beispiel IRAK
Neue Strukturen sollen Staatszerfall verhindern
Manchmal steckt alle Einheit in einem Schuh. "Das ist ein Abschiedsgeschenk von den Irakern", rief der Journalist Muntazer al-Zaidi vor einem Jahr dem scheidenden US-Präsidenten George W. Bush zu, "das ist ein Abschiedskuss, du Hund!" Es folgten zwei Schuhwürfe, zwei Duckmanöver Bushs und in den Wochen danach nicht enden wollende Beifallsstürme im Irak für al-Zaidis Zornesausbruch während einer Pressekonferenz im Dezember 2008. Einmütig sind sich die Iraker darüber, was in den vergangenen Jahren alles falsch gelaufen ist. Uneins dagegen zeigen sie sich, wie sich ihr Staat für die Zukunft aufstellen soll. "Der Irak ist ein gescheiterter Staat", stellt der Bagdader Politologe Ghassan Attiyah fest. Immer, wenn zentrifugale Kräfte zu stark an einer Gesellschaft zerren, beginnt die Hochzeit des Föderalismus. Zwar ist er keine schöne Braut. Aber es gibt keine Alternative zu ihm. So ist die Debatte über die Ausgestaltung föderaler Strukturen zur wichtigsten innenpolitischen Auseinandersetzung geworden.
Nur drehen sich diese lebhaften Diskussionen kaum etwa um die Einrichtung einer zweiten Parlamentskammer und eines obersten Gerichtshofes. Stattdessen konzentrieren sie sich auf die Verteilung von Macht und Geld entlang ethnisch-konfessioneller Bruchlinien. Aus dem Gebiet des heutigen Iraks einen modernen Staat zu zimmern, bleibt dabei so schwierig wie schon vor einhundert Jahren.
Damals gehörten Grund und Boden den Stämmen. Die widersetzten sich der Ausbreitung von Eigentum - auch wenn ihre eigenen Stammesoberhäupter diesen Wandlungsprozess versuchten. "In jenen Tagen", erinnerte sich ein Stammesangehöriger, "war es gefährlich für den Scheich, viele Mitglieder des Stammes gegen sich zu haben". Hinzu kam, dass im modernen Irak drei Provinzen zusammengefasst wurden, die keine politische oder ökonomische Einheit bildeten: Die kurdische Provinz Mosul im Norden unterhielt mehr Austausch mit Anatolien und Aleppo als mit Bagdad; die Zentralpro-vinz Bagdad fand ihre Rolle als Brücke zwischen Syrien und Iran; die südliche Provinz Basra, vornehmlich von Schiiten bewohnt, orientierte sich zum Golf und nach Indien.
Diesen Kräfteverhältnissen huldigte selbst Iraks letzter Diktator Saddam Hussein, der als arabischer Nationalist eigentlich einen strengen Zentralismus anstrebte: In den Jahren vor seinem Sturz 2003 versuchte er die Beziehungen von Staat und Gesellschaft zu restrukturieren; die Iraker sollten weniger als Bürger denn als Mitglieder vormoderner sozialer Verbände definiert werden, nämlich ihrer Familien, der Konfessionen und ihrer Stämme. Die Stammesführer erkannte Saddam Hussein gerade in seinen letzten Jahren als legitime Vertreter an - so schuf er sich neue Verbündete und verschaffte sich Spielraum. Die Folgen dieser Tribalisierung spürt man noch heute.
Nun sollen föderalistische Strukturen den Staatszerfall im Irak aufhalten. Doch die ehemaligen Provinzen Mosul und Basra haben längst eigene Fakten geschaffen: Kurden im Norden und Schiiten im Süden haben dort Machtverhältnisse aufgebaut, in denen sie weitgehend unabhängig von der Bagdader Regierung agieren. Für sie bedeutet Föderalismus zuerst freie Verfügung über die Wohlstandsressourcen, nämlich das Erdöl. Ministerpräsident al-Maliki hat dem machtlos zuzusehen: In allen wichtigen Punkten bleibt die neue Verfassung von 2005 wage, sie definiert nicht das Verhältnis zwischen Bundes- und Regionalregierung.
Was tun? Das ethnisch-konfessionelle Föderalismuskonzept hat sich bisher durchge-setzt. Mehr innerirakische Kooperation gelänge nur, wenn zum Beispiel die Kurden zu mehr Kompromissbereitschaft bewegt würden: eine Aufgabe für die EU, die gute Beziehungen zu ihnen unterhält.