonfall und Verhandlungsführung jede Aggression. Er verbreitete eine Atmosphäre gutbürgerlicher Behaglichkeit, bei der man sich nur noch wunderte, dass in den Sitzungen kein badischer Wein gereicht wurde. Man musste seinen Ärger über Abstimmungsniederlagen in die Sondervoten verlagern - was sie zur Lektüre empfiehlt. So habe ich meine Erfahrungen über massive politische Einflussversuche auf die Verhandlungen und Ergebnisse zweier Untersuchungsausschüsse eben in einem Sondervotum verarbeitet, wie es der Kollege Claus Arndt (SPD) mit seinen Gedanken über die Fehlleistungen bei der Kontrolle der Nachrichtendienste getan hat. Manchmal, möchte man hoffen, hat es auch eine Wirkung, wenn man der Katze wenigstens die Schelle umhängt.
Als besonderes Ergebnis ihrer Beratungen erklärte die Kommission, dass das Grundgesetz bei den meisten untersuchten Problemen selbst da nicht verbessert werden könne, wo man mit ihm nicht ganz zufrieden sei. Trotzdem machte sie Empfehlungen, die zwar nicht verwirklicht wurden, aber beachtlich geblieben sind. Sie wendete sich zwar leider gegen Elemente der direkten Demokratie. Aber sie schlug vor, bei der Bundestagswahl den Einfluss der Parteimitglieder auf die Reservelisten und durch Kumulieren den Einfluss der Wähler auf die Reihenfolge der Kandidaten zu verstärken. Sie votierte für die Möglichkeit der Abgeordneten, bei einem Parteiwechsel das Mandat mitzunehmen. Aber sie forderte das Recht des Bundestages auf Selbstauflösung bei einem Votum mit qualifizierter Mehrheit.
Zu der heute üblichen Gängelung der Abgeordneten durch kleinliche Reglementierung der Redezeiten oder überfrachtete Tagesordnungen bis in die späte Nachtzeit musste sich die Kommission damals noch nicht äußern. Aber sie machte bemerkenswerte Vorschläge, das Plenum durch die Beschränkung der Verabschiedung von Gesetzen auf zwei Lesungen und die Verlagerung in gemeinsame öffentliche Sitzungen der beteiligten Ausschüsse zu entlasten. Sie bemühte sich, die Stellung des Bundesrates durch konkrete Vorschläge auch in den Bereichen zu stärken, in denen es sich um die Rechtsetzung durch eine überregionale Organisation handelt. Die nachträglichen Gesetze zum Vertrag von Lissabon lassen grüßen! Schließlich schlug sie eine gemeinsame Investitionsplanung des Bundes und der Länder vor, die es dem Bund erleichtertet hätte, sich insbesondere im Bereich von Bildung und Forschung finanziell stärker zu engagieren. Es war ein schwerer Fehler, dass gerade dieser Vorschlag nicht verwirklicht, sondern durch die törichte Phrase eines namhaften Wirtschaftspolitikers vom "Wettbewerbsföderalismus" verdrängt wurde. Als ob man nach Belieben aus dem Land, in dem es einem nicht mehr gefällt, in ein anderes ziehen könnte, dessen gerade amtierende Landesregierung besser zu sein scheint! Das mag für akademische Singles und für Rentner gelten, aber sonst?
Die Kommission hatte Nachfolger, die bekannter sind, aber nicht besser waren: nach der Wiedervereinigung die Gemeinsame Verfassungsreformkommission des Bundes und der Länder, um eine verfassungsgebende Nationalversammlung zu verhindern, und zuletzt die Kommission zur Föderalismusreform I und II. Sie werden nicht die letzten sein. Probleme, die man nicht löst, werden meistens größer.
Der Autor war von 1972 bis 1975
und von 1980 bis 1998 Mitglied
des Deutschen Bundestages.
Von 1994 bis 1998 war er dessen Vizepräsident.