49. Sitzung
Berlin, Donnerstag, den 17. Juni 2010
Beginn: 10.00 Uhr
* * * * * * * * V O R A B - V E R Ö F F E N T L I C H U N G * * * * * * * *
* * * * * DER NACH § 117 GOBT AUTORISIERTEN FASSUNG * * * * *
* * * * * * * * VOR DER ENDGÜLTIGEN DRUCKLEGUNG * * * * * * * *
Präsident Dr. Norbert Lammert:
Die Sitzung ist wieder eröffnet.
Dem Kollegen Hans-Ulrich Klose, der vor wenigen Tagen seinen 73. Geburtstag beging, möchte ich auch von dieser Stelle aus im Namen des ganzen Hauses herzlich gratulieren und alles Gute wünschen.
Interfraktionell ist vereinbart worden, die verbundene Tagesordnung um die in der Zusatzpunktliste aufgeführten Punkte zu erweitern:
ZP 1 Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktionen der CDU/CSU und der FDP:
Bedrohliches Anwachsen linksextremer Straftaten in Deutschland
(siehe 48. Sitzung)
ZP 2 Weitere Überweisungen im vereinfachten Verfahren
Ergänzung zu TOP 35
Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Martina Bunge, Cornelia Möhring, Caren Lay, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE
Versorgung durch Hebammen und Entbindungshelfer sicherstellen
- Drucksache 17/2128 -
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Gesundheit (f)
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Arbeit und Soziales
ZP 3 Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktion der SPD:
Auswirkungen des gescheiterten Bildungsgipfels auf die gemeinsame Bildungspolitik von Bund und Ländern
ZP 4 Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz (10. Ausschuss) zu dem Antrag der Abgeordneten Ulrike Höfken, Nicole Maisch, Cornelia Behm, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
zu dem Vorschlag für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates betreffend die ?Information der Verbraucher über Lebensmittel? KOM(2008) 40
hier: Stellungnahme gegenüber der Bundesregierung gemäß Artikel 23 Absatz 3 des Grundgesetzes
Lebensmittelinformation verbessern - Verbindliche Ampelkennzeichnung einführen
- Drucksachen 17/1987, 17/2185 -
Berichterstattung:
Abgeordnete Carola Stauche
Iris Gleicke
Dr. Christel Happach-Kasan
Karin Binder
Ulrike Höfken
ZP 5 Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Bärbel Kofler, Sören Bartol, Dirk Becker, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD
Marktanreizprogramm und nationale Klimaschutzinitiative fortsetzen
- Drucksache 17/2119 -
Überweisungsvorschlag:
Haushaltsausschuss (f)
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Von der Frist für den Beginn der Beratungen soll, soweit erforderlich, abgewichen werden.
Die Tagesordnungspunkte 26, 28, 32 c, 35 n und 36 l werden abgesetzt.
Die für morgen als letzter Tagesordnungspunkt angekündigte Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktion Die Linke wurde zurückgezogen und entfällt.
Das eröffnet die Möglichkeit zur Begleitung anderer bedeutender nationaler Ereignisse.
Außerdem mache ich auf mehrere nachträgliche Ausschussüberweisungen im Anhang zur Zusatzpunktliste aufmerksam:
Der in der 46. Sitzung des Deutschen Bundestages überwiesene nachfolgende Gesetzentwurf soll zusätzlich dem Ausschuss für Arbeit und Soziales (11. Ausschuss) zur Mitberatung überwiesen werden.
Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes über die Verwendung von Verwaltungsdaten für Wirtschaftsstatistiken und zur Änderung von Statistikgesetzen
- Drucksache 17/1899 -
überwiesen:
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie (f)
Innenausschuss
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz
Ausschuss für Arbeit und
Soziales
Der in der 46. Sitzung des Deutschen Bundestages überwiesene nachfolgende Antrag soll zusätzlich dem Ausschuss für Wirtschaft und Technologie (9. Ausschuss) zur Mitberatung überwiesen werden.
Beratung des Antrags der Abgeordneten Cornelia Behm, Undine Kurth (Quedlinburg), Agnes Malczak, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Kyritz-Ruppiner Heide in ihrer Einheit erhalten - Voraussetzungen für eine chancenreiche Regionalentwicklung
- Drucksache 17/1989 -
überwiesen:
Verteidigungsausschuss (f)
Finanzausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und
Technologie
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und
Reaktorsicherheit
Ausschuss für Tourismus
Haushaltsausschuss
Die in der 46. Sitzung des Deutschen Bundestages überwiesenen nachfolgenden Anträge sollen zusätzlich dem Ausschuss für Tourismus (20. Ausschuss) zur Mitberatung überwiesen werden.
Beratung des Antrags der Fraktion der SPD
Die Fußball-Weltmeisterschaft - Eine Chance für Südafrika
- Drucksache 17/1959 -
überwiesen:
Auswärtiger Ausschuss (f)
Sportausschuss
Ausschuss für Menschenrechte und humanitäre Hilfe
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
Ausschuss für Tourismus
Beratung des Antrags der Abgeordneten Frank Schwabe, Dirk Becker, Marco Bülow, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD
Unsere Meere brauchen Schutz
- Drucksache 17/1960 -
überwiesen:
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
(f)
Auswärtiger Ausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
Ausschuss für Tourismus
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen
Union
Sind Sie mit diesen Vereinbarungen einverstanden? - Das ist der Fall. Damit ist das so beschlossen.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 3 a und 3 b auf:
a) - Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines ? Gesetzes zur Änderung des Grundgesetzes (Artikel 91 e)
- Drucksache 17/1939 -
- Zweite und dritte Beratung des von den Fraktionen der CDU/CSU, SPD und FDP eingebrachten Entwurfs eines ? Gesetzes zur Änderung des Grundgesetzes (Artikel 91 e)
- Drucksache 17/1554 -
Beschlussempfehlung und Bericht des Innenausschusses (4. Ausschuss)
- Drucksache 17/2183 -
Berichterstattung:
Abgeordnete Ingo Wellenreuther
Michael Hartmann (Wackernheim)
Gisela Piltz
Jan Korte
Wolfgang Wieland
b) - Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Weiterentwicklung der Organisation der Grundsicherung für Arbeitsuchende
- Drucksachen 17/1940, 17/2057 -
- Zweite und dritte Beratung des von den Fraktionen der CDU/CSU, SPD und FDP eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Weiterentwicklung der Organisation der Grundsicherung für Arbeitsuchende
- Drucksache 17/1555 -
Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Arbeit und Soziales (11. Ausschuss)
- Drucksache 17/2188 -
Berichterstattung:
Abgeordnete Angelika Krüger-Leißner
- Bericht des Haushaltsausschusses (8. Ausschuss) gemäß § 96 der Geschäftsordnung
- Drucksache 17/2190 -
Berichterstattung:
Abgeordnete Axel E. Fischer (Karlsruhe-Land)
Bettina Hagedorn
Dr. Claudia Winterstein
Roland Claus
Alexander Bonde
Über den Entwurf eines Gesetzes zur Änderung des Grundgesetzes werden wir später namentlich abstimmen.
Außerdem liegt zu diesem Gesetzentwurf ein Entschließungsantrag der Fraktionen der CDU/CSU, SPD und FDP vor. Weiterhin hat die Fraktion Die Linke zu dem Entwurf eines Gesetzes zur Weiterentwicklung der Organisation der Grundsicherung für Arbeitsuchende einen Entschließungsantrag eingebracht.
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für die Aussprache eineinviertel Stunden vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann können wir so verfahren.
Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort der Bundesministerin Dr. Ursula von der Leyen.
Dr. Ursula von der Leyen, Bundesministerin für Arbeit und Soziales:
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Der Weg hin zu der Gesetzesvorlage, die wir jetzt beschließen werden, war nicht einfach. Er war steinig und schwierig. Diese wichtige Reform stand mehr als einmal auf der Kippe. Alle in diesem Raum wissen, dass die Schwarzmaler unter uns so manches Mal Konjunktur gehabt haben. Ich freue mich umso mehr, dass wir nach zweieinhalb Jahren fruchtloser Streitereien und dann einigen Monaten sehr konstruktiver Arbeit jetzt eine sehr moderne und gute Lösung und vor allen Dingen eine Lösung im Sinne der Menschen, vor allem der Arbeitslosen, gefunden haben.
Ich freue mich nicht nur, dass es gelungen ist, eine Lösung über die Grenzen des Föderalismus hinweg, also für Bund, Länder und Kommunen als Einheit, zu finden, sondern ich freue mich auch, dass wir jetzt trotz aller Hakeleien über die Parteigrenzen hinweg eine gute Reform auf den Weg bringen. Das zeigt einmal mehr, dass unsere Demokratie intakt ist - und das ist in diesen schwierigen Zeiten viel wert.
Es gibt ein schönes Wort von Victor Hugo. Er hat gesagt:
Nichts ist mächtiger als eine Idee, deren Zeit gekommen ist.
Ein großes Wort. Aber wir können es vielleicht auch für diese große Jobcenterreform anwenden. Denn die Idee, die dahinter stand, war: Wir alle haben die Erfahrung gemacht, dass es wichtig ist, bei der Vermittlung von Arbeitslosen in Arbeit vor Ort Gestaltungsspielraum zu haben, die Hilfen schnell, effizient und passgenau anzubieten und aus einem Bündel von Maßnahmen das Richtige wählen zu können. Wir hatten aber auch die Grundfrage zu lösen: Wie kann man es, wenn vonseiten des Bundes Milliarden investiert werden, so steuern, dass das Geld effizient eingesetzt ist? Ich glaube, hier ist uns etwas Außergewöhnliches gelungen: einerseits ein hohes Maß an Freiheit und Gestaltungsspielraum in den Jobcentern, andererseits eine ganz moderne Steuerung nach Zielen mit Vergleichbarkeit der Daten, der Erfolge. Das zeigt, dass wir bei der Modernität ein großes Stück vorangekommen sind.
Erstens. Wir wollen einerseits Leistung aus einer Hand. Es war eine viel diskutierte Frage, ob das gelingt, unabhängig davon, ob vor Ort die Kommune oder die Bundesagentur für Arbeit zuständig ist oder beide zusammenarbeiten.
Zweitens. Wir haben es mit einer modernen Zielsteuerung und Transparenz bei den Erfolgsmessungen geschafft, dass die Mittel so wirkungsvoll wie möglich eingesetzt werden. Nicht die Masse der Mittel macht es, sondern die Qualität der eingesetzten Mittel ist entscheidend.
Drittens. Wir haben einen guten Weg gefunden und sagen: Eine schnelle, passgenaue Vermittlung sorgt dafür, dass die Fähigkeiten von Arbeitslosen zum Tragen gebracht werden, dass die Arbeitslosen so gefördert werden, dass sie diese Fähigkeiten auch einsetzen können. Das ist vor allem im Sinne der Menschen, die unsere Hilfe brauchen.
Das Ziel ?Alle Leistungen aus einer Hand? ist in diesen schwierigen Zeiten erfüllt: Uns war wichtig, eine Hand auszustrecken, damit die Mittel nicht für Unwirksames verschwendet werden und sich die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in den Jobcentern nicht im Wirrwarr der Instrumente verheddern. Wir wollten vielmehr eine Hand, die im richtigen Moment den Gestaltungsspielraum hat, um die richtige Hilfe für die einzelne Person zu finden. Das ist hier heute gelungen.
Mir ist nicht wichtig - das will ich vonseiten des Bundes sagen -, in welcher Konstellation vor Ort gearbeitet wird, ob in einem Jobcenter in einer Optionskommune oder in einer gemeinsamen Verwaltung von Bundesagentur für Arbeit und kommunaler Verwaltung. Das Entscheidende ist, dass die Leistung vor Ort nicht mehr vom Zufall abhängt - ob da engagierte Menschen arbeiten oder nicht -, sondern dass wir überall in Deutschland gleich hohe, qualitativ hochwertige Maßstäbe anlegen, sodass wir überall in Deutschland auf Knopfdruck vergleichen können: Wie sind die Erfolge? Wie setzt sich das Jobcenter ein? Wie setzt es seine Möglichkeiten ein? Das schafft Wettbewerb, vor allem aber die Möglichkeit, von den Besten zu lernen. So geht Fortschritt; nur so werden wir besser.
Ich weiß, dass es Diskussionen über das Ausmaß der Mittel gegeben hat, die eingesetzt werden. Aber gerade angesichts der Spardiskussionen ist es wichtig, festzuhalten: In diesem Land wird inzwischen jeder fünfte Euro für die Schuldentilgung ausgegeben. In diesem Land wird im Bundeshaushalt inzwischen jeder vierte Euro kreditfinanziert ausgegeben. Wir sind also in einer Zeit, in der wir konsolidieren müssen.
Wir sind in einer Zeit, in der wir uns, wenn wir nicht wie Spanien, Portugal oder Griechenland an unseren eigenen Schulden ersticken wollen, der schmerzhaften Anstrengung unterziehen müssen, zu schauen: Welche Aufgaben sind sinnvoll? Man muss die Maßnahmen auf den Prüfstand stellen und die weniger wirksamen streichen. Das ist in den letzten Tagen geschehen. Ich weiß, dass es hier viel Diskussionsbedarf gibt; aber keinem einzigen Arbeitslosen in diesem Land ist geholfen, wenn dieses Land an seinen Schulden erstickt, wenn wir durch die Verschuldungsspirale, die immer weiter angetrieben wird, in einer Inflation landen - Länder wie Griechenland, Spanien und Portugal erleben das jetzt. Wenn der Sozialstaat in sich zusammenbricht, dann müssten das auf bittere Weise die Menschen ausbaden, die eigentlich die Hilfe des Sozialstaates bräuchten.
Der Sozialetat nimmt 55 Prozent des Bundeshaushalts ein. In den nächsten vier Jahren schaffen wir es, zu konsolidieren, indem ein Anteil von 3 Prozent des Sozialetats eingespart wird. Das ist meines Erachtens eine Leistung, die deutlich macht: Dieser Sozialstaat steht auf festen Füßen. Wir wollen, dass das auch in Zukunft so ist. Deshalb sind diese Schritte für die Zukunft richtig.
Vielen Dank.
Präsident Dr. Norbert Lammert:
Das Wort erhält die Kollegin Anette Kramme für die SPD-Fraktion.
Anette Kramme (SPD):
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Frau Bundesministerin, ich bin dankbar dafür, dass Sie einen Konnex zwischen der Jobcenterreform auf der einen Seite und dem Sparpaket, das Sie verabschieden wollen, auf der anderen Seite hergestellt haben. Es gibt gewisse Zusammenhänge. Eine Jobcenterreform muss man gut machen. Ich behaupte: Wir sind diejenigen gewesen, deretwegen das Gesetz überhaupt zustande gekommen ist.
Wir haben bei Ihnen ein einzigartiges Hickhack beobachtet.
Lassen Sie mich zunächst auf das Sparpaket eingehen. Sie haben etwas vor, das im Prinzip unvorstellbar ist. Sie streichen die Mittel für die Arbeitsmarktpolitik zusammen. Sie wollen aus Pflichtleistungen Ermessensleistungen machen. Gleichzeitig sagen Ihre Kanzlerin und Ihre Bundesbildungsministerin deutlich: Die Bildungspolitik soll nicht zusammengestrichen werden. Ich frage mich an dieser Stelle: Was ist Arbeitsmarktpolitik? Arbeitsmarktpolitik ist Chancenpolitik. Arbeitsmarktpolitik ist Bildungspolitik für normale Arbeitnehmer und Arbeitnehmerinnen.
Was Sie tun, ist verantwortungslos. Wir werden die Konstellation vorfinden, dass aktive Arbeitsmarktpolitik ab dem nächsten Jahr nicht mehr stattfindet. Wir werden die Situation haben, dass Optionskommunen mit leeren Händen dastehen. Die Jobcenterreform wird letztlich ausgehöhlt. Wir werden auch vor der Situation stehen, dass gerade in den von Ihnen unter besonderer Beobachtung stehenden Gruppen, nämlich den der Alleinerziehenden, der Älteren und der Jugendlichen, nichts mehr stattfindet, weil die Programme zusammengestrichen oder gekürzt werden. Wir haben dies alles in diesem Jahr schon einmal erlebt. Wir haben erlebt, dass Sie eine Haushaltssperre in Höhe von 900 Millionen Euro veranlasst haben. Hätte es nicht unsere Bemühungen gegeben, wäre die Arbeitsmarktpolitik bereits in diesem Jahr vernichtet worden.
Lassen Sie mich etwas zu den Jobcentern sagen. Es gibt eine Erzählung von Margarete von Navarra - heutzutage kennt sie fast niemand mehr -, deren Titel wie folgt lautet:
Schlauheit eines Verliebten, der bei einer Mailänder Dame unter der Maske ihres getreuen Dieners dessen sauer verdienten Liebeslohn einheimst.
Ich mag mir nicht anmaßen, zu entscheiden, ob dieser Titel schon zu den Verhandlungen über die Jobcenter passt. Auf jeden Fall passt ein geflügeltes Wort aus dieser Erzählung: Was lange währt, wird endlich gut.
Ich bin sehr dankbar dafür, dass wir in der Arbeitsmarktpolitik nicht vor der Situation stehen, dass die Arbeitsgemeinschaften auseinandergerissen werden. Wir hätten dort Umstrukturierungsprozesse gehabt, die dazu geführt hätten, dass Arbeitsvermittlung, also das, was für den Einzelnen so entscheidend ist, für mindestens ein Jahr nicht stattfindet. Wir sind sehr dankbar dafür, dass wir es erreichen konnten, dass die Betreuung aus einer Hand weiterhin stattfindet. Für Langzeitarbeitslose ist es gut, dass sie nicht von Pontius zu Pilatus geschickt werden, nicht von einer Behörde zur anderen gehen zu müssen, einen Bescheid zu haben, gegebenenfalls einen Widerspruch einzulegen, nur einmal klagen zu müssen und vor allen Dingen - das ist das Entscheidende - bei der Arbeitsvermittlung aus einer Hand betreut zu werden.
Ich bin sehr dankbar dafür, dass wir es als SPD erreicht haben, dass im Rahmen dieser neuen Jobcenter einiges besser wird. Wir haben eine verbesserte Betreuung, weil wir es entgegen dem erbitterten Widerstand der FDP erreicht haben, dass 3 200 Stellen entfristet werden konnten. Das ist gut. Wir brauchen personelle Kontinuität.
Ohne personelle Kontinuität kann es keine guten Leistungen bei der Arbeitsvermittlung geben.
Wir sind auch glücklich darüber, dass wir es erreichen konnten - ebenfalls gegen den erbitterten Widerstand der Koalition -, dass ein Betreuungsschlüssel festgeschrieben wird. Das ist noch nicht der Betreuungsschlüssel, den wir uns in letzter Konsequenz und für alle Ewigkeit vorstellen. Es gibt mittlerweile eine Reihe von Untersuchungen, die belegen, dass der Betreuungsschlüssel ein ganz wichtiger Punkt ist. Das ist leicht nachzuvollziehen: Bei einem günstigeren Betreuungsschlüssel kann man sich um den Einzelnen besser kümmern. Dann kann man ihn in seiner Persönlichkeit erfassen, seine Ängste aufgreifen, ihn besser motivieren, ihm Tipps geben usw. Nach unserer Vorstellung kann das deshalb nur der Anfang sein. Wir wollen letztendlich zu einem Betreuungsschlüssel in der Größenordnung 1 : 75 kommen. Dann stünde für jeden Arbeitsuchenden alle zwei Wochen etwa eine Stunde für die Betreuung zur Verfügung. Ich denke, das ist ein guter Ansatz für die weitere Arbeitsmarktpolitik.
Wir haben in der letzten Besprechung nochmals versucht, das Thema ?Alleinerziehende? aufzugreifen. Wir haben gesagt: Es ist wichtig, dass gerade die Alleinerziehenden einen Arbeitsplatz finden, weil sonst auch Kinderarmut droht. Aber leider konnten wir auch hierbei kein Engagement seitens der Bundesministerin beobachten. Auch hier war tote Hose angesagt. Es gibt keinerlei Arbeit oder Entgegenkommen in diesem Bereich, was mich sehr wundert.
Letztlich sind wir aber doch froh, dass wir diesen Kompromiss in dieser Art und Weise gestalten konnten. Wir wünschen uns, dass die Jobcenter nunmehr auf Dauer beharrlich und gut arbeiten können. Wir werden uns in der nächsten Zeit noch mit einigen anderen Themen der Arbeitsmarktpolitik befassen müssen.
Herzlichen Dank.
Präsident Dr. Norbert Lammert:
Dr. Heinrich Kolb ist der nächste Redner für die FDP-Fraktion.
Dr. Heinrich L. Kolb (FDP):
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der Volksmund sagt: Was lange währt, wird endlich gut. Ich weiß nicht, ob die Steigerung auch gilt: Was länger dauert, wird umso besser. Ich glaube aber, dass wir heute, am Ende eines langen Weges, sagen können, dass das, was wir heute hier gemeinsam beschließen wollen, ein guter Kompromiss ist.
Frau Kramme, deswegen will ich heute einmal das Verbindende herausstellen, den Erfolg, den wir gemeinsam erreicht haben.
An einem so besonderen Tag wie dem heutigen ist es wichtig, den Menschen nicht die Fortsetzung des Streites zu liefern, nach dem Motto: Was hätte man alles noch machen können? Wer hat was gefordert, aber nicht erreicht? Ich glaube, wir müssen auch einmal sehr deutlich sagen: Unsere Demokratie funktioniert. Unsere Demokratie ist kein Strom, der wie in Kanälen immer geradeaus fließt, sondern das ist ein Strom, der manchmal auch mäanderförmig verläuft, der sich in Kurven durch die Zeit bewegt. Unsere Demokratie ist ein Strom, der manchmal scheinbar steht, sich in Stromschnellen aber doch recht flott bewegen kann.
Wir müssen den Menschen heute sagen: Trotz aller Differenzen, trotz des tagespolitischen Streits, trotz des Zähneknirschens bei allen Beteiligten - je nach Thema - ist es am Ende gelungen, die in organisatorischer Hinsicht aktuell größte sozialpolitische Herausforderung zum Wohle der Menschen, vor allen Dingen zum Wohl der Langzeitarbeitslosen in unserem Land, die künftig auf bessere Leistungen aus einer Hand hoffen dürfen, zu meistern.
Deswegen gilt mein persönlicher Dank denen, die dazu beigetragen haben. Allen voran möchte ich Herrn Staatssekretär Hoofe aus dem BMAS nennen, der die Verhandlungen in kritischen Situationen, wenn es mal hakte, mit geschickter Hand, mit guten Ideen und viel Kreativität vorangebracht hat. Auch Frau Neifer-Porsch und der Geschäftsstelle im Ministerium, die eine gute Arbeit geleistet haben und die für die Verständigung notwendigen Papiere immer zeitnah zur Hand hatten, danke ich.
Ich bedanke mich bei den Verhandlungsteilnehmern auf allen Seiten. Ich will mit der SPD beginnen. Herr Heil, bei Ihnen ganz persönlich, aber auch bei den Landesministern, die Sie begleitet haben, Frau Dreyer und Herr Baaske, bedanke ich mich. Es war sehr angenehm, mit Ihnen zusammenzuarbeiten. Ich will das Lob nicht überdehnen, sonst schlägt es möglicherweise ins Gegenteil um.
Ich bedanke mich auch bei den Vertretern der B-Seite, Herrn Beermann, Frau Haderthauer, und den Kollegen aus dem Bundestag in der Koalition, dem Kollegen Schiewerling und dem Kollegen Straubinger, mit denen wir täglich viel zu tun haben.
- Bitte? Das habe ich jetzt nicht ganz verstanden, Frau Kollegin Kramme.
Ich muss sagen: Das war eine gute Zusammenarbeit, die erfolgreich war.
Jetzt bin ich nicht jemand, der wie Sie, Frau Kramme, sagt: Na ja, zwei Jahre lang ging es nicht voran, dann kam die FDP, und binnen sieben Monaten war das Problem gelöst.
Das wäre sicherlich nicht die ganze Wahrheit. Man muss sagen: Alle haben sich am Ende bewegt. Ich will festhalten, dass nach einer grundsätzlichen Entscheidung in Wiesbaden - an dieser Stelle geht mein Dank an den hessischen Ministerpräsidenten und auch den stellvertretenden hessischen Ministerpräsidenten, Jörg-Uwe Hahn -,
einer klaren Ansage, sozusagen dem Aufstellen eines Stoppschildes sehr schnell Bewegung in die richtige Richtung kam, die sich zu einer gemeinsamen Bewegung entwickelt hat. Man hat gesehen, wie zügig und konstruktiv die Verhandlungen dann gelaufen sind.
Ich glaube, die Lösung, die wir heute haben - Herr Oppermann, Sie nicken schon; Sie wissen doch noch gar nicht, was ich sagen will -,
nämlich die Leistungserbringung aus einer Hand sicherzustellen, kann sich sehen lassen. Künftig wird es in ganz Deutschland heißen: ein Bürger, ein Bescheid, übrigens auch ein Name für die Einrichtung.
Es wird nicht mehr Argen und Optionskommunen geben, sondern es gibt überall in Deutschland Jobcenter, an die sich die Menschen wenden, wenn sie Unterstützung in ihrer schwierigen persönlichen Lebenslage, der Langzeitarbeitslosigkeit, benötigen.
Die Verfassungsänderung wird mein Kollege Christian Ahrendt gleich noch im Detail beleuchten. Aber ich will so viel sagen: Ich glaube, es ist zum einen eine sichere Grundlage für die Änderungen, die wir einfachgesetzlich vornehmen wollen, und es ist zum anderen etwas, das sich vor den Augen von Verfassungsästheten sehen lassen kann. Es ist - anders als die Lyrik, die sich in der jüngeren Vergangenheit an der einen oder anderen Stelle ins Grundgesetz eingeschlichen hat - eine kurze, knappe und klare Formulierung. Ich bin damit zufrieden.
Zu den Jobcentern. Wir machen die gute Zusammenarbeit der letzten Jahre verfassungssicher. Aber wir ziehen auch dort Konsequenzen, wo wir Reibungsverluste in der Praxis festgestellt haben. Ich finde das kooperative Steuerungsmodell, auf das wir uns verständigt haben, besonders wichtig. Es wird künftig sowohl bei den Optionskommunen als auch bei dem Zusammenwirken von Bundesagentur und Kommunen sozusagen ein übergeordnetes Dach und übrigens auch die Vergleichbarkeit zwischen den beiden Wegen der Leistungserbringung, dem Regelfall und dem Ausnahmefall der Option, sicherstellen.
Wir haben vernünftige Lösungsmechanismen bei Konfliktfällen. In der letzten Phase der Gesetzgebung haben wir bei einem kritischen Punkt, der Feststellung der Erwerbsfähigkeit, eine, wie ich finde, sehr weise Entscheidung getroffen, indem wir den Sozialmedizinischen Dienst der Rentenversicherung in das Verfahren eingebunden haben. Insgesamt bin ich also mit dem, was wir hier auf den Weg bringen, sehr zufrieden.
Hinsichtlich der Optionskommunen - das will ich hier noch sagen - ist für uns Liberale besonders erfreulich, dass die Entfristung gelungen ist. Es war für uns ein zentraler Punkt, dass - jetzt nicht nervös werden, Hubertus Heil - für 41 bis 43 neue Kommunen,
je nach dem, wie die Gebietsreform in Sachsen läuft - deswegen nenne ich die 43; ansonsten wird an der Zahl 110 nicht gerüttelt -, die Möglichkeit, zu optieren, besteht.
Das Regel-Ausnahme-Verhältnis bleibt gewahrt. Die Länder haben großen Einfluss auf die Verteilung der Optionskommunen, aber - das sage ich auch - sie stehen jetzt auch in der Verantwortung. Ich sage das vor dem Hintergrund, dass man zuletzt einen gewissen Run auf die Option feststellen konnte. Für mich ist wichtig: Wir haben in einer diese Gesetzgebung begleitenden Verordnung klare Kriterien festgelegt, die sicherstellen, dass die Optionen nach Befähigung und nicht nach politischer Couleur vergeben werden. Das heißt für mich: Der Wettbewerb zwischen den Modellen der Leistungserbringung ist mit dem heutigen Tag nicht zu Ende, sondern er besteht fort. Ich glaube, dass wir, gerade weil die besten Kommunen optieren und als Leuchttürme in unserer arbeitsmarktpolitischen Landschaft stehen werden, auch auf Dauer einen wohltuenden, einen effizienzsteigernden Wettbewerb zwischen den Systemen werden beobachten können.
Ganz wichtig ist: Es gibt endlich auch Sicherheit für die Mitarbeiter in den Argen und in den Optionskommunen. Es ist wichtig, dass auch an dieser Front Ruhe einkehrt, dass keine unnötigen Personalbewegungen mehr stattfinden. Insgesamt sind wir also auf einem guten Wege.
Was die getrennte Trägerschaft anbelangt, muss man sagen: Die getrennte Aufgabenwahrnehmung wird in Zukunft nicht mehr möglich sein. Aber wir haben immerhin - das finde ich auch gut - eine längere Übergangsfrist für diejenigen Kommunen verabredet, die möglicherweise eine Option anstreben, nämlich bis zum Ende des Jahres 2011.
Das ist gut. Das eröffnet auch diesen Kommunen noch die Möglichkeit, sich neu zu orientieren.
Insgesamt lässt sich feststellen - ich will das Verbindende hervorheben -: Alle von uns hätten weitere Wünsche gehabt, was man in diese Gesetzgebung noch hätte einfließen lassen können. Am Ende bleibt: Wir haben gemeinsam eine Lösung gefunden und vorgelegt, auf die wir auch gemeinsam stolz sein dürfen; das sollten wir an diesem Tag herausstellen. Auch wenn es manchmal hakt, am Ende geht es doch.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
Präsident Dr. Norbert Lammert:
Das Wort erhält nun die Kollegin Sabine Zimmermann, Fraktion Die Linke.
Sabine Zimmermann (DIE LINKE):
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr Kolb, wenn Sie sagen: ?Was länger dauert, wird umso besser?, dann sagen wir: Was nicht passt, wird von Ihnen passend gemacht. Denn das war der Grundsatz, nach dem Sie in den letzten Jahren gehandelt haben.
Vor rund zweieinhalb Jahren hat das Bundesverfassungsgericht festgestellt, dass die Arbeitsgemeinschaften aus Bundesagentur und Kommunen nicht mit der Verfassung vereinbar sind - ausreichend Zeit, um sich Gedanken zu machen, welche Konsequenzen und Schlüsse man aus dem Urteil ziehen sollte, um die Arbeitsverwaltung verfassungskonform zu gestalten, aber auch bestehende Mängel in der Betreuung und Vermittlung von Langzeiterwerbslosen zu beseitigen.
Was ist stattdessen passiert? Weder die Vorgängerregierung noch die aktuelle Regierung hatten Interesse daran, sich ernsthaft mit inhaltlichen Fragen der Arbeitsmarktpolitik zu befassen bzw. die Personen in den Mittelpunkt zu stellen, um die es eigentlich gehen sollte, nämlich die vielen erwerbslosen Menschen, die es in unserem Land leider gibt.
Anstatt die Arbeitsverwaltung so zu organisieren, dass sie dem Grundgesetz entspricht, hat man sich dafür entschieden, das Grundgesetz an die Realität anzupassen. Ich frage Sie: Wo leben wir denn, dass wir das Grundgesetz an all dies anpassen? Wenn man in einem Spiel nicht gut genug ist oder es nicht richtig versteht und nur selten oder nie gewinnt, ändert man einfach die Spielregeln, und das Problem ist gelöst. So handeln Sie, meine Damen und Herren.
Doch hier handelt es sich leider nicht um ein Spiel. Es geht um das Schicksal und die bittere Realität von Millionen erwerbslosen Menschen. Durch die vorliegenden Gesetzentwürfe werden die Strukturfehler des Systems Hartz IV überhaupt nicht beseitigt.
Nach wie vor gibt es die Einteilung der arbeitslosen Menschen in zwei Klassen, nämlich in die, die das Glück haben, Anspruch auf Betreuung nach dem SGB III zu haben, und die, die diesen Anspruch schon verbraucht haben und in Hartz IV abrutschen. Diese Ungleichbehandlung, meine Damen und Herren, ist unerträglich. Das nehmen wir als Linke nicht hin.
Auch Frau Ministerin von der Leyen hat dieses Thema vorhin angesprochen. Ihr Slogan war: Hilfe aus einer Hand. Derzeit und auch in Zukunft werden es aber viele Hände sein, die ganz unterschiedlich geführt und mit unterschiedlich viel Geld gefüllt werden. Es bestehen Strukturen, bei denen es schwerfällt, den Überblick zu behalten, sowohl für die Erwerbslosen als auch für die Beschäftigten der Argen und Kommunen, die im Übrigen nicht zu beneiden sind. Sie befinden sich nämlich schon seit vielen Jahren in einem dauerhaften Reform- und Experimentierprozess mit ungewissem Ausgang. Das haben Sie in den letzten Jahren veranlasst, meine Damen und Herren.
Diese unübersichtlichen Strukturen sollen nun durch ein ?Weiter so!? aufrechterhalten oder sogar noch ausgebaut werden. Die Kommunen haben im Moment die Euro-Zeichen in den Augen. Angesichts des bevorstehenden Streichkonzerts von Frau Ministerin von der Leyen in der Arbeitsmarktspolitik werden es jedoch bald Tränen sein.
Durch die Erhöhung der Zahl der kommunalen Träger wird es für die betroffenen Menschen noch schwerer, das System zu durchblicken, und es wird zunehmend ein Glücksspiel werden, wie gut man betreut und beraten wird, welche Leistung oder Förderung man erhält oder auch nicht. Die Linke zweifelt daran, ob Sie diesen arbeitsmarktpolitischen Flickenteppich überhaupt noch im Griff haben werden. Jeder erwerbslose Mensch in diesem Land, egal, wo er wohnt, ob im Norden oder im Süden, muss durch die Arbeitsmarktpolitik dieselben Möglichkeiten erhalten. Mit den vorliegenden Gesetzentwürfen wird der begonnene falsche Weg fortgeführt und ausgebaut.
Ich will auf die örtlichen Beiräte eingehen. Die Funktion der örtlichen Beiräte bleibt auf unverbindliche und symbolische Beratung beschränkt. Die Beiräte sind deshalb nicht in der Lage, gegen Missbrauch oder Verdrängungseffekte zum Beispiel im Rahmen der Ein-Euro-Jobs vorzugehen, und sie haben kein Vetorecht. Zudem ist auch keine Vertretung von Betroffenen vorgesehen.
Zusammenfassend muss man feststellen, dass durch die vorliegenden Gesetzentwürfe die Einteilung von arbeitslosen Menschen in zwei Klassen Armut und Stigmatisierung im Bereich von Hartz IV ausgebaut werden und dass nicht nach einer Lösung gesucht wurde, wie eine sinnvolle und sachlich richtige Betreuung und Vermittlung aussehen könnte. Sinn und Zweck von Hartz IV bleiben weiterhin die Drangsalierung von erwerbslosen Menschen und die Disziplinierung von Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern im Betrieb. Deshalb lehnt die Linke die Entwürfe in Gänze ab.
Wir fordern, dass endlich über die inhaltlichen Probleme der Arbeitsmarktpolitik in Deutschland gesprochen wird und Sie eine bessere Arbeitsmarktpolitik für die erwerbslosen Menschen in diesem Land machen.
Durch das jüngste Kahlschlagprogramm wird mir aber gezeigt, dass das wahrscheinlich ein frommer Wunsch bleiben wird.
Danke.
Präsident Dr. Norbert Lammert:
Das Wort erhält nun der Kollege Karl Schiewerling für die CDU/CSU-Fraktion.
Karl Schiewerling (CDU/CSU):
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine Damen und Herren! Die Zusammenlegung von Arbeitslosenhilfe und Sozialhilfe vor etwas mehr als fünfeinhalb Jahren war die größte steuerfinanzierte Sozialleistung, und das war richtig. Ich sage Ihnen: Sie war unter dem Strich unverzichtbar, und sie bleibt unverzichtbar.
Bezogen auf dieses System wurde in den letzten fünf Jahren viel dazugelernt. Weil es völlig neu war, dass Kommunen und die Agentur für Arbeit plötzlich in einer gemeinsamen Trägerschaft zusammenarbeiten sollten, musste viel hinzugelernt werden. Man hat sich sozusagen wie zwei Igel angenähert: ganz vorsichtig. - Vor allen Dingen hat man die gegenseitigen Defizite kennengelernt. Über die Chancen, die sich daraus ergeben und die sich im Laufe der letzten Jahre immer mehr herausgestellt haben, hat man erst viel später gesprochen.
Dass wir heute überhaupt eine solche Debatte führen und die Verfassung mit der notwendigen Mehrheit ändern wollen, verdanken wir dem Bundesverfassungsgericht, das am 20. Dezember 2007 in einem Urteil entschieden hat, dass genau diese Zusammenarbeit - so, wie wir sie organisiert haben - offensichtlich nicht mit dem Grundgesetz vereinbar ist. Nachdem viele unterschiedliche Lösungswege vorgeschlagen wurden, liegen dem Deutschen Bundestag heute ein Gesetzentwurf von CDU/CSU, FDP und SPD, mit dem die notwendige Verfassungsmäßigkeit hergestellt wird, und der Entwurf eines Begleitgesetzes vor, in dem die zukünftigen Regelungen der Zusammenarbeit beschrieben werden.
Diese Jobcenter-Reform - das sage ich sofort -, die wir heute durchführen, ist ein erster Meilenstein auf dem Weg zu einer noch effektiveren Arbeitsmarktpolitik und die erste Etappe für eine inhaltliche Runderneuerung der Grundsicherung. Mit dieser Jobcenter-Reform verfolgen wir nur ein Ziel: die Schaffung der Rahmenbedingungen dafür, dass Langzeitarbeitslose wieder in Beschäftigung kommen, und zwar möglichst in den ersten Arbeitsmarkt.
Das, was wir heute machen, ist das Ergebnis einer großen Kraftanstrengung; das ist richtig. Deswegen will auch ich in meiner Eigenschaft als Verhandlungsführer der CDU/CSU-Fraktion den Partnern und den Mitwirkenden, unserer Bundesministerin Frau Dr. Ursula von der Leyen, ihrem Staatssekretär, Herrn Hoofe, und seinen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern danken. Ich danke sehr herzlich den Kolleginnen und Kollegen der FDP, Herrn Kolb, der SPD, Herrn Kollegen Heil, den Mitstreitern aus den Bundesländern und nicht zuletzt meinem Kollegen Max Straubinger.
Die große Verantwortung für die Menschen in der Grundsicherung hat uns gemeinsam das wichtige Etappenziel erreichen lassen. Verwaltungen sind kein Selbstzweck; sie haben den Menschen zu dienen. Die Jobcenter-Reform richtet sich darum an den Bedürfnissen der Menschen aus: Hilfe aus einer Hand, aber die Behörde bleibt angebunden an ihre entsendenden Träger und an diejenigen, die sie tragen. Sie bleibt angebunden an die Kommune und an die BA.
In den letzten Jahren musste viel zu viel Energie aufgewandt werden, um behördeninterne Probleme lösen zu können. Deswegen ist es, glaube ich, wichtig, dass wir von jetzt an sehr konsequent die Menschen in den Mittelpunkt stellen. Die Grundvoraussetzungen dafür werden wir heute schaffen.
Erstens. Das Prinzip ?Hilfe aus einer Hand? bleibt der bewährte und zielführende Weg. Sie wird durch die Grundgesetzänderung ermöglicht.
Zweitens. Die optimale Hilfe durch Fördern und Fordern wird konsequent fortgeführt und rechtssicher ausgestaltet. Wir setzen dabei klar auf die lokalen Kompetenzen vor Ort. Die bisherigen Optionskommunen werden entfristet, und 41 weitere Optionskommunen kommen hinzu. Ich halte das für einen wichtigen Schritt. Lassen Sie mich sehr deutlich sagen: Das hat viel mit unserem Föderalismus und dem Prinzip der Subsidiarität zu tun; es hat nichts mit einem Flickenteppich zu tun. Augenscheinlich ist die Option so interessant, dass selbst Kommunen, in denen die Linken mitregieren, optieren wollen. Ich empfehle Ihnen dringend, sich einmal die Frage zu stellen, warum dies der Fall ist.
Drittens. Bund, Länder und Kommunen agieren in Zukunft als verantwortliche Partner auf Augenhöhe. Das ist ein wichtiger Punkt; denn es hat in den vergangenen sechs Jahren immer wieder zu Problemen geführt, inwieweit man gleichberechtigt und auf Augenhöhe zusammenarbeitet. Das schaffen wir. Der Bund behält seine Richtlinienkompetenz. Ich denke, dass einer der zentralen Punkte dieser Reform den Teil betrifft, der am ehesten unten wegbricht.
Wir werden eine völlig neue Steuerung schaffen. Wir werden nicht mehr durch Detailvorgaben bis ins Letzte steuern, sondern durch ein vernünftiges Benchmarking mit vergleichbaren Zahlen. Damit beenden wir die Diskussion im Konkurrenzwettbewerb zwischen Optionskommunen und Jobcentern und ermöglichen damit Vergleichbarkeit. Letztendlich dient sie allen als gemeinsamer Ansporn, die Dinge gut zu machen.
Ich denke, die Reform führt zu guten Ergebnissen. Ich bin fest davon überzeugt, dass wir den Menschen damit konkret helfen können. Dazu zählt auch, dass wir den Betreuungsschlüssel verbessern. Ich halte die Entscheidung, die wir getroffen haben, für wichtig; denn eine weitere Erfahrung der letzten fünf Jahre ist, dass es immer mehr darauf ankommt, den betroffenen Menschen individuell zu helfen. Dabei helfen keine Pauschalprogramme; notwendig ist die unmittelbare, direkte Zuwendung zu den Menschen. Deswegen ist auch diese Entscheidung von zentraler Bedeutung.
Aber wie ich vorhin gesagt habe: Es ist die erste Etappe. Die nächsten beiden Etappen werden so aussehen, dass wir uns im Herbst dieses Jahres mit den Regelsätzen und den Hinzuverdienstgrenzen zu beschäftigen haben. Aufgrund des Bundesverfassungsgerichtsurteils vom 9. Februar dieses Jahres stehen dabei die Interessen und die Lebenssituation der Kinder und der Bildungsauftrag für die Kinder, die im Leistungsbezug der Grundsicherung sind, im Mittelpunkt. Damit, liebe Frau Kramme, geht es eben nicht um weniger Geld für Bildung, sondern um mehr.
Es wird genau zu prüfen sein, wie wir die Mittel, die längst vorgesehen sind, an der richtigen Stelle einsetzen, nämlich so, dass sie den Kindern im Leistungsbezug tatsächlich zugute kommen.
Wenn es um die Frage der Hinzuverdienstgrenzen geht, werden wir auch darüber zu reden haben, wie wir das Lohnabstandsgebot einhalten und sicherstellen, dass diejenigen, die arbeiten, mehr haben, als diejenigen, die nicht im Erwerb sind, damit die Leistungsbereitschaft in Deutschland erhalten bleibt und die Erzieherinnen und Kindertagesstättenleiterinnen ebenso wie die Krankenschwester und alle anderen merken, dass sich Arbeit auch bei einem geringeren Einkommen lohnt.
Meine Damen und Herren, der dritte Baustein, den wir im Frühjahr nächsten Jahres angehen werden, ist die Umstrukturierung der arbeitsmarktpolitischen Instrumente und damit der Hilfsmittel, die notwendig sind, um Menschen in Beschäftigung zu bringen. An diesem zentralen Punkt wird deutlich, wofür das SGB II eigentlich geschaffen wurde. Es wurde geschaffen, um den Menschen, die der besonderen Hilfe bedürfen, alle Hilfen an die Hand geben zu können, damit sie wieder in den ersten Arbeitsmarkt kommen. Aber wohlgemerkt: Die Grundsicherung nach dem SGB II schafft keine Arbeitsplätze, sondern will helfen; sie fängt die Menschen in einer Grundsicherung auf. Dann müssen wir ihnen mit aller Kraft helfen, wieder in Beschäftigung zu kommen. Deswegen steht die Organisation dieser Hilfsmittel, dieser, wie wir sagen, arbeitsmarktpolitischen Instrumente im Mittelpunkt der nächsten Schritte, die wir gehen werden.
Meine Damen und Herren, ich bin fest davon überzeugt, dass wir mit der heutigen Entscheidung erreichen werden, für Hartz IV, wenn ich das etwas vulgär so sagen darf, oder die Grundsicherung für Arbeitsuchende, um es neutral auszudrücken, eine neue Perspektive zu eröffnen. Ich bitte Sie deswegen sehr herzlich, dem Gesetzentwurf heute zuzustimmen, weil das Gesetz letztendlich den Menschen dienen wird.
Präsident Dr. Norbert Lammert:
Das Wort erhält nun die Kollegin Brigitte Pothmer für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
Brigitte Pothmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich finde es richtig schön und freue mich, dass die Einigung über die Jobcenter heute parteiübergreifend gepriesen wird. Es ist in der Sache auch eine gute Einigung, das will ich gar nicht verhehlen. Die Einigung ist in der Sache vor allen Dingen für die Arbeitslosen gut, und deswegen ist sie auch ein Erfolg.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wenn aber alle sich heute zu Müttern und Vätern des Erfolgs aufschwingen und so tun, als hätten sie so viel dazu beigetragen, dann stellt sich doch die ganz schlichte, logische Frage: Warum sind wir nicht schon vor zwei Jahren durchs Ziel gegangen?
Selten ist eine Niederlage so euphorisch gefeiert worden, wie es jetzt die Regierungskoalition tut; denn in ihrem Koalitionsvertrag steht ja noch, dass ihr Ziel darin besteht, die Jobcenter zu zerschlagen.
Wirklich zu diesem Erfolg beigetragen haben die Ausdauer der Kommunen, der Länder und der Träger und die Argumentation der Fachleute. Es gab nur wenige Parlamentarierinnen und Parlamentarier, die diesen Erfolg wollten.
Wir unterstützen die Reform der Jobcenter, die von Anfang an - Sie werden sich erinnern - das Ziel der Grünen nach dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts war. Deswegen werden wir dieser Grundgesetzänderung auch zustimmen.
- Herr Kolb, cool down, Baby!
Ihrem Entwurf eines Begleitgesetzes werden wir aber nicht zustimmen. Dieser ist von einem einzigen Wunsch geprägt. Er ist von dem Wunsch geprägt, die politischen Geländegewinne der jeweils anderen Seite so gering wie möglich zu halten. Dieses Verhalten hat dazu geführt, dass sehr viele Chancen für die Betroffenen vertan worden sind.
Warum - das frage ich Sie, Frau Kramme - konnte Ihre Seite sich nicht dazu entscheiden, den Kommunen Wahlfreiheit zu geben und sie selbst entscheiden zu lassen, in welcher Organisationsstruktur sie die Langzeitarbeitslosen betreuen wollen?
Stattdessen steht jetzt eine willkürlich gegriffene Zahl im Entwurf Ihres Begleitgesetzes. Ich wünschte mir, Sie würden einmal in der Sache begründen, warum Sie auf 110 Optionskommunen kommen. Das ist nichts anderes als parteipolitische Gesichtswahrung. Dann machen Sie auch noch ein Zweidrittelquorum zur Voraussetzung, um sich überhaupt als Optionskommune bewerben zu können. Das alles sind nichts als Verhinderungsinstrumente, und diese Verhinderungsinstrumente untergraben die kommunale Entscheidungshoheit.
Aber nicht nur bei den Optionskommunen zeigen Sie sich halbherzig, auch bei den Jobcentern werden dringend notwendige Korrekturen außen vor gelassen. Wir wissen seit Jahren, dass die kommunalen Kompetenzen dringend gestärkt werden müssen, wenn Agentur und Kommunen tatsächlich auf Augenhöhe arbeiten sollen. Was machen Sie stattdessen? Stattdessen reduzieren Sie die kommunale Seite auf die Bereiche der Kosten der Unterkunft und auf die flankierenden Sozialleistungen. Das geht an den Erfordernissen - Stichwort: Hilfe aus einer Hand - vorbei.
Jetzt will ich etwas zu dem Betreuungsschlüssel sagen. Ja, ich finde es gut, dass der Betreuungsschlüssel zum ersten Mal in einem Gesetzentwurf festgeschrieben worden ist. Aber solange die Formulierung so offen bleibt, wie sie jetzt im Gesetzentwurf steht, ist es ganz einfach, auch anderes Personal mit einzurechnen.
Arbeitgeberservice, Empfangspersonal, Aktenboten - sie alle können in die Berechnung des Betreuungsschlüssels einfließen. Solange dies so ist, wird sich qualitativ an der Betreuung von Arbeitslosen nicht wirklich etwas ändern. Wenn Sie bei den Ausschussanhörungen zugehört haben, dann wissen Sie, dass genau in dieser Frage eine Präzisierung gefordert worden ist. Diese sind Sie schuldig geblieben. Ich halte das nicht für einen Zufall.
Zusammengefasst: Ihre Reform ist mutlos und lückenhaft.
Deswegen, Herr Kolb, bei aller Liebe:
Wir werden ihr nicht zustimmen. Wir werden uns in dieser Frage enthalten.
Lassen Sie mich nun bitte etwas zu dem Sparpaket sagen, weil dieses Sparpaket die Grundsicherung zusätzlich torpediert. Frau von der Leyen, Sie wollen die Mittel für die Arbeitsmarktpolitik drastisch reduzieren, und zwar auf das Niveau von 2006. Das heißt, dass zukünftig nur noch 4,5 Milliarden Euro jährlich für Qualifizierung und Integrationsarbeit zur Verfügung stehen werden. Das ist eine satte Reduzierung, ein Minus von 30 Prozent. Es gibt wirklich keine andere Gruppe, die derartig geschröpft worden ist wie die Arbeitsuchenden. Das ist nicht nur ungerecht, Frau von der Leyen, das ist auch eine volkswirtschaftliche Milchjungenrechnung;
denn Sie werden das Mehrfache der Mittel, die Sie jetzt nicht in die Arbeitslosen investieren, für die Alimentierung der Arbeitslosen zahlen. Nichts ist teurer als Arbeitslosigkeit.
Sie haben immer betont, dass bei Bildung nicht gestrichen wird. Warum gilt das nicht für die Arbeitslosen?
Was ist denn Investition in Bildung anderes als Qualifizierung, Umschulung und Förderung von Arbeitslosen? Sie selber haben immer vor dem Horrorszenario gewarnt, dass wir auf der einen Seite einen exorbitanten Fachkräftemangel haben, auf der anderen Seite gleichzeitig eine hohe Arbeitslosigkeit. Ich frage Sie: Warum unterlassen Sie es dann, die Arbeitslosen jetzt zu Fachkräften auszubilden? Sie haben immer die Ausgewogenheit des Sparpakets betont. Sie haben das Sparpaket damit verteidigt, dass Ihr Haushalt zwar die Hälfte des Bundesetats ausmacht, aber Sie nur zu einem Drittel an dem Sparpaket beteiligt sind. Die Frage der Gerechtigkeit, Frau von der Leyen, stellt sich aber nicht bei den betroffenen Haushalten, die Frage der Gerechtigkeit stellt sich bei den betroffenen Menschen. Auf diesem Sparpaket klebt der kalte Stempel der FDP.
Sie hätten sich vor Ihre Schutzbefohlenen stellen müssen, Frau von der Leyen. Sie haben sie aber im Stich gelassen.
Ich frage Sie: Auf welches Alarmsignal warten Sie noch, wenn sich jetzt schon Millionäre bei der Regierung darüber beschweren, dass sie nicht genug Steuern bezahlen? Es war kein Linksradikaler, sondern Augustinus, der vor mehr als 1 000 Jahren gesagt hat, dass Staaten nichts als große Räuberbanden seien, wenn sie die Gerechtigkeit preisgäben.
Ich kann nur sagen: Unter diesen Umständen wird für uns Grüne die Grundsicherung ein politischer Dauerbrenner bleiben müssen.
Ich danke Ihnen.
Präsident Dr. Norbert Lammert:
Angelika Krüger-Leißner ist die nächste Rednerin für die SPD-Fraktion.
Angelika Krüger-Leißner (SPD):
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Mit dem heutigen Beschluss zur Neuorganisation der Grundsicherung ist endlich der Knoten geplatzt, der sich seit der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts um den Fortbestand der Argen und der Optionskommunen gelegt hatte.
Ich bin froh, dass wir dieses Ergebnis nach langem Ringen heute vorlegen können. Froh sind im Übrigen auch die vielen Betroffenen vor Ort, so die Mitarbeiter in der Arge Havelland und in der Optionskommune Oberhavel bei mir zu Hause. Mit diesen bin ich mir einig, dass dies ein guter Tag für die Beschäftigten ist. Vor allen Dingen ist dies ein guter Tag für alle erwerbsfähigen Hilfeempfänger in der Grundsicherung.
Das Damoklesschwert der getrennten Aufgabenwahrnehmung schwebt nicht mehr über uns. Nach langem Zickzackkurs, den auch Sie mitgemacht haben, Frau von der Leyen, gibt es nun das zukunftsfähige Modell der neuen Jobcenter. Schon der Name sagt, dass es hierbei in erster Linie um gute Beratung und Vermittlung geht, wobei alles unter einem Dach organisiert ist, also alles aus einer Hand. Das Hin und Her für die Betroffenen hört auf. Es gibt einen Ansprechpartner, der den Arbeitssuchenden zur Seite steht. Das war immer das Ziel.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, es ist klar, wenn sich die Blockadehaltung von Teilen der Koalitionsfraktionen durchgesetzt hätte, dann läge heute ein Scherbenhaufen vor uns. Die schleichende Lähmung durch Verunsicherung und Orientierungslosigkeit hätte zu einem Chaos im Bereich der Grundsicherung geführt. Stattdessen hat sich noch rechtzeitig - ich schaue nach rechts - in den Koalitionsfraktionen die Vernunft durchgesetzt.
Ich will ganz deutlich sagen: Ohne die Entsperrung der 900 Millionen Euro Eingliederungsmittel im Haushalt und ohne die Entfristung der 3 200 Stellen wäre es mit uns nicht gegangen.
Heute liegt uns ein Konsensbeschluss zur neuen Organisation der Jobcenter und Optionskommunen vor, den auch die Länder mittragen werden. Leider war das 2004 nicht der Fall. Das hätte uns so manches erspart.
Dass dieser Konsens möglich wurde, haben wir der gemeinsamen Bund-Länder-Arbeitsgruppe zu verdanken und auch dem Verhandlungsgeschick einzelner Akteure. Einige wurden schon gelobt. Herr Kolb, es ist doch ganz klar, dass ich an dieser Stelle unserem Verhandlungsführer, Hubertus Heil, ganz herzlich danke. Hubertus, ohne dich wäre es nicht so erfolgreich verlaufen. Danke!
Wir konnten zwar nicht hundertprozentig unsere Vorschläge, die wir schon vor über einem Jahr mit dem ZAK-Modell vorgelegt haben, umsetzen, aber vieles von dem ist nun Bestandteil des Gesetzespaketes.
Was ist uns so wichtig an diesem Paket? Erstens haben wir Entscheidendes für die Verbesserung der Vermittlung erreicht. Mit dem verbindlichen Betreuungsschlüssel von 1 : 75 bzw. 1 : 150 wird es den Fallmanagern - ich verwende dieses Wort ganz bewusst, Frau Pothmer - besser gelingen, individueller und passgenauer zu beraten, zu begleiten und zu vermitteln.
Ich mache kein Geheimnis daraus, dass wir dies auch bei anderen Zielgruppen für erforderlich halten. Ich nenne nur die 645 000 Bedarfsgemeinschaften bei den Alleinerziehenden, die Ihnen, Frau Ministerin, doch immer so erwähnenswert sind, die älteren Langzeitarbeitslosen und die Schwerbehinderten.
Ohne Frage können wir mit dem neuen Betreuungsschlüssel ein Stück mehr Qualität in die Vermittlung bringen. Aber zwei Dinge gehören noch dazu - das dürfen wir nicht vergessen -, zum einen eine Qualifizierungsoffensive für die Mitarbeiter in den Jobcentern und in den Optionskommunen; denn nur wer gut ausgebildet und motiviert ist, kann sich den Anforderungen stellen. Zum anderen gehört zum Prinzip der Leistung aus einer Hand auch eine volle Hand.
Da gehen Sie, Frau von der Leyen, mit Ihren Vorschlägen zum Sparpaket aber in die andere Richtung. Sie wollen nämlich genau bei denjenigen einsparen, die ohnehin schon nicht sehr viel haben und auf staatliche Hilfe angewiesen sind. Mit einem Lächeln und Ihrem Rotstift gehen Sie an die Rentenversicherungsbeiträge und das Elterngeld heran und machen Pflicht- zu Ermessensleistungen, um in die aktive Arbeitsmarktpolitik ungehindert mit Kürzungen eingreifen zu können. Das ist ziemlich schäbig; denn das wird gerade die Menschen treffen, denen Sie schon vor Monaten eine Vermittlungsoffensive versprochen haben, nämlich jungen Menschen und Alleinerziehenden.
Ich denke, das hat mit sozialer Gerechtigkeit nichts zu tun. Diese Sparpläne zulasten der Schwachen in unserem Land sind Kürzungspläne, und die müssen wir verhindern.
Zu den positiven Inhalten unseres Gesetzespakets zähle ich weiter die Verständigung aller auf den Rentenversicherungsträger in der Frage der Zuständigkeit für die Feststellung der Erwerbsfähigkeit - das ist sachgerecht -, aber auch die Verständigung auf die gemeinsame Personalvertretung für die Mitarbeiter in den Jobcentern. Gut ist, dass es uns gelungen ist, die Übergangsfrist für die bisher getrennten Aufgabenträger zu verlängern. Das ist besonders für Baden-Württemberg wichtig.
Meine Kollegin Katja Mast, die gerade ?Genau!? rief, hat sich dafür stark gemacht, dass diese Träger keine Benachteiligung erfahren und nun frei entscheiden können. Katja, ich danke dir.
Zum Letzten, zur Option, möchte ich noch einige Worte verlieren. Mit unserer Grundgesetzänderung verankern wir auch das Regel-Ausnahme-Verhältnis. Der Regelfall, nämlich mit 75 Prozent, bleibt die gemeinsame Aufgabenwahrnehmung im Jobcenter. Die 69 Optionskommunen werden nach der Entfristung auf Dauer bestehen können. Zum Kompromiss gehört auch die Erhöhung der Zahl der Optionskommunen um 41. Damit sind es 110, die - das zur Erklärung für Frau Pothmer - 25 Prozent ausmachen. Das ist eben die Ausnahme.
Darauf machen wir heute auch verfassungsrechtlich den Deckel. Mehr ist da nicht drin.
Alles in allem, denke ich, ist es ein Kompromiss, mit dem wir zufrieden sein können. Viele Kinderkrankheiten der Argen konnten wir heilen und mehr Transparenz in die Organisation bringen. Wir haben eine Reform gestaltet, die den Namen ?Reform? verdient. Jetzt bringen wir sie auf den Weg.
Danke.
Präsident Dr. Norbert Lammert:
Für die FDP-Fraktion erhält nun das Wort der Kollege Christian Ahrendt.
Christian Ahrendt (FDP):
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Kolleginnen und Kollegen! Wir ändern gleich die Verfassung. Die Hinzufügung des Art. 91 e ist sicherlich zunächst einmal, einfach betrachtet, keine Besonderheit, weil das Grundgesetz schon mehrfach Änderungen im Staatsorganisationsrecht hinter sich hat. Gleichwohl ist es eine Besonderheit, weil wir das im Nachgang zu einer verfassungsgerichtlichen Entscheidung tun, mit der uns gesagt worden ist, dass die Mischverwaltung, die auf den Weg gebracht worden war, verfassungswidrig ist. Es ist zunächst einmal ein durchaus bemerkenswerter Vorgang, wenn man sich dann nicht an eine solche Rechtsprechung hält, sondern im Nachgang dazu eine verfassungsrechtliche Änderung vornimmt. Deswegen muss klar sein, dass dies die absolute Ausnahme bleiben muss. Hier erfolgte sie für das Ziel, an der guten Idee der Arbeitsgemeinschaften und der Jobcenter auch in Zukunft festhalten zu können.
Ein zweiter Punkt, den ich an dieser Stelle nennen muss: Von dem eigentlichen Prinzip, das man in den letzten Jahren bei der Organisation unseres Staatsrechts verfolgt hat, weicht man natürlich ein Stück weit wieder ab.
Ziel war es, eine klare Aufgabenzuständigkeit zu schaffen. Das ist insbesondere ein Anliegen der Föderalismuskommission I gewesen. Der Bürger sollte wissen, wer zuständig ist für welche Aufgaben. Mischverwaltung vermischt Zuständigkeiten und schafft hinsichtlich der Zuordnung bzw. der Wahrnehmung, wer für das, was zu tun ist, tatsächlich verantwortlich ist, eine gewisse Unklarheit. Auch deswegen kann es nur eine Ausnahme bleiben, eine solche Änderung, wie wir sie heute beschließen wollen, vorzunehmen.
Richtig ist die Änderung deswegen, weil ihr Vorzug eben darin liegt, dass durch die Zusammenlegung von Sozialhilfe und Arbeitslosengeld I Langzeitarbeitslosen geholfen wird, aus Arbeitslosigkeit herauszukommen - das war ja ursprünglich Ziel der Hartz-Reformen -, und die Arbeitsverwaltung ein Stück weit näher an die Menschen herangebracht wird. Von daher begrüße ich es, dass wir 41 Optionskommunen dazubekommen, wenn wir uns auch eine wesentlich stärkere Ausdehnung dieser Möglichkeit gewünscht hätten. Ein Grund für den Erfolg, den die Arbeitsgemeinschaften und die Optionskommunen in den letzten Jahren erzielen konnten, liegt nämlich darin, dass die Arbeitsverwaltungen durch die Reformen näher an die Menschen herangekommen sind.
Deswegen tragen wir die Verfassungsänderung mit. Deswegen halten wir sie für richtig. Wir sagen aber ganz deutlich: Dieser Weg muss die Ausnahme bleiben.
Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.
Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt:
Nächste Rednerin ist die Kollegin Katja Kipping für die Fraktion Die Linke.
Katja Kipping (DIE LINKE):
Frau Präsidentin! Liebe Damen und Herren! Mit diesem Gesetzentwurf bringen wir die Kommunen in eine widersprüchliche Situation. Sie müssen sich entscheiden: Entweder werden sie Optionskommune, übernehmen also die Betreuung der Langzeiterwerbslosen in Eigenregie - und das in Zeiten, in denen der Bund immer mehr Aufgaben auf die Kommunen abwälzt, gleichzeitig aber die Steuereinnahmen der Kommunen deutlich sinken -, oder aber sie entscheiden sich für die Zusammenarbeit mit der real existierenden Bundesagentur, die wahrlich nicht in bestem Zustand ist.
Vor solch eine Alternative gestellt, haben die Kommunen eigentlich keine richtige Wahl.
So, wie die Bundesagentur nach den Hartz-Reformen aufgestellt ist, die die meisten der hier vertretenen Parteien zu verantworten haben, ist es, wie ich finde, sogar zutiefst verständlich, dass sich manche Kommune dafür entscheidet, Optionskommune zu werden. Infolge der Hartz-IV-Reform ist die Bundesagentur nämlich vor allen Dingen betriebswirtschaftlich ausgerichtet worden. Das heißt, jeder, der eine Dienststelle der BA betritt, wird als Kunde in Kategorien eingeteilt, in seinen Rechten durch Sanktionen beschnitten, und die Mitarbeiter der BA sind einer ständigen Evaluation unterworfen, stehen also unter Vergleichsdruck. Und wehe, sie sparen nicht genauso viel durch Sanktionen ein wie das Nachbarjobcenter! All das ist Ausdruck für eine betriebswirtschaftliche Ausrichtung.
Wir Linke meinen jedoch: Die Bundesagentur muss wieder einen sozialpolitischen Auftrag erhalten. Für uns ist deswegen ganz klar: Es darf nicht mehr um Evaluationskerngrößen gehen, sondern darum, dass jeder, der eine Erwerbsarbeit sucht, dabei auch bestmöglich unterstützt wird. Das heißt, dass wir sicherstellen müssen, dass für jeden das Grundrecht auf ein Existenzminimum gesichert wird, wie es uns ja auch das Bundesverfassungsgericht ins Stammbuch geschrieben hat.
Anders als die Kommunen könnten wir als Gesetzgeber sehr wohl die Ausrichtung der Bundesagentur verändern. Ich glaube, wenn Sie unsere Vorschläge aufgreifen würden, würde es vielen Kommunen leichter fallen, sich für die Zusammenarbeit mit der Bundesagentur zu entscheiden. Das ändert nun nichts an der grundsätzlichen strukturellen Entscheidung, der wir uns heute stellen müssen.
In diesem Zusammenhang möchte ich noch einmal auf die Begleitforschung zurückkommen, die im Auftrag der Bundesregierung jahrelang durchgeführt worden ist. Durch sie kam schon sehr Kritisches zur realen Praxis der Optionskommunen zum Vorschein. Im Abschlussbericht findet sich zum Beispiel eine entscheidende Zahl. Da heißt es, wenn man sich deutschlandweit für eine Strukturform, zum Beispiel für die Arge-Struktur entschiede, dann wären Einsparungen von bis zu 3,3 Milliarden Euro möglich. Das ist ein Einsparpotenzial, das Sie sich entgehen lassen, weil Sie sich für das Modell ?Flickenteppich? entscheiden. Ich finde, das ist eine falsche Entscheidung.
In den Anhörungen im Ausschuss wurden sehr viele detaillierte Kritikpunkte angesprochen. Ich kann aus Zeitgründen leider nur zwei kurz erwähnen.
Erster Kritikpunkt: Der vorliegende Gesetzentwurf sieht keine Beschäftigungsgarantie für die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter vor. Das heißt, es gibt für sie weiterhin eine unsichere Arbeitssituation. Sie glauben doch nicht ernsthaft, dass das keine Auswirkungen auf die Beratungsqualität hat. Die Unsicherheit für die Beschäftigten wird die Beratungsqualität natürlich deutlich verschlechtern. Ich finde, hier hätten Sie nachbessern müssen.
Zweiter Kritikpunkt: die vorgesehenen öffentlichen Beiräte. Ich finde es sehr ärgerlich, dass in diesen Beiräten die Vertretung von Betroffenen nicht vorgesehen ist. Auf die Expertise des Alltags und auf die Erfahrungen von Menschen, die Hartz IV am eigenen Leib erfahren, können wir nicht verzichten.
Um es zusammenzufassen. Die heutigen Reformen, die die Mehrheit hier beschließen wird, gehen am eigentlich Notwendigen vorbei. Wir als Linke finden, Folgendes tut in der Auseinandersetzung mit der Erwerbslosigkeit not: erstens einen Mindestlohn einzuführen, zweitens Sanktionen und Bedarfsgemeinschaften abzuschaffen und drittens den Regelsatz deutlich zu erhöhen. Ferner brauchen wir mehr öffentliche Beschäftigung und eine Umverteilung der vorhandenen Erwerbsarbeit durch konsequente Arbeitszeitverkürzung.
Herzlichen Dank.
Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt:
Das Wort hat nun für die CDU/CSU-Fraktion der Kollege Thomas Dörflinger.
Thomas Dörflinger (CDU/CSU):
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es ist gut, wenn wir, von wenigen Ausnahmen abgesehen, die Debatte über die Organisationsreform im Bereich des Sozialgesetzbuches II in einem Grundtenor führen, der erkennen lässt, dass wir das Ergebnis gemeinsam über Fraktionsgrenzen hinweg erreicht haben. Denn wir sollten schon den Mut haben - diesen Gedanken von Gesine Schwan greife ich gerne auf -, einerseits zuzugeben, dass die Verhandlungen nicht ganz einfach waren, und andererseits diese Organisationsreform anschließend als darzustellen, was sie ist: ein fraktionsübergreifendes Projekt.
Selbstverständlich musste jeder, Herr Kollege Kolb, von seinen Vorstellungen Abstriche machen. Aber der Kompromiss zeigt letztlich, dass wir eine Lösung gefunden haben, die von allen getragen wird und die den Problemen dieses Landes gerecht wird.
Ich will in diesem Zusammenhang bemerken, dass der Beitrag von Frau Pothmer gestern im Ausschuss über die Bewertung des Gesetzesvorhabens etwas konstruktiver ausgefallen ist als ihre Darstellung heute im Plenum,
nicht nur im Hinblick auf die Verfassungsänderung, sondern auch auf die Bewertung des SGB II.
Ich stelle fest: Es gibt zwischen Regierung und Opposition durchaus, auch wenn Sie sich nicht zu einer Zustimmung entschließen können, eine ganze Reihe von Gemeinsamkeiten. Das will ich durchaus anerkennen.
Ich will allerdings ebenfalls sagen, dass mir auch nach dem Beitrag von Frau Kipping nach wie vor rätselhaft geblieben ist, wie sich die Linkspartei dieses Projekt vorstellt. Ich will daran erinnern, dass uns vor einiger Zeit in diesem Zusammenhang zwei Anträge vorgelegen haben. In dem ersten wurde die Forderung ?Hartz IV abschaffen? und in dem zweiten die Forderung ?Regelsätze auf 500 Euro erhöhen? erhoben. Ich frage mich mit Blick auf den parlamentarischen Ablauf: In welcher Reihenfolge sollen wir das denn machen?
Sollen wir die Regelsätze erst erhöhen und dann das Sozialgesetzbuch II abschaffen, oder sollen wir erst das Sozialgesetzbuch II abschaffen und dann die Regelsätze erhöhen? Aus logischen Gesichtspunkten wird das Letztere ein bisschen schwierig.
Unser Ansatz war, Hilfe aus einer Hand und Hilfe unter einem Dach zu ermöglichen. Mit der heute vorliegenden Reform wird dies erreicht. Es ist Anlass, die fraktionsübergreifende Zusammenarbeit an dieser Stelle noch einmal lobend hervorzuheben.
Der CDU/CSU-Fraktion war wichtig, dass wir nicht nur die Zahl der bestehenden 69 Optionskommunen entfristen und verfassungsrechtlich absichern, sondern dass wir dem Wunsch vieler Landkreise entgegenkommen, von der Option zusätzlich Gebrauch zu machen. Wir werden also die Zahl von 69 nach dem im Normtext verankerten Regel-Ausnahme-Verhältnis von einem Viertel zu drei Viertel nun auf 110 erhöhen.
Es war mir wichtig, dass wir die in der durchgeführten Anhörung geäußerte Anregung befolgt haben und insbesondere die Übergangsfristen aus baden-württembergischer Sicht noch einmal unter die Lupe genommen und den Gesetzentwurf dementsprechend verbessert haben. Ich habe mich gestern Abend mit den Landräten aus Reutlingen und dem Alb-Donau-Kreis in Baden-Württemberg unterhalten, die beide vor der Frage stehen - bei dem einen geht um die Arge, bei dem anderen um die getrennte Aufgabenwahrnehmung -, wie sie das zukünftig organisieren. Sie haben beide bestätigt, dass es der richtige Ansatz war, die Übergangsfristen auf den 31. Dezember des kommenden Jahres auszudehnen. Denn wir müssen auch die Ferienregelung in Baden-Württemberg mit berücksichtigen. Es muss also einerseits für die Kolleginnen und Kollegen in den Kreistagen, die dort ehrenamtlich tätig sind, ausreichend Zeit bleiben, um dieses Beratungsverfahren sinnvoll zu führen; andererseits muss natürlich auch für die Verwaltung vor Ort ausreichend Zeit sein, das umzusetzen. Meines Erachtens ist dem mit einem Korridor bis zum Jahresende 2011 nun ausreichend Rechnung getragen.
Es geht in diesem Zusammenhang auch nicht um einen Flickenteppich, sondern darum, dass wir durch die Zielvereinbarung eines Landkreises bzw. einer kreisfreien Stadt Kooperationen mit dem jeweiligen Bundesland und mit dem Bundesministerium für Arbeit und Soziales sicherstellen, dass wir passgenaue Lösungen erarbeiten, die auf die Situation vor Ort zugeschnitten sind.
Der Wahlkreis des Kollegen Peter Weiß und mein Wahlkreis grenzen zwar aneinander, aber der Arbeitsmarkt im Wahlkreis Emmendingen-Lahr ist ein anderer als der Arbeitsmarkt im Wahlkreis Waldshut-Hochschwarzwald. Deswegen ist es sinnvoll, wenn per Zielvereinbarung auf die je unterschiedliche Situation in den jeweiligen Landkreisen eingegangen werden kann. Deswegen bin ich zufrieden, dass dies im vorgelegten Entwurf gelungen ist.
Ich spreche einen weiteren Punkt an, der ebenfalls zu dem gehört, was uns in diesem Beratungsverfahren verband. Es sind mehrfach die 900 Millionen Euro für den Eingliederungstitel und die 3 200 Stellen bei der Bundesagentur für Arbeit angesprochen worden. Ich halte vor dem Hintergrund der hinter uns liegenden Beratungen im Ausschuss für Arbeit und Soziales fest: Es gab nach meiner Wahrnehmung unter den meisten Arbeitsmarktpolitikerinnen und Arbeitsmarktpolitikern in diesem Ausschuss keinen Dissens darüber, dass wir die 900 Millionen Euro freigeben und dass wir die 3 200 Stellen bei der Bundesagentur entfristen. Aber wir müssen natürlich auch zur Kenntnis nehmen, dass unsere Kolleginnen und Kollegen im Haushaltsausschuss, die mit einem ähnlichen Verantwortungsbewusstsein, aber vielleicht mit einem anderen Blickwinkel an die Dinge herangehen, in diesem Fall zu einem anderen Urteil gekommen sind. Schlussendlich zählt aber, dass wir uns auf eine vernünftige Lösung geeinigt haben. Deswegen sage ich: Ende gut, alles gut.
Lassen Sie mich vor dem Hintergrund einer Debatte, die wir in den vorangegangenen Wochen unter dem Stichwort ?Strategie EU 2020 für Wachstum und Beschäftigung? geführt haben, einen letzten Gedanken anschließen. Dabei haben wir uns seitens der Bundesrepublik Deutschland zur Vermeidung von Altersarmut auf einen Indikator verständigt, nämlich die Zahl der Langzeitarbeitslosen. Diese ist für uns ein wesentliches Kriterium, um Armut in unserem Lande zu messen. Deswegen ist es richtig und gut, wenn wir heute mit der Organisationsreform des Sozialgesetzbuches II die Voraussetzungen schaffen, dass die zahlenmäßige Erfassung, die Betreuung sowie die Hilfe für die Integration in den ersten Arbeitsmarkt in Zukunft besser organisiert werden können als in der Vergangenheit. Ich bedanke mich für ein konstruktives Beratungsverfahren und werbe um Zustimmung zur Einfügung des Art. 91 e in das Grundgesetz und um Zustimmung für unseren Gesetzentwurf zur Organisationsreform im Bereich des Sozialgesetzbuches II.
Herzlichen Dank.
Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt:
Liebe Kolleginnen und Kollegen, auf der Ehrentribüne hat der Parlamentspräsident der Ukraine, der Präsident der Werchowna Rada, Herr Wolodymyr Lytwyn, mit seiner Delegation Platz genommen.
Im Namen aller Kolleginnen und Kollegen des Deutschen Bundestages begrüße ich Sie sehr herzlich und wünsche Ihnen für Ihren Aufenthalt in Deutschland und für Ihr weiteres politisches Wirken alles erdenklich Gute.
Nächste Rednerin ist die Kollegin Gabriele Lösekrug-Möller für die SPD-Fraktion.
Gabriele Lösekrug-Möller (SPD):
Frau Präsidentin! Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Was haben wir in dieser Debatte nicht schon alles gehört! Wir kennen jetzt alle Väter des Erfolges. Man darf mit Blick auf das Ministerium, Frau Ministerin, sagen: Auch in Ihrem Haus hat es einen Vater des Erfolges gegeben, nicht unbedingt eine Mutter.
Es waren kluge Verhandlungen. Wir haben ein Ergebnis vorliegen, dem die SPD gern zustimmt, hat sie es doch durch ihre Aktivität und ihr Engagement ermöglicht, dass diese Lösung zustande kommt.
Ich habe mit großem Interesse, Frau Kollegin Pothmer, gehört, wie Sie Liebe von Grün an Gelb adressieren.
Ich bin gespannt, was da noch kommt.
Diesem Familiensinn will auch ich entsprechen und will heute über Ulla reden; denn Ulla arbeitet in einem Jobcenter. Ulla ist die Gewinnerin des Tages. Warum ist das so? Das will ich kurz erläutern. Ulla war befristet beschäftigt. Ulla gehört zu denen, die den Vorteil haben, dass sie jetzt eine gute Perspektive haben, und sie und ihr Team, das über viele Jahre in schwierigen Situationen arbeiten musste, wissen nun endlich, in welchem Rahmen es weitergeht.
Deshalb ist dies ein guter Tag für Beschäftigte in Jobcentern. Ein bisschen schmunzeln muss ich schon darüber, dass zukünftig auch die Optierer Jobcenter heißen. Das finde ich völlig in Ordnung, signalisiert es doch, dass etwas eintritt, was wir wollen, nämlich dass die Leistungen vergleichbar werden, dass Steuerung über alles möglich ist. Ich denke, dass damit ein Wettbewerb aufhört, wie wir ihn sonst aus dem Märchen kennen; Sie wissen das: ?Spieglein, Spieglein, an der Wand ...?. Ich glaube, damit ist Schluss - und das ist auch gut so.
Warum freut sich meine Ulla darüber hinaus? Weil sie sich sagt: Endlich können wir in einem ordentlichen Rahmen arbeiten. - Das haben sie verdient; denn ihre Arbeit ist schwierig. Ihre Arbeit ist deshalb schwierig, weil wir in den letzten Jahren im Bereich des SGB II und III kontinuierlich Veränderungen vorgenommen haben. Eigentlich ist ihre Sorge, dass ihre Arbeit unter erschwerten Bedingungen weitergeht. Auf diese Sorge komme ich gleich zu sprechen.
Was liegt hinter uns, wenn wir heute mit der Mehrheit des Hauses Ja zur Verfassungsänderung sagen? Wenn ich es recht erinnere, mussten weite Teile zum Jagen getragen werden. Ich kann mich noch erinnern, dass Anfang dieses Jahres schwerste Bedenken formuliert wurden, dass das alles nicht gehe. Bei manchen ist da Erkenntnis zum Wohle der Sache eingezogen. Das finde ich gut, und das ist in Ordnung. Die SPD hat dabei kräftig geholfen.
Was ist aber die Sorge von Ulla? Wir haben jetzt zwar eine gute Organisationsstruktur. Aber ihre Sorge ist, dass sie sich nicht mit guter Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik füllt. Diese Sorge muss ich leider teilen; denn sie ist berechtigt. Im Übrigen haben nicht nur die Mitglieder der SPD-Bundestagsfraktion diese Sorge. Auch die großen Kirchen, die Sozialverbände und die Wohlfahrtsverbände machen sich große Sorgen um die Schieflage in unserer Gesellschaft, die durch die Kürzungen, die jetzt ins Haus stehen, verschärft wird. Dazu will ich sagen: Hoffen wir auf weitere Erkenntnisgewinne! Herr Kolb, auch Sie haben das Hohelied gesungen, dass wir gemeinsam zu besseren Lösungen kommen. Dazu sage ich: Bessere Lösungen sind nur möglich, wenn Sie sich an dieser Stelle bewegen, und zwar auch im Hinblick auf das materielle Recht und das Leistungsrecht. Denn die Kürzungen, die geplant sind, bedeuten, dass jene, die nie in ihrem Leben über ihre Verhältnisse gelebt haben, für das zahlen müssen, was andere angerichtet haben. Das geht nicht.
Ich mache mir auch Sorgen,
weil Strukturen wegbrechen könnten, die wir für gute Arbeitsmarktpolitik brauchen. Wir brauchen stabile Netzwerke über die Jobcenter hinaus. Wir brauchen eine ordentliche Schuldnerberatung. Wir brauchen eine gute Familienberatung. Wir müssen gute Bildungsträger haben, damit das klappt, was unser gemeinsames Ziel sein muss, nämlich denjenigen - das sind Millionen -, die Arbeit suchen und keine finden, zu helfen, dass sie in Beschäftigung kommen.
Das, was ich zur Beschäftigung gesagt habe, verbinde ich mit einem Vorschlag an die Ministerin: Frau von der Leyen, Sie könnten sehr viele sogenannte Kunden in Jobcentern schlagartig verlieren - im positiven Sinne -, wenn zum Beispiel Aufstocken nicht mehr erforderlich wird, weil man von dem Einkommen aus Arbeit leben kann.
Wenn Arbeit in diesem Land endlich ordentlich bezahlt würde, hätte man schlagartig Zeit und damit die Möglichkeit, sich um die zu kümmern, die Arbeit suchen. Das wird ein großes Thema in diesem Haus bleiben.
Kollege Schiewerling, Sie werden uns, wenn es um den zweiten Baustein, die Regelsätze, geht, konstruktiv fordernd an Ihrer Seite haben. Beim geplanten dritten Baustein - da geht es, wenn ich Sie richtig verstanden habe, um die Reform der Instrumente - haben Sie uns nur dann dabei, wenn es der Ulla, von der ich sprach, hilft und sie ordentliche Rahmenbedingungen erhält. Die Jobcenter haben nämlich von ständigen Änderungen die Nase voll: Sie wollen nicht mehr ständig ihre EDV überfordert sehen und ?zu Fuß? rechnen müssen;
sie wollen klare und beständige Verhältnisse. Das sind wir all denen, für die heute ein guter Tag ist, auch auf Dauer schuldig.
Vielen Dank.
Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt:
Letzter Redner in dieser Debatte ist der Kollege Max Straubinger für die CDU/CSU-Fraktion.
Max Straubinger (CDU/CSU):
Frau Präsidentin! Werte Kolleginnen und Kollegen! Mit der anschließenden Abstimmung über die Änderung des Grundgesetzes und die Regelungen zu den Jobcentern kommt heute ein langer Diskussionsprozess zum Abschluss. Ich glaube, es ist für die Menschen ein guter Tag, insbesondere für diejenigen, die vom Jobcenter betreut werden. Damit ist verbunden, dass Menschen gut in den ersten Arbeitsmarkt eingegliedert werden können und die Verwaltung zukünftig auf einer soliden rechtlichen Basis arbeiten kann. Insofern ist die erste Botschaft des heutigen Tages an die Menschen: Wir legen heute die Grundlage für einen weiteren Meilenstein in unserem Sozialstaat.
Ich glaube, es hat sich gelohnt, diesen langen Diskussionsprozess auf sich zu nehmen. Natürlich gab es verschiedenste Vorstellungen, wie die Arbeitsmarktpolitik nach dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts, das uns ermahnt hat, dass Mischverwaltungen aufgrund unseres Staatsaufbaus nicht zulässig sind, künftig organisiert werden soll. Es ist sinnvoll, den Menschen die Hilfsmöglichkeiten, die in der Verantwortung der Kommunen, vor allem aber des Bundes liegen, aus einer Hand anzubieten. Deshalb ist es gerechtfertigt, heute das Grundgesetz zu ändern, um damit die rechtliche Grundlage für die Organisation und Verwaltung zu schaffen.
Natürlich haben sich heute alle Fraktionen, die für dieses Gesetzeswerk verantwortlich sind - SPD, CDU/CSU, FDP -, einzelne Erfolge auf ihre Fahnen geschrieben. Frau Lösekrug-Möller, ich möchte aber schon daran erinnern, dass es bei der SPD zur Zeit der Großen Koalition eine Verweigerungshaltung gab: Eine sinnvolle Lösung wurde seinerzeit immer verhindert, vor allen Dingen, als es darum ging, dass die Kommunen stärker in die Vermittlung von Arbeitsstellen an arbeitslose Menschen eingebunden werden. Die SPD konnte sich nicht damit anfreunden, dass es in Deutschland mehr Optionskommunen gibt.
Auch die Optionskommunen sind für die Menschen ein Erfolg; denn damit können angepasste Lösungen gefunden werden, nämlich - so ähnlich hat es mein Kollege vorhin ausgedrückt - zielgenaue Lösungen für jeden Landkreis, jeden Bereich und jede Kommune, ganz im Sinne der betroffenen Menschen. Das ist meines Erachtens ein Erfolg, für den wir mit unserer Stimmabgabe die Grundlage schaffen können.
Ich bin überzeugt, dass in dieser neuen, rechtssicheren Organisationsform der Optionskommune bzw. der Jobcenter - sie heißen alle Jobcenter - die Vermittlung in den ersten Arbeitsmarkt im Vordergrund steht.
Die Kollegen aus der linken Ecke haben heute vielfältig von Drangsalierung gesprochen. Das möchte ich massiv zurückweisen. Es ist keine Drangsalierung, Menschen in Arbeit zu bringen, Frau Kollegin Kipping. Im Gegenteil: Es ist eine gelebte Chance für die Menschen, wenn sie Arbeit haben. Dafür zu sorgen, ist die Aufgabe der Jobcenter. Das wird durch die vorliegende Änderung umgesetzt.
Die linke Fraktion scheint es als Drangsalierung zu verstehen, dass im Sozialgesetzbuch Sanktionen vorgesehen sind. Es handelt sich aber um ein Sozialstaatsgebot, weil es in unserer Gesellschaft nicht sein darf, dass Millionen von Menschen tagtäglich früh aufstehen, den ganzen Tag hart arbeiten, Beiträge an die Arbeitslosenversicherung abführen und Steuern zahlen, damit die Sozialleistungen erbracht werden können, und sich gleichzeitig wenige Einzelne vor der Arbeit drücken. Das darf nicht sein. Es ist ein Sozialstaatsgebot: Wer zumutbare Arbeit nicht annimmt, muss mit Sanktionen rechnen. Das ist keine Drangsalierung, sondern oberstes Sozialstaatsgebot in unserer Gesellschaft.
Ich bin überzeugt, dass wir mit der heutigen Reform den Grundstein dafür legen, dass 1, 2 Millionen ältere Arbeitslose schnell wieder in den ersten Arbeitsmarkt vermittelt werden können. Wir legen besonderes Augenmerk darauf, dass 200 000 Jugendliche, wenn es sein muss, das nötige Gerüst einer guten Berufsausbildung erhalten und dass das durch die vorhandenen Instrumente erreicht wird. Zugegeben: Die SPD will einen besonderen Betreuungsschlüssel für Alleinerziehende. Wir hingegen legen, auch ohne Betreuungsschlüssel, weiterhin großen Wert darauf, der besonderen Situation von Alleinerziehenden gerecht zu werden. Das ist die Aufgabe, die wir zu erbringen haben.
Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt:
Herr Kollege, darf ich Sie unterbrechen? Gestatten Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Kipping?
Max Straubinger (CDU/CSU):
Ja.
Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt:
Bitte sehr.
Katja Kipping (DIE LINKE):
Lieber Kollege, Sie haben in Ihren Ausführungen zu den Sanktionen den Eindruck erweckt, dass es bei Sanktionen immer nur um Menschen gehe, die sich komplett vor Arbeit drücken wollten. Ich persönlich habe eine andere Einschätzung, was den Stellenwert von Erwerbsarbeit anbelangt.
Ich lasse mich aber auf Ihre Logik ein und lege sie meinen Überlegungen zugrunde. Ich möchte Sie fragen: Ist Ihnen bekannt, dass ein Großteil der Sanktionen nicht wegen Ablehnung eines zumutbaren Jobangebotes, sondern aufgrund von Meldeversäumnissen erfolgt, beispielsweise weil eine Unterlage später eingereicht worden ist?
Sanktionen greifen auch bei Fällen wie folgendem: Einer Frau ist eine Arbeitsstelle vermittelt worden. Dort hat sie erfahren, dass sie für einen Niedriglohn arbeiten muss. Sie hat erschrocken festgestellt, dass der Lohn deutlich unter dem Hartz-IV-Regelsatz liegt. Daraufhin hat man ihr gesagt, sie könne ja aufstocken. Sie hat gesagt, dass sie diese Arbeit gerne übernehme. Leider hat sie diese Stelle nicht bekommen. Das Jobcenter ist dann zu folgendem Ergebnis gekommen: Weil sie festgestellt habe, dass es sich um einen sittenwidrigen Lohn handele, sei sie selber schuld daran, dass sie den Arbeitsplatz nicht bekommen habe. Jetzt wird ihr gegenüber eine Sanktion ausgesprochen. Glauben Sie wirklich, dass es im Sinne eines Sozialstaatsgebots ist, dass man sich nicht mal mehr gegen sittenwidriges Lohndumping zur Wehr setzen darf?
Max Straubinger (CDU/CSU):
Mir ist natürlich bekannt, dass die meisten Sanktionen ausgesprochen werden, weil eine Mitwirkung nicht immer fristgerecht erfolgt ist. Es gehört auch zum Sozialstaat, dass jeder seine Mitwirkungspflicht wahrnehmen, sich schnell in den Arbeitsmarkt einfügen und vor allen Dingen Betreuungs- und Vermittlungsangebote annehmen muss.
Natürlich ist es mit entscheidend, dass entsprechende Löhne gezahlt werden. Aber Löhne werden aufgrund von Tarifverträgen gezahlt. Sittenwidrigkeit wird von Gerichten festgestellt. Es ist nicht dem Einzelnen anheimgegeben, festzustellen, dass ein Lohn sittenwidrig ist. Wenn nach Tarif gezahlt wird, ist die Arbeit anzunehmen. Selbst wenn der Lohn ungenügend ist, ist er zu akzeptieren, weil mit der Aufnahme von Arbeit die Chance auf einen besser bezahlten Arbeitsplatz verbunden ist, Frau Kollegin Kipping. Es geht nicht, dass man das Angebot einfach ablehnt, zu Hause auf dem Kanapee verweilt und wartet, bis man ein Topangebot bekommt. Das kann es nicht sein, werte Kollegin.
Wir stehen kurz vor dem Abschluss eines sehr langen Diskussionsprozesses, kurz vor der Abstimmung. Ich darf mich ebenfalls sehr herzlich bei den Bundestagskollegen bedanken, beim Kollegen Heil, beim Kollegen Kolb und beim Kollegen Schiewerling. Genauso herzlich bedanke ich mich natürlich bei den Vertretern der Bundesländer und der Ministerien. Darüber hinaus bedanke ich mich bei Herrn Staatssekretär Hoofe für die Leitung.
Ich glaube, dass wir deutlich gemacht haben, dass unsere Demokratie funktioniert, dass wir, wenn es sein muss, gut zusammenarbeiten können und schlagkräftig sind und dass unterschiedliche Konzepte und Vorstellungen zusammengeführt werden. Ich glaube, das ist der große Erfolg dieses Gesetzgebungsverfahrens. Ich bitte deshalb um Zustimmung zur Grundgesetzänderung und zum Ausführungsgesetz.
Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit.
Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt:
Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Abstimmung über die von der Bundesregierung sowie von den Fraktionen der CDU/CSU, SPD und FDP eingebrachten Entwürfe eines Gesetzes zur Änderung des Grundgesetzes, und zwar in Art. 91 e. Der Innenausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/2183, die genannten Gesetzentwürfe auf den Drucksachen 17/1939 und 17/1554 zusammenzuführen und in der Ausschussfassung anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Wer ist dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen, der SPD-Fraktion und der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen bei Gegenstimmen der Fraktion Die Linke angenommen.
Wir kommen zur
und Schlussabstimmung. Ich weise darauf hin, dass zur Annahme des Gesetzentwurfs die Mehrheit von zwei Dritteln der Mitglieder des Deutschen Bundestages erforderlich ist. Das sind mindestens 415 Stimmen.
Wir stimmen über den Gesetzentwurf auf Verlangen der Fraktionen der CDU/CSU, der SPD und der FDP namentlich ab. Ich bitte die Schriftführerinnen und Schriftführer, die vorgesehenen Plätze einzunehmen. - Sind die Plätze an den Urnen besetzt? - Jetzt sind alle Plätze an den Urnen besetzt. Ich eröffne die Abstimmung.
Ist noch ein Mitglied des Hauses anwesend, das seine Stimmkarte nicht abgegeben hat? - Das ist nicht der Fall. Dann schließe ich die Abstimmung und bitte die Schriftführerinnen und Schriftführer, mit der Auszählung zu beginnen.
Bis zum Vorliegen des Ergebnisses der namentlichen Abstimmung unterbreche ich die Sitzung.
Die Sitzung ist unterbrochen.
Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt:
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich darf Sie bitten, Platz zu nehmen. Die unterbrochene Sitzung ist wieder eröffnet.
Ich gebe Ihnen zunächst das von den Schriftführerinnen und Schriftführern ermittelte Ergebnis der namentlichen Abstimmung über die Änderung des Grundgesetzes bekannt: abgegebene Stimmen 586. Mit Ja haben gestimmt 515, mit Nein 71, Enthaltungen gab es keine. Der Gesetzentwurf ist damit mit der erforderlichen Mehrheit angenommen.
Wir setzen die Abstimmungen fort. Abstimmung über den Entschließungsantrag der Fraktionen der CDU/CSU, SPD und FDP auf Drucksache 17/2192. Wer stimmt für diesen Entschließungsantrag? - Wer ist dagegen? - Enthaltungen? - Der Entschließungsantrag ist damit mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen und der SPD-Fraktion bei Gegenstimmen der Fraktion Die Linke und Enthaltung der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen angenommen.
Wir kommen zum Tagesordnungspunkt 3 b. Abstimmung über die von der Bundesregierung sowie den Fraktionen der CDU/CSU, SPD und FDP eingebrachten Entwürfe eines Gesetzes zur Weiterentwicklung der Organisation der Grundsicherung für Arbeitsuchende. Der Ausschuss für Arbeit und Soziales empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/2188, die genannten Gesetzentwürfe auf den Drucksachen 17/1940, 17/1555 und 17/2057 zusammenzuführen und in der Ausschussfassung anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Wer ist dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen und der SPD-Fraktion bei Gegenstimmen der Fraktion Die Linke und Enthaltung der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen angenommen.
Wir kommen zur
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. - Wer ist dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist mit dem gleichen Stimmenverhältnis wie in der zweiten Beratung angenommen.
Wir stimmen nun über den Entschließungsantrag der Fraktion Die Linke auf Drucksache 17/2193 ab. Wer stimmt für diesen Entschließungsantrag? - Wer ist dagegen? - Enthaltungen? - Der Entschließungsantrag ist damit mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen, der SPD-Fraktion und der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen abgelehnt.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 4 auf:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Arbeit und Soziales (11. Ausschuss) zu dem Antrag der Abgeordneten Klaus Ernst, Jutta Krellmann, Matthias W. Birkwald, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE
Mit guter Arbeit aus der Krise
- Drucksachen 17/1396, 17/2069 -
Berichterstattung:
Abgeordnete Beate Müller-Gemmeke
Beschlussfassung
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für die Aussprache eineinviertel Stunden vorgesehen. - Ich sehe, Sie sind damit einverstanden. Dann werden wir so verfahren.
Ich eröffne die Aussprache. Als erster Redner hat der Kollege Paul Lehrieder für die CDU/CSU-Fraktion das Wort.
Paul Lehrieder (CDU/CSU):
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Mit dem gerade verkündeten Ergebnis der namentlichen Abstimmung zur Reform der Jobcenter hat Deutschland, haben auch die Arbeitslosen und die Mitarbeiter in den Jobcentern eine gute Zukunft vor sich. Wir haben jetzt Planungssicherheit, sowohl für die Mitarbeiter als auch für die zu betreuenden Langzeitarbeitslosen. Man könnte sagen: Wir begeben uns jetzt wieder in das Tagesgeschäft.
Der hier vorliegende Antrag der Linken mit dem Titel ?Mit guter Arbeit aus der Krise? ist aber weniger erfreulich. Die Überschrift ist gut; aber das ist leider auch das Beste an diesem Antrag.
- Ich habe ihn ganz gelesen, Frau Kollegin Enkelmann. Ich freue mich schon darauf, was Ihre Arbeitsmarktexpertin Luk Jochimsen, die nachher sprechen wird, Sinngebendes dazu beitragen kann.
Es ist richtig: Arbeit ist mehr als nur Gelderwerb. Arbeit ist die Verkörperung von Menschenwürde; der Schutz aus Art. 2 Abs. 1 und Art. 1 Abs. 1 Grundgesetz gilt auch in Bezug auf die Arbeit, wie es bereits das Bundesarbeitsgericht in den 80er-Jahren ausgeführt hat. Das heißt: Die Wertschätzung eines Menschen, eines Mitbürgers, ist natürlich auch durch seine Tätigkeit geprägt. Auch das gehört zur Arbeit. Arbeit ist nicht Schikane, Arbeit ist nicht Drangsalierung, wie es uns einige in diesem Hohen Hause glauben machen wollen. Arbeit trägt vielmehr dazu bei, wieder Tritt zu fassen und sich selber zu bestätigen, etwas schaffen zu können.
Meine Damen und Herren, wir sind auf einem guten Weg. - Liebe Frau Präsidentin, Sie gestatten, dass ich aus meiner Tageszeitung zitiere. - Die Würzburger Main-Post hat gestern geschrieben: ?Deutsche arbeiten wieder länger? und ?Produktivität liegt über dem Vorjahreswert?. Von der Kurzarbeit sind derzeit noch 933 000 Mitbürgerinnen und Mitbürger betroffen. Im dritten Quartal 2009 waren es 1,12 Millionen, im vierten Quartal 984 000. Das heißt, die Kurzarbeit nimmt degressiv ab. Gleichzeitig nimmt die Zahl der Arbeitlosen und - toi, toi, toi! - auch der Langzeitarbeitlosen ab.
Das in dem Antrag der Linken gezeichnete Horrorszenario - auf Seite 1 ist von einem ?Klima der Angst? die Rede - ist insofern nicht angebracht. Es liegen noch sehr viele Aufgaben vor uns, die wir in den nächsten Monaten und Jahren angehen werden. Wir müssen uns aber auch nicht vor dem Problem verstecken. Es fragt sich, wer hier tatsächlich ein Klima der Angst schürt. Ich habe bereits darauf hingewiesen. Vor über einem Jahr, am 23. April 2009, haben wir in diesem Haus einen Antrag der Linken mit dem Titel ?Gute Arbeit - gutes Leben? beraten. Das ist fast derselbe Titel wie heute. Heißen Themen wird vonseiten der Linkspartei mit aufgewärmten Versatzstücken begegnet. Der inhaltliche Stillstand der Linken löst aber kein Problem in Deutschland.
Es geht nicht darum, Menschen in Resignation zu treiben, sondern darum, die Probleme anzupacken und den Menschen Mut zu machen. Mit dem Entwurf des Beschäftigungschancengesetzes, der heute Nachmittag auf der Tagesordnung steht, wird die Verlängerung der Kurzarbeiterregelung in erster Lesung auf den Weg gebracht, um damit den Unternehmen die Chance zu geben, qualifiziertes Personal auch über das Tal dieser Krise hinweg zu halten.
Der vorliegende Antrag stammt aus der Mottenkiste. Er ist ein ?Worst of? der Linkspartei. Die Vorschläge sind unrealistisch und zum Teil politisch nicht durchsetzbar. Erlauben Sie mir, dass ich auf einige Ihrer Vorschläge im Einzelnen eingehe.
Die Linkspartei will keine Anreize für Erwerbslose schaffen, sich um Arbeit zu bemühen. Stattdessen setzen Sie schlicht auf einen weiteren Ausbau staatlicher Sozialleistungen.
Die Linken wollen den Eindruck vermitteln, der Staat überlasse von Arbeitslosigkeit bedrohte Bürger ausschließlich sich selbst. Das Gegenteil ist der Fall: Wir haben mit der Reform der Jobcenter und der Flexibilisierung der Instrumente der Jobvermittler viele richtige Maßnahmen auf den Weg gebracht, um die Langzeitarbeitslosen noch besser zu betreuen, als es in den letzten Jahren der Fall war. An dieser Stelle besteht noch Optimierungsbedarf; damit haben Sie sicherlich recht. Ich glaube, dass mit dem vorhin beschlossenen Gesetz zur Reform der Jobcenter das Richtige gemacht wird.
Im Haushalt 2010 bezieht sich etwa die Hälfte der Ausgaben auf den Sozialetat; Frau Ministerin hat heute Morgen bereits darauf hingewiesen. Die Arbeitnehmerüberlassung bzw. Leiharbeit, die Sie größtenteils reduzieren wollen, ist eine Arbeitsförderungsmaßnahme. Ein großer Anteil derjenigen, die vermittelt werden, sind Hilfskräfte und Geringqualifizierte. Es gibt auch Missbrauch; das will ich nicht verkennen. Der Fall Schlecker ist bekannt. Es gibt etliche weitere Unternehmen. Wir sind dabei, in Arbeitsgruppen zu klären, wie wir in Zukunft derartige Übergriffe und Methoden vermeiden können. Ich glaube, dass wir hier mit unserm Koalitionspartner auf einem guten Weg sind. Ich hoffe, dass wir in den nächsten Monaten auch dieses Problem in den Griff bekommen.
Die Bundesregierung plant bereits ein Gesetz zur Änderung des Arbeitnehmerüberlassungsgesetzes bzw. des Arbeitnehmer-Entsendegesetzes. Dazu müssen wir wissen, dass mit der Freizügigkeit im europäischen Raum ab 1. Mai 2011 weitere Aufgaben vor uns liegen. Auch darauf müssen wir uns rechtzeitig einstellen. Wir wollen eine Lohnuntergrenze in der Zeitarbeit einziehen. Auf welchem Weg wir das machen, diskutieren wir derzeit in Arbeitsgruppen.
Die Forderung der Linken, eine sachgrundlose Befristung von Arbeitsverträgen völlig abzuschaffen, geht völlig ins Leere. Die Betriebe brauchen in bestimmten Situationen die Möglichkeit, Arbeitnehmer mit Sachgrund befristet einzustellen.
Man kann auch jemanden sachgrundlos einstellen, etwa um ihn zu testen. Zu den klassischen Fällen der befristeten Einstellung gehören die Schwangerschaftsvertretung, ein hoher Auftragseingang mit der Folge, dass Aufträge schnell abgearbeitet werden müssen, und eine projektgebundene Einstellung von besonders qualifizierten Arbeitskräften. Sie erhalten durch die befristete Einstellung die Chance - das ist ein beiderseitiges Kennenlernen -, sich in den Arbeitsplatz einzufügen bzw. dem Chef zu zeigen, dass sie für den Job auch dauerhaft geeignet sind, und möglicherweise anschließend in diesem Job bleiben zu können.
Sie fordern einen Kündigungsschutz für alle, insbesondere für die Mitbürgerinnen und Mitbürger über 55 Jahre. Dieser umfassende Kündigungsschutz wird - das ist die andere Seite der Medaille - dazu führen, dass die Einstellungsbereitschaft der Unternehmen gerade älteren Mitbürgerinnen und Mitbürgern gegenüber sicherlich nicht steigen wird. Der Chef sagt sich natürlich: Wenn ich einen 45-Jährigen einstelle, kann ich ihn ganz normal kündigen, wenn ich aufgrund der Auftragslage dazu gezwungen bin, einen Älteren nicht. - Das wäre ein Problem bei der Vermittlung unserer älteren Mitbürgerinnen und Mitbürger, und das müssen wir den Leuten fairerweise auch sagen. Es klingt toll, wenn man sagt: ?Du bist 55; wenn du eingestellt wirst, kann dir nicht mehr gekündigt werden?, aber man muss dann auch sagen, dass die Bereitschaft, solche Menschen einzustellen, im Gegenzug sinkt. Das wäre eine Hürde bei Neueinstellungen; davon bin ich überzeugt.
Sie fordern ein politisches Streikrecht. Gut, mehr als die Hälfte der Mitglieder der Linkspartei sind Gewerkschafter. Es ist verständlich, dass deshalb auch diese Forderung wieder aufgewärmt wird.
- Nein, ich habe nichts gegen Gewerkschaften. Ich bin für Gewerkschaften. Ist der Klaus Ernst noch da? Ich sehe ihn gar nicht.
- Ah, er ist in ein Gespräch vertieft. - Ich schätze ihn ausdrücklich als Gewerkschafter aus meiner Nachbarschaft. Es sind sicher noch mehr Gewerkschafter da. Wir schätzen starke Gewerkschaften, weil sie dazu beigetragen haben, dass mit der SPD in der letzten Legislaturperiode über das Arbeitnehmer-Entsendegesetz tariflich vereinbarte Mindestlöhne überhaupt erst auf den Weg gebracht werden konnten.
Mir ist es lieber, die an der Lohnfindung beteiligten Parteien - Arbeitgeber und Arbeitnehmer bzw. Gewerkschaften - finden einen Lohn, als dass der Lohn politisch festgesetzt werden muss. Das ist der falsche Weg; der führt in eine Sackgasse.
Ihr Einwand, Frau Enkelmann, bringt mich zu dem nächsten Punkt in Ihrem Antrag: Mindestlohn. Ein flächendeckender gesetzlicher Mindestlohn ist das falsche Rezept. Er löst unsere Probleme nicht, sondern verschärft die Situation nur.
Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt:
Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Zimmermann?
Paul Lehrieder (CDU/CSU):
Ja, ich bitte darum.
- Frau Pothmer, Sie können mich auch etwas fragen. Die Uhr ist schon angehalten.
- Die Sympathien sind eindeutig verteilt, Herr Kolb.
Sabine Zimmermann (DIE LINKE):
Herr Kollege Lehrieder, stimmen Sie mir zu, dass wir auf dem Arbeitsmarkt einen Wandel von guter, tariflich entlohnter Arbeit zu Teilzeit, prekärer Beschäftigung, Minijobs und Midijobs erleben? Stimmen Sie mir zu, dass wir in diesem Bereich eine massive Zunahme haben?
Stimmen Sie mir zu, dass wir durch die Tatsache, dass in den letzten fünf Jahren 655 000 Menschen in Rente gegangen sind und nicht so viele junge Leute nachkommen, einen statistischen Effekt in der Arbeitslosenstatistik haben? Stimmen Sie mir zu, dass wir einen weiteren statistischen Effekt dadurch haben, dass 270 000 Menschen pro Jahr aus der Statistik herausfallen, weil sie durch Dritte vermittelt werden?
Paul Lehrieder (CDU/CSU):
Ich stimme Ihnen darin zu, dass der Bereich der Mini- und Midijobs in den letzten Jahren angewachsen ist, aber nicht nur wegen erzwungener Maßnahmen der Arbeitgeberseite, sondern auch, weil viele Mitbürgerinnen und Mitbürger nur einen Teilzeitjob wollen, sei es wegen Kindererziehung, sei es wegen der Berufstätigkeit des Partners. Auch das muss man fairerweise sagen, wenn wir die Statistiken vergleichen.
Es ist richtig, dass im Niedriglohnbereich in den letzten Jahren Bestimmungen umgangen worden sind. Dagegen gehen wir vor.
Wir müssen etwas tun, um Dumpinglöhne zu verhindern. Ich will Ihnen noch einige Zahlen aus dem Artikel nennen, aus dem ich vorhin zitiert habe. - Bleiben Sie ruhig stehen; das verlängert meine Redezeit. - Die Produktivität der Arbeitsstunde wurde im letzten Jahr gegenüber dem Vorjahreswert um 0,7 Prozent erhöht.
- Ich bin noch nicht fertig mit meiner Antwort. - Im ersten Quartal 2010 betrug die durchschnittliche Produktivität 358,5 Stunden. Das sind immerhin 1,3 Prozent bzw. 4,5 Stunden mehr als im Vorjahr. Das bedeutet, dass die Zahl der Vollzeitbeschäftigten zugenommen hat, zwar langsam, aber immerhin deutlich merkbar. Das ist eine Chance, mit guter Arbeit aus der Krise zu kommen.
Sie können sich setzen. Jetzt rede ich nach meinem Manuskript weiter. - Ich komme zum nächsten Punkt: 500 000 öffentlich geförderte Arbeitsplätze. Meine Güte, das ist ein ganz altes Modell! Das hat früher bei der SED funktioniert; da hat der Staat die Arbeitsplätze angeboten. Wenn der Staat alle Arbeitsplätze anbietet und auch den Lohn bezahlen muss, dann werden wir irgendwann da landen, wo Länder im südlichen Europa leider jetzt schon stehen. Dann werden wir mit Staatsschulden diese Ihrer Meinung nach Heil bringende Arbeit finanzieren, was zu noch höherer Verschuldung und einem noch höheren Defizit führen wird. Unsere Kinder müssen Ihre ungeeigneten, deplatzierten Rezepte dann irgendwann ausbaden. Das kann es nicht sein.
- Natürlich, mit Steuern machen Sie das auch. Ich nennen hier nur Ihre Reichensteuer. Aber
so hoch können Sie die Steuer gar nicht ansetzen, dass Ihr Wunschkonzert damit finanziert werden könnte. Ich freue mich auf die noch folgende Begründung Ihrer Arbeitsmarktexpertin Jochimsen.
Ich bedanke mich für die Aufmerksamkeit und wünsche Ihnen noch einen schönen Tag. Danke.
- Das war die Klammer, Frau Pothmer.
Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt:
Nächster Redner ist der Kollege Ottmar Schreiner für die SPD-Fraktion.
Ottmar Schreiner (SPD):
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich hatte schon in der ersten Lesung zu dem Antrag der Linkspartei gesprochen und darauf hingewiesen, dass es ein Kernanliegen auch der Sozialdemokraten ist, gute Arbeit in unserem Land durchzusetzen, und dass der Antrag der Linkspartei eine Reihe von brauchbaren Ansätzen enthält, aber auch eine Reihe von Übertreibungen, etwa in Sachen Mindestlöhnen. Die entscheidende Frage, wenn wir heute diesen Antrag diskutieren, ist, ob die Realpolitik - Realpolitik ist vor allen Dingen das von der Koalition vorgelegte Sparprogramm - gute Arbeit fördert oder das Gegenteil bewirkt. Ein Autor des vom Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung in dieser Woche vorgelegten Gutachtens zur Einkommensentwicklung sagt dazu:
Bei all den Vorschlägen der Bundesregierung zum sogenannten Sparpaket ist kritisch zu beurteilen, dass die bisherigen konkreten Vorschläge ? nur die unteren Einkommensbereiche betreffen.
Das gilt vor allen Dingen für Arbeitslose. Es herrscht eine völlig einseitige Schlagseite, nur die unteren Einkommensbereiche sind betroffen, die Angst vor dem Verlust des Arbeitsplatzes muss unter diesen Bedingungen weiter zunehmen. Mit dieser Angst steigen der Druck und die Bereitschaft, auch Verschlechterungen der Arbeitsbedingungen hinzunehmen, um den Arbeitsplatz nicht zu verlieren. Die von der Bundesregierung gebetsmühlenhaft vorgetragene Behauptung, die Einschnitte bei den Arbeitslosen erhöhten die Beschäftigungsanreize, ist in Wahrheit eine zynische Formel.
Der Druck auf die Arbeitslosen, Arbeit um jeden Preis, aber wirklich um jeden Preis, zu noch so niedrigen Löhnen anzunehmen, wird nochmals erhöht. Mit einem Anteil von jetzt 23 Prozent haben wir im europäischen Vergleich bereits den höchsten Niedriglohnsektor. Die prekären Beschäftigungsverhältnisse steigen ständig. Im letzten Jahr, 2009, waren bei allen Neuarbeitsverhältnissen 48 Prozent der Beschäftigungsverhältnisse zeitlich befristet. Die Ausnahme ist zur Normalität geworden. Der Druck auf die Arbeitslosen wird also zunehmen. Es wird noch mehr Niedriglöhne und noch mehr prekäre Beschäftigung geben. Insofern ist das Sparprogramm der Bundesregierung auch ein Generalangriff auf das Ziel ?gute Arbeit?.
Wer gute Arbeit für die Beschäftigten will, muss Alternativen zum Sparwahn der Bundesregierung aufzeigen. Ich will auf einen Sachverhalt hinweisen, der wenig bekannt ist. Der hohen Staatsverschuldung - die Staatsschulden belaufen sich in Deutschland zurzeit auf circa 1,7 Billionen Euro - steht ein um ein Vielfaches höheres Reinvermögen der privaten Haushalte gegenüber, nämlich nach den Daten der Bundesbank und des Statistischen Bundesamtes circa 8 Billionen Euro. Diese Vermögen konzentrieren sich in immer weniger privaten Händen. Circa 10 Prozent der Bevölkerung verfügen über knapp 70 Prozent des gesamten privaten Vermögens. Dem privaten Reichtum entspricht eine wachsende öffentliche Armut. Die Welt - das ist eine Zeitung, die eher Ihnen nahesteht, meine Damen und Herren von der Koalition - schreibt gestern unter der Überschrift ?In den Städten verfällt die Infrastruktur - Klamme Kommunen haben einen Investitionsstau von 75 Milliarden Euro?:
Marode Straßen, verfallende Häuser, leckende Abwasserleitungen: Deutschlands Infrastruktur verfällt. Denn Städten und Gemeinden fehlen seit Jahren die Mittel, um Verkehrswege, Krankenhäuser, Kindergärten, Schulen und Klärwerke zu unterhalten. ?Bei den Kommunen hat sich ein Investitionsstau von 75 Mrd. Euro aufgetürmt?, hat Busso Grabow vom Deutschen Institut für Urbanistik (Difu) errechnet. ?
Usw. usf. Also, auf der einen Seite finden wir einen ungeheuren privaten Reichtum, konzentriert in immer weniger Händen, auf der anderen Seite wachsende öffentliche Armut, die den Staat nicht mehr in die Lage versetzt, die notwendigen strukturellen Aufgaben im Bereich der Kindergärten, der Schulen und der Krankenhäuser hinreichend zu realisieren. Die Tatsache, dass diese hochkonzentrierten Vermögen nicht stärker für die Finanzierung unseres Gemeinwesens herangezogen werden und so gleichsam unproduktiv brachliegen, verhindert mehr Wachstum, mehr Beschäftigung und gute Arbeit. Dieser Sachverhalt wird systematisch verschwiegen.
Die Alternative ist klar: Würde ein Teil der in privaten Haushalten konzentrierten Vermögen abgeschöpft und investiert, würde sich die Verschuldungslage des Staates deutlich verbessern. Die dadurch entstehende zusätzliche Nachfrage könnte Unternehmen und Arbeitnehmern zugute kommen. Wachstum und Beschäftigung würden zunehmen, ebenso die Produktivität und der damit verbundene Verteilungsspielraum. Die Voraussetzungen für die Durchsetzung guter Arbeit würden sich deutlich verbessern. Das ist die eigentliche Alternative.
Es geht kein Weg daran vorbei, aus ökonomischen und sozialen Gründen große Vermögen in Deutschland stärker zur Finanzierung öffentlicher Aufgaben heranzuziehen. Eine zusätzliche Finanztransaktionsteuer würde ebenfalls hauptsächlich große Vermögen belasten. Sie würde sinnlose Spekulationen verteuern und helfen, Ersparnisse in Realinvestitionen umzulenken.
Da immer von Sozialneid gesprochen wird, wenn wir auf diese extremen Ungleichheiten hinweisen, will ich Ihnen zum Schluss ein Zitat aus dem Handelsblatt vom 26. Mai dieses Jahres vortragen.
Die Frage lautet:
Die Schuldenkrise des Staates ist aus der privaten Finanzkrise entstanden. Wäre es da nicht gerechtfertigt, die heranzuziehen, die vorher sehr gut verdient haben?
Die Antwort lautet:
Unbedingt, das ist absolut notwendig. Das Gerechtigkeitsempfinden der Menschen ist verletzt, und das kann die Demokratie gefährden.
In einer anderen Antwort heißt es:
Ich denke, dass vor allem die Einkommen aus Vermögen stark zugenommen haben. ? Ich habe durchaus Sympathie für eine erneuerte Vermögensteuer, über die man intensiv nachdenken sollte.
Dieses Zitat stammt weder vom Fraktionsvorsitzenden der SPD noch von dem der Linken oder der der Grünen. Dieses Zitat stammt von Herrn Reinhard Marx, Erzbischof von München.
Meine Damen und Herren von der Koalition, zumindest von der christdemokratischen Union, Sie sollten die Aufforderung von Herrn Reinhard Marx ernst nehmen. Das wäre die schmerzfreie Alternative zu einem Sparkurs der Bundesregierung, der wieder ausschließlich auf dem Rücken der kleinen Leute stattfindet.
Das wäre dann auch sozial ausgewogen und ökonomisch vernünftig, und es wäre, meine Damen und Herren von der CDU/CSU, dann sogar christliche Politik.
Schönen Dank.
Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt:
Für die FDP-Fraktion hat nun Herr Kollege Pascal Kober das Wort.
Pascal Kober (FDP):
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der Antrag ?Mit guter Arbeit aus der Krise?, den wir heute beraten, enthält eine große Ansammlung sozialpolitischer und arbeitsmarktpolitischer Forderungen der Linken.
Frau Kollegin Krellmann, in der Ausschusssitzung am 9. Juni haben Sie dazu sinngemäß gesagt, der Antrag enthalte jede Menge Forderungen der Linken, deshalb würden Sie nicht mit der Zustimmung anderer Fraktionen zu Ihrem Antrag rechnen. Frau Kollegin Krellmann, ich kann Ihnen für die FDP versichern: Damit liegen Sie richtig.
Wir werden Ihren Antrag ablehnen, und das aus einem übergeordneten Grund. Zusammengefasst gesagt enthält Ihr Antrag eine Ansammlung von Forderungen, die in ihrer Umsetzung eine Konsequenz haben würde: Sie würden um den Arbeitsmarkt herum eine Mauer errichten, die für diejenigen, die sich außerhalb des Arbeitsmarkts befinden, weil sie keine Arbeit haben, unüberwindlich sein würde.
Liebe Kolleginnen und Kollegen von der Linken, Sie wollen vielleicht den Menschen helfen. In Wahrheit aber berauben Sie sie ihrer Chancen. Wir hingegen wollen mit unserer Politik den Menschen Chancen auf dem Arbeitsmarkt geben. Wir wollen sie zur Teilhabe an der Gesellschaft befähigen. Wir wollen ihnen den Einstieg bzw. die Rückkehr in den Arbeitsmarkt erleichtern.
Auf jeden einzelnen Ihrer Vorschläge einzugehen, verbietet die Kürze der Zeit.
Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt:
Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Zimmermann?
Pascal Kober (FDP):
Sehr gerne.
Sabine Zimmermann (DIE LINKE):
Danke schön, Frau Präsidentin. - Herr Kober, Sie wissen sicherlich, dass wir eine Unterbeschäftigung von 4,4 Millionen Menschen haben. Diese 4,4 Millionen Menschen suchen einen guten Arbeitsplatz, auf dem sie einen ausreichenden Lohn bekommen, von dem sie leben und ihre Familie ernähren können. Sie wissen aber auch, dass es laut Stellenstatistik 813 000 offene Stellen gibt.
Von diesen 813 000 offenen Stellen sind ein Drittel in Leiharbeit. Jetzt frage ich Sie: Wo ist dieser Arbeitsmarkt, von dem Sie reden? Wohin können diese Menschen vermittelt werden, und zwar schnell und besser, wie Sie es mit dem Jobcenter ohnehin wollen?
Pascal Kober (FDP):
Frau Kollegin, wenn der Arbeitsmarkt so statisch wäre, wie Sie ihn jetzt beschreiben, dann hätten auch Sie mit Ihrer Politik Schwierigkeiten, die Menschen in Arbeit zu vermitteln. Zunächst einmal gilt, dass nicht alle offenen Stellen gemeldet werden.
Zum Zweiten müssen wir durch eine kluge Bildungspolitik sowie durch eine kluge Finanz- und Wirtschaftspolitik natürlich dafür sorgen, dass zum einen die Menschen gestärkt werden und zum anderen die Wirtschaft gestärkt wird, damit Arbeitsplätze entstehen. Mit unserer Politik sind wir auf einem guten Weg dahin, dass mehr Arbeitsplätze entstehen. Das ist unsere Hoffnung, und daran arbeiten wir mit voller Kraft. - Vielen Dank.
In der Kürze der Zeit möchte ich nicht auf alle Ihre Forderungen eingehen. Ich möchte aber ein Beispiel hervorheben, um meine These zu bestätigen. Im Grunde genommen möchten Sie die Zeitarbeit abschaffen.
Sie fordern gleichen Lohn für gleiche Arbeit ab dem ersten Arbeitstag, ohne jegliche Ausnahme. Sie fordern, dass die Verleihdauer auf maximal drei Monate beschränkt wird. Zudem wollen Sie nicht nur gleichen Lohn für gleiche Arbeit; Sie wollen darüber hinaus, dass Leiharbeitskräfte zusätzlich eine Flexibilitätsprämie erhalten. Im Ergebnis würde das dazu führen, dass die Zeitarbeit beerdigt wird.
Wir wissen, dass die Zeitarbeit für viele Menschen durchaus eine Möglichkeit ist, in den Arbeitsmarkt zu kommen und dort Fuß zu fassen.
Wir wissen aufgrund von Statistiken, Herr Kollege, dass 62,2 Prozent der Menschen, die in Zeitarbeitsunternehmen eingestellt werden, vorher nicht gearbeitet haben.
Wir wissen, dass 11,4 Prozent der Menschen vorher sogar überhaupt noch nie gearbeitet haben. Wir wissen, dass ein Fünftel bis ein Viertel der Personen, die in Zeitarbeitsunternehmen arbeiten, in den Unternehmen, in die sie entliehen werden, dann auch Fuß fassen und dort bleiben.
Wir wissen, dass es etwa einem Fünftel der Menschen, die in Zeitarbeit arbeiten, gelingt, nach einem gewissen Zeitraum in anderen Unternehmen dauerhaft in eine sozialversicherungspflichtige Beschäftigung zu kommen.
Es ist klar, dass wir den Missbrauch in der Zeitarbeit angehen werden. Das haben wir als Koalition hier einmütig schon gesagt. Das Bundesarbeitsministerium ist dabei, mit den Regierungsfraktionen entsprechende Lösungen zu erarbeiten. Insofern, glaube ich, ist es ein Fehler von Ihnen, dass Sie die Zeitarbeit in der Form, wie Sie es machen, beerdigen wollen.
Einen zweiten Aspekt des Antrags möchte ich noch ansprechen. Sie sprechen sich für die Abschaffung der sachgrundlos befristeten Arbeitsverhältnisse aus mit dem Argument, dass Menschen mit befristeten Arbeitsverträgen keine Lebensplanung vornehmen können. Ich möchte Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen der Linkspartei, an das erinnern, was mein Kollege Kolb in der letzten Woche hier im Hohen Hause dargelegt hat, dass nämlich auch all unsere Mitarbeiter, die Mitarbeiter von uns Bundestagsabgeordneten, befristete Arbeitsverträge haben
und dennoch viele Familien gründen und Kinder bekommen. Es ist eine befristete Arbeit,
und die Zukunft ist über die vier Jahre hinaus nicht zu planen. Insofern ist Ihr Argument nicht richtig.
Viele Unternehmen können die wirtschaftliche Entwicklung nicht abschätzen und müssen auf die Flexibilität, die ihnen befristete Arbeitsverhältnisse ermöglichen, zurückgreifen. Ich möchte Sie nur darauf aufmerksam machen, dass auch beim DGB, beim Deutschen Gewerkschaftsbund, 17 Prozent der Arbeitsverhältnisse befristet sind.
Was für den DGB vielleicht richtig ist, kann doch auch für andere gelten. Ich sage Ihnen, wie er argumentiert - ich zitiere -:
Um langfristig Personalüberhänge zu vermeiden, werden seit 2004 Beschäftigte grundsätzlich nur noch befristet eingestellt.
So der DGB zu seiner eigenen Arbeitsmarktpolitik.
Ich möchte den DGB da nicht kritisieren, aber darauf hinweisen, dass auch andere diese Notwendigkeit so sehen wie wir.
Vielen Dank.
Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt:
Nächste Rednerin ist die Kollegin Dr. Lukrezia Jochimsen für die Fraktion Die Linke.
Dr. Lukrezia Jochimsen (DIE LINKE):
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine Damen und Herren! Die Fraktion Die Linke stellt heute den Antrag ?Mit guter Arbeit aus der Krise? zur Abstimmung, weil wir in der Tat der Meinung sind, dass sich unser Land nur durch Arbeit aus der Krise, in der es sich jetzt befindet, wird befreien können, und zwar durch gute Arbeit. ?Gute Arbeit? bedeutet nicht Niedriglohnarbeit, wie sie heute von 6,5 Millionen Beschäftigten geleistet werden muss, für 3,06 Euro in der Friseurbranche oder für 4,50 Euro in der Fleischbranche. ?Gute Arbeit? heißt auch nicht: Leiharbeit, Teilzeitarbeit, Minijobs, sogenannte Solo-Selbstständigkeit. Das sind die uns allen bekannten prekären Beschäftigungsformen, deren Zahl immer mehr zunimmt.
Wir wissen auch genau, wozu sie geführt haben. Eine ganz aktuelle Erhebung des Thüringer Landesamtes für Statistik weist aus: In einem Drittel aller Thüringer Haushalte hat der Hauptverdiener - der Hauptverdiener! - am Monatsende weniger als 1 300 Euro netto für die Familie, inklusive BAföG und Kindergeld. Hochqualifizierte Künstler und Kreative mit einem 14-Stunden-Arbeitstag haben am Ende des Jahres durchschnittlich ein Einkommen von 11 000 Euro, das nichts übrig lässt für Krankheits- und Altersvorsorge. So darf es doch nicht weitergehen.
Diese Entwicklung, immer tiefer hinein in einen Teufelskreis aus Armut und Ängsten in der Bevölkerung, muss jetzt endlich aufgehalten werden.
Daher fordern wir eine Rückkehr zu guter Arbeit, die es schließlich einmal gab in unserem Land und die das Land insgesamt auch wohlhabend gemacht und befriedet hat. Das ist ja nichts Unbekanntes für uns. Wir hatten dieses Gut ?gute Arbeit? in unserer Gesellschaft.
Aber was geschieht jetzt mitten in dieser schwersten wirtschaftlichen Krise? Wird den Menschen herausgeholfen aus dem Teufelskreis? Nein, und nochmals Nein! Ein Sparpaket wird geschnürt, das nur die Sozialschwachen heranzieht, die Arbeitslosen, die Alleinerziehenden. Für meine Fraktion sage ich hier: Das ist gewissermaßen eine Kampfansage an die Menschen, die am wenigsten zum Leben haben. Diese Kampfansage werden wir annehmen. Damit lassen wir Sie nicht durchkommen! Auf gar keinen Fall!
Auch die Betroffenen werden das nicht einfach hinnehmen. Es gibt so viele Menschen, die diese soziale Schieflage des Sparpakets als absolut ungerecht empfinden: Gewerkschaften, Kirchen, Sozialverbände formulieren diese Ablehnung bereits massiv. Das Volk hält vom Sparpaket nichts. Weil sich auch immer mehr Menschen aus der sogenannten bürgerlichen Mitte der Gesellschaft - da könnten die Kollegen von der FDP einmal zuhören - Sorgen um das Ganze machen, irren Sie nämlich doppelt, wenn Sie glauben, Sie werden à la longue damit durchkommen.
Das Bürgertum hat über Generationen ein paar Grundsätze bewahrt. Dazu gehören das Streben nach Ausgleich in der Gesellschaft, nach Hebung des allgemeinen Wohlstands und, wie Heribert Prantl unlängst in der Süddeutschen schrieb, das Verursacherprinzip, also der Gedanke, dass die Suppe auszulöffeln hat, wer sie eingebrockt hat.
Sie aber, meine Damen und Herren von der Regierung, handeln längst nach einem anderen Prinzip, dass nämlich diejenigen die Suppe auszulöffeln haben, denen sie eingebrockt worden ist. Das wird nicht hingenommen, auch vom Bürgertum nicht.
Ihre eigenen Ministerpräsidenten melden sich kritisch zu Wort. So hat zum Beispiel die thüringische Ministerpräsidentin Lieberknecht die Streichung des Elterngeldes für Hartz-IV-Empfänger mit den Worten abgelehnt: ?Das Schicksal der meisten Hartz-IV-Empfänger ist schon schwer genug?. Die Regierung ?sollte nicht auch noch den Eindruck erwecken, sie seien nicht in der Lage, ihre Kinder selbst zu erziehen?, indem sie sage, das eingesparte Elterngeld werde für Bildungsangebote ausgegeben. Worte einer CDU-Ministerpräsidentin. Man kann Frau Merkel nur raten: Bitte hören Sie doch darauf, wenn Sie schon nicht auf die Linke hören wollen.
Heute ist der 17. Juni. Ich bin alt genug, mich an die Ereignisse zu erinnern, und es ist gut, dass wir ihrer gedenken. Gesine Schwan hat heute Morgen hier im Parlament eine bemerkenswerte Gedenkrede gehalten und den Appell an uns gerichtet, Lehren aus der Geschichte zu ziehen - wohl wahr! Eine der Lehren der Geschichte ist, dass sich die Arroganz der Mächtigen, selbst der Regierenden, böse rächen kann.
Als Mahnung darf ich Ihnen einige Zeilen von Bertolt Brecht zitieren:
Nach dem Aufstand des 17. Juni
Ließ der Sekretär des Schriftstellerverbandes
In der Stalinallee Flugblätter verteilen
Auf denen zu lesen war, daß das Volk
Das Vertrauen der Regierung verscherzt habe
Und es nur durch verdoppelte Arbeit
Zurückerobern könne. Wäre es da
Nicht einfacher, die Regierung
Löste das Volk auf
Und wählte ein anderes?
Bertolt Brecht, 1953.
Es gibt einen untrüglichen Indikator dafür, wie eine Gesellschaft verfasst ist: Das ist die Art und Weise, wie sie mit ihren Künstlerlinnen und Künstlern, den kreativen Menschen umgeht. Wer vor Jahren, nach dem Zusammenbruch des Ostblocks, die Konzertgeiger von daher auf unseren Straßen um Almosen spielen sah und hörte, der wusste genug über das Elend in deren Heimat. Und bei uns? Da haben es die Regierungen, nicht nur die jetzige, so weit gebracht, ein beachtliches Kultur- und Kunstprekariat hervorzubringen. Wir werden alle dafür zahlen müssen: die für ein Butterbrot arbeitenden Kreativen als Erste und wir durch einen Kulturverlust, einen Verlust an Lebensqualität. Am Ende aber werden auch die, die dafür die Verantwortung tragen, die Rechnung präsentiert bekommen. Da bin ich ganz sicher.
Wie heißt es, wenn es um die Banken geht? Too big to fail - zu groß, um sie untergehen zu lassen - oder, wie es begründet wurde, die Banken seien systemimmanent. Das war und ist Ihre Wahrheit in der Krise. Meine Wahrheit, meine Maxime ist eine andere: Ich sehe die Menschen in unserem Land und sage über jeden Einzelnen: zu wertvoll, um auf sie oder auf ihn zu verzichten.
Ihre oder seine Teilhabe - sei es durch Lohnarbeit oder soziales Tun in der Familie, durch kulturelle Beiträge oder politisches Engagement oder einfach nur durch ihr oder sein Dasein in Würde, als stolzer Mitmensch - ist für mich zu wertvoll, als dass wir darauf einfach verzichten könnten.
Wir sind nichts mehr, wenn wir diesen Impuls verlieren. Darum stellen wir heute einen Antrag, der gute Arbeit zum Ziel politischen Handelns macht und damit ein gutes Leben in dieser Gesellschaft ermöglicht, gutes Leben anstelle wachsender Armut einerseits und schwindelerregender Zunahme von Reichtum andererseits. Ich frage: Wer will eigentlich in einem so in Reich und Arm auseinanderklaffenden Land leben? Sie hier doch sicherlich nicht. Davon gehe ich aus.
Dann setzen Sie doch einmal ein kleines Zeichen und stimmen für gute Arbeit, damit gutes Leben wieder ins Land kommt und damit die Menschen sehen: Angesichts der Krise und der Nöte so vieler Menschen im Land geht es uns hier im Bundestag nicht nur um die Ausgrenzung der Linken, um Fraktionsdisziplin und Rituale. Das wäre systemimmanent, und das wäre jetzt angebracht.
Ich danke Ihnen.
Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt:
Nächste Rednerin ist die Kollegin Beate Müller-Gemmeke für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
Beate Müller-Gemmeke (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Ich habe schon in der ersten Lesung gesagt, dass uns das Thema gute Arbeit wichtig ist. Es ist mir so wichtig, dass ich es hier nicht wie ein Kapitel aus einem Wahlprogramm behandeln möchte.
An manchen Stellen ist der Antrag der Linken überzogen, beispielsweise bei der Mitbestimmung. Auch wir wollen die Mitbestimmung stärken. Aber uns geht es um gleiche Augenhöhe und um einen Interessensausgleich zwischen Unternehmen und Beschäftigten. Kritisiert habe ich an dem Antrag auch schon, dass ein Überbietungswettbewerb bei der Höhe des gesetzlichen Mindestlohns stattfindet. Im Moment geht es aber erst einmal darum, dass überhaupt ein Mindestlohn eingeführt wird. Wir brauchen ein starkes, breit aufgestelltes Bündnis, um Druck machen zu können. Wir sollten an einem Strang ziehen.
Kurzum: Der Antrag beinhaltet einige Forderungen, die wir nicht mittragen können. Es gibt aber auch viele Forderungen, denen wir zustimmen. Deshalb werden wir den Antrag nicht ablehnen, sondern werden uns enthalten.
Zu den Regierungsfraktionen. Ich appelliere an Sie, nicht weiter die Augen vor der Realität zu verschließen. Herr Lehrieder, der Wandel in der Arbeitswelt ist unübersehbar. Die Arbeit wird nun zunehmend atypisch, prekäre Beschäftigung nimmt zu. Viele Menschen erleben tagtäglich eine Arbeitswelt, die aufreibender und unsicherer wird, und viel zu viele Menschen arbeiten und können dennoch nicht von ihrem Lohn leben oder müssen jeden Euro dreimal umdrehen.
Dennoch vertreten viele aus den Regierungsfraktionen noch immer die Meinung, dass sozial ist, was Arbeit schafft; aber damit sind Sie schlichtweg auf dem Holzweg.
Sozial ist nur, was gute Arbeit schafft, und für uns Grüne ist gute Arbeit untrennbar mit Anerkennung, Respekt und Wertschätzung verbunden. Gute Arbeit bedeutet Mitbestimmung, Teilhabe, faire Löhne, Arbeits- und Gesundheitsschutz, Entgeltgleichheit, familienfreundliche Bedingungen und vor allem soziale Sicherheit.
Sie aber nehmen die Sorgen der Beschäftigten nicht ernst. Sie sind bei diesen Themen taub und reden in der Regel der Wirtschaft das Wort. Sie haben schlichtweg keine Vision von guter Arbeit.
Dies möchte ich an einigen Beispielen ausführen: 47 Prozent der neuen Beschäftigungsverhältnisse sind befristet. Das erschwert die Lebensplanung der betroffenen Menschen erheblich. Sie aber ignorieren das. Sie wollen den Arbeitsmarkt sogar noch weiter flexibilisieren. Dagegen kann ich heute schon Widerstand ankündigen. Wir wollen die befristete Beschäftigung reduzieren, indem wir die sachgrundlose Befristung abschaffen und den Katalog der Befristungsgründe auf den Prüfstand stellen. Befristete Beschäftigungsverhältnisse halten wir ebenfalls für problematisch, weil damit der Kündigungsschutz umgangen wird. Wir wollen eine Balance zwischen den Interessen der Arbeitnehmer und denen der Arbeitgeber. Deswegen ist der Kündigungsschutz untrennbar mit dem Thema gute Arbeit verbunden.
In diesem Sinne kann es auch nicht sein, dass Beschäftigte wegen sogenannter Bagatelldelikte einfach gekündigt werden. Wir fordern deswegen in unserem Antrag, dass endlich die Abmahnungspflicht bei Bagatelldelikten eingeführt wird. Dies würde Beschäftigte gerade jetzt in der Krise schützen, denn bei diesen Fällen geht es für die Betriebe um Bagatellbeträge; aber für die Menschen geht es um ihre Existenz.
Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt:
Frau Kollegin, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Lehrieder?
Beate Müller-Gemmeke (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Ja.
Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt:
Bitte sehr.
Paul Lehrieder (CDU/CSU):
Frau Kollegin Müller-Gemmeke, Sie haben gerade ausgeführt, dass wir nur die Interessen der Wirtschaft im Hinterkopf haben, Sie aber die Interessen der Arbeitnehmer.
Teilen Sie die Auffassung, dass in der Wirtschaft - ich verstehe jetzt unter der Wirtschaft auch die kleinen mittelständischen Unternehmen oder die Unternehmen schlechthin - zuerst ein Unternehmen vorhanden sein muss, bevor man überhaupt erst einmal Arbeit bekommen kann, dass auch die Arbeitgeber hierbei mit ins Boot genommen werden müssen, die die Arbeit bereitstellen können, damit der Arbeitnehmer überhaupt eine Chance hat, einen Job zu bekommen?
Oder wie sehen Sie das? Wer gibt bei Ihnen die Arbeit, wenn nicht die Wirtschaft?
Beate Müller-Gemmeke (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Ich verstehe, ehrlich gesagt, Ihre Frage nicht ganz.
- Ich habe eben auch ?in der Regel?gesagt, und ich habe vorhin auf die Mitbestimmung verwiesen. Es geht immer um eine Balance zwischen den Unternehmen und den Arbeitnehmern, es geht immer um Balance beim Kündigungsschutz, und das sehe ich bei den Bagatellkündigungen durchaus so, denn da ist die Balance auf jeden Fall nicht gegeben, wenn man wegen 80 Cent oder 1,30 Euro eine Arbeit verlieren kann, nachdem man 30 Jahre dort gearbeitet hat.
Das Bundesarbeitsgericht hat uns momentan bei dem Fall Emmely recht gegeben. Von daher geht es um Balance, und ich denke nicht, dass wir mit unserer Haltung die kleinen Unternehmen oder auch größere Unternehmen wirklich schädigen können.
Um gute Arbeit geht es natürlich auch bei der Leiharbeit. Der Missbrauch bei der Leiharbeit ist ja bekannt. Bekannt ist auch, dass Stammbelegschaften durch Leiharbeitskräfte ersetzt werden. Das Instrument Leiharbeit wird auch für Lohndumping benutzt.
Lange, viel zu lange hat das Ministerium geprüft. Wie man jetzt hört, sollen wieder einmal nur kosmetische Korrekturen vorgenommen werden. Das reicht uns nicht aus. Wir wollen die Leiharbeit wirklich regulieren. Das Prinzip ?gleicher Lohn für gleiche Arbeit? muss endlich umgesetzt werden.
In Bezug auf den Niedriglohnbereich muss ebenfalls endlich etwas getan werden. Sie wissen es: 5 Millionen Menschen arbeiten für weniger als 8 Euro, 1 Million sogar für weniger als 5 Euro pro Stunde. Und was macht die FDP? Sie versucht sogar noch, hart verhandelte Mindestlöhne zu blockieren und zu befristen. Stellen Sie sich endlich der Realität und führen Sie endlich einen gesetzlichen Mindestlohn und mehr branchenspezifische Mindestlöhne ein!
Damit würden Sie mehr als zwei Fliegen mit einer Klappe schlagen: Die Beschäftigten hätten endlich einen auskömmlichen Lohn, der Staat weniger Sozialausgaben, die Sozialversicherungen mehr Einnahmen.
Herr Schäuble hätte mehr Geld in der Kasse, und Sie könnten die unsozialen Einsparungen bei den Schwachen in der Gesellschaft aussetzen, was Sie übrigens auf jeden Fall tun sollten.
Ich komme nochmals auf das Thema ?Sozial ist, was Arbeitsplätze schafft? zu sprechen. Das impliziert, dass Arbeitsplätze entstehen sollen. Das wollen auch wir. Arbeitsplätze entstehen aber nicht durch mehr Flexibilisierung. Sie entstehen nicht durch ein Weniger an Kündigungsschutz oder ein Mehr an Leiharbeit. Arbeitsplätze entstehen, wenn die Rahmenbedingungen stimmen.
In diesem Sinne empfehle ich Ihnen: Verbinden Sie endlich Beschäftigung mit Ökologie, und zwar nicht nur in Sonntagsreden! Machen Sie endlich eine konsequente Klimaschutzpolitik! Dann entstehen in der Folge überall im Land neue und sichere Arbeitsplätze in den Bereichen Energie und Mobilität und auch im Bausektor.
Mein Fazit ist also: Machen Sie endlich eine Politik für die Beschäftigten und nicht nur für diejenigen, die sich sowieso auf der Sonnenseite des Lebens befinden. Auch in der neuen DIW-Studie zeigt sich der Trend - Kollege Schreiner hat es gerade ausgeführt -: Unsicherheit und Angst breiten sich immer weiter aus. Diese Unsicherheit wird durch Ihr ungerechtes Sparpaket natürlich noch verschärft.
Umso wichtiger ist es jetzt für die Menschen, dass Beschäftigung ein Mindestmaß an Sicherheit bietet und Arbeit fair entlohnt wird. Beschäftigte, die gut behandelt und wertgeschätzt werden und die ihre Stellung im Betrieb als sicher ansehen, sind übrigens motivierter und engagierter. Sie identifizieren sich mit ihrer Arbeit, und das kann eigentlich nur gut für unsere Wirtschaft sein.
Gerade jetzt, in der Krise, kann das gemeinsame Projekt ?Gute Arbeit? Orientierung geben und einen solidarischen Ausweg aus der Krise aufzeigen. Was aber machen Sie? Sie streiten sich in der Koalition mittlerweile um fast jedes Thema schrill und öffentlich, als drehe sich die Welt momentan nur um Ihre Koalition. Für Sie steht momentan nicht der Zusammenhalt in der Gesellschaft im Mittelpunkt, sondern ausschließlich der Zusammenhalt in der Koalition.
Dazu kann ich nur sagen: Noch nie war die Empathie der Verantwortlichen einer Regierung für das Land und die Menschen so gering.
Vielen Dank.
Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt:
Für die CDU/CSU-Fraktion hat nun das Wort die Kollegin Gitta Connemann.
Gitta Connemann (CDU/CSU):
Frau Präsidentin! Sehr geehrte Frau Dr. Jochimsen, wenn dieser Auftritt gerade Ihre Bewerbungsrede für das Amt der Bundespräsidentin gewesen sein sollte,
stelle ich fest: Sie haben Ihr Ziel verfehlt.
Denn spätestens nach diesem Beitrag sollte dem Letzten in diesem Haus bewusst sein, dass Ihre Bewerbung eines nicht ist: ernst gemeint.
Sie haben einen einzigen Satz gesagt, den ich absolut unterstreichen kann - er stammt aus Ihrem Antrag; ich zitiere -: ?Gute Arbeit muss das Ziel politischen Handelns sein.? Wer von uns wollte dieser Feststellung widersprechen?
Niemand! Denn wir alle wünschen uns genau das. Die Menschen sollen eine aus ihrer Perspektive möglichst gute Arbeit haben.
Die entscheidende Frage lautet aber: Was ist eine gute Arbeit?
Ihre Antwort, meine Damen und Herren von der Linken: Nur die unbefristete Vollzeitarbeit ist eine gute Arbeit. -
Erkennen Sie eigentlich, was Sie damit tun? Damit kanzeln Sie die Arbeit von Teilzeitbeschäftigten, Selbstständigen, befristet Beschäftigten und auch Zeitarbeitnehmern ab.
Diese alle haben, ginge es nach Ihnen, schlechte Arbeit.
Haben Sie sich einmal Gedanken darüber gemacht, wie sich diese Beschäftigten bei Ihrer Wortwahl - ?atypisch? oder gar ?prekär? - fühlen müssen? Ich frage Sie: Was ist an einer Teilzeitkraft atypisch oder prekär, wenn sie sich für Familie und Beruf entscheidet?
Was ist an einer Selbstständigen atypisch oder prekär, wenn sie hoffnungsvoll eine neue Existenz gründet?
Was ist an einer Zeitarbeitnehmerin atypisch oder prekär, wenn sie wechselnde Arbeitsorte in Kauf nimmt, um einen Vollzeitjob zu haben? Was sagen eigentlich Ihre Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, meine Damen und Herren von den Linken? Sie haben nämlich - wie all unsere Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter - befristete Arbeitsverträge bis zur nächsten Wahl, also nach Ihrer Wortwahl ?schlechte Arbeit?.
Meine Damen und Herren von der Linken, Ihre Klassifizierung ist ein Schlag ins Gesicht der Betroffenen; sie ist ein Zeichen von Arroganz und fehlender Sachkenntnis.
Anstatt in Kategorien des Klassenkampfs zu denken, sollten Sie sich der Wirklichkeit stellen. Sprechen Sie nicht über die Beschäftigten, sondern sprechen Sie mit den Beschäftigten!
Dann würden Sie erfahren: Gute und schlechte Arbeit lassen sich nicht an Kategorien wie ?typisch? oder ?atypisch?, ?Vollzeit? oder ?Teilzeit?, ?selbstständig? oder ?angestellt?, ?befristet? oder ?unbefristet? festmachen.
Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt:
Frau Kollegin, Herr Kollege Schreiner würde gerne eine Zwischenfrage stellen.
Gitta Connemann (CDU/CSU):
Sehr gerne.
Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt:
Bitte sehr.
Ottmar Schreiner (SPD):
Nach dieser ?lichtvollen Bemerkung? des bayerischen Kollegen wollte ich Sie fragen, ob Sie erstens bereit sind, zur Kenntnis zu nehmen, dass der Deutsche Gewerkschaftsbund seit drei Jahren Untersuchungen zu der Frage veröffentlicht, was Menschen unter guter Arbeit verstehen, und dass laut Ergebnis dieser Untersuchungen 98 Prozent von vielen Tausend Befragten sagen: Gute Arbeit ist ein auf Dauer angelegtes Vollzeitbeschäftigungsverhältnis mit einem möglichst existenzsichernden Einkommen.
Sind Sie zweitens bereit, zur Kenntnis zu nehmen, dass es eine Reihe von Untersuchungen gibt, wonach viele Menschen, die Teilzeit arbeiten, eigentlich einen Vollzeiterwerbsplatz anstreben, notgedrungen aber auf Teilzeit gehen, weil sie keinen Vollzeitarbeitsplatz bekommen? Natürlich gibt es auch Menschen - das ist zugestanden -, die, meistens vorübergehend, einen Teilzeitarbeitsplatz beanspruchen, um die Vereinbarkeit von familiären und beruflichen Lasten besser zu koordinieren.
Gitta Connemann (CDU/CSU):
Nein, Herr Kollege Schreiner, ich bin nicht bereit, das zur Kenntnis zu nehmen.
Ich darf Ihnen auch die Begründung geben. Sie haben sehr pauschal Untersuchungen zum Thema Teilzeitbeschäftigung zitiert.
Ich kann Ihnen demgegenüber eine sehr konkrete Zahl des Instituts der deutschen Wirtschaft Köln nennen, das festgestellt hat: Von 9 Millionen Teilzeitbeschäftigten wünschen 7 Millionen genau diese Teilzeitbeschäftigung;
nur 2 Millionen Menschen weichen auf Teilzeit aus, weil sie keine Vollzeitstelle finden. Das heißt, 7 Millionen von 9 Millionen Menschen wünschen sich dieses Modell, um ihren eigenen Lebensentwurf verwirklichen zu können. Ich bitte Sie, das zur Kenntnis zu nehmen. Es hilft, mit den Menschen zu sprechen. Das würde ich Ihnen empfehlen.
Sie sollten sich nicht auf Untersuchungen zurückziehen; denn sie bestätigen Ihre Aussagen nicht.
Zum Beispiel ist die soziale Absicherung von Selbstständigen nicht minderwertig, nur weil Selbstständige keine Pflichtmitglieder der gesetzlichen Sozialversicherung sind. Ebenso haben Zeitarbeitnehmer in der Regel einen unbefristeten Vollzeitvertrag mit dem vollen gesetzlichen Kündigungsschutz, allen Arbeitnehmerschutzrechten und allen vier Zweigen der Sozialversicherung. Auch können Teilzeitkräfte durch eine Reduzierung ihrer Arbeitszeit ihre Lebensentwürfe verwirklichen, weil sie so zum Beispiel mehr Zeit mit Kindern verbringen können.
Gerade diese Erwerbsformen haben den Arbeitsmarkt in den letzten Jahren aus der Krise geführt; denn in der Regel heißt die Alternative in der Praxis: Arbeit oder Arbeitslosigkeit. Da fällt unsere Antwort, die Antwort der christlich-liberalen Koalition, sehr deutlich aus: Vorfahrt für Arbeit.
Hier sind wir erkennbar auf dem richtigen Weg. 2005 lag die Zahl der Arbeitslosen noch über der 5-Millionen-Marke; heute, einige Jahre später, liegt die Marke trotz der schlimmsten Wirtschaftskrise, die unser Land je erlebt hat, bei 3,2 Millionen Arbeitslosen. Das heißt, 1,8 Millionen Menschen haben Arbeit gefunden und damit eine Perspektive.
Einer der Gründe für diese positive Entwicklung waren die Reformen der Agenda 2010.
Damals haben Rot und Grün die Weichen für mehr Beschäftigung gestellt; denn sie haben die flexiblen Erwerbsformen, wie wir sie heute haben - mehr Selbstständigkeit, mehr Teilzeit, mehr Befristung und mehr Zeitarbeit -, erst ermöglicht.
Verteidigen Sie diese Erfolge mit uns, meine Damen und Herren von Rot und Grün; denn die Linken wollen jetzt eine Abschaffung all Ihrer Errungenschaften immer wieder mit derselben Behauptung, es seien massenhaft Vollzeitarbeitsstellen in Billigjobs umgewandelt worden.
Das Gegenteil ist richtig.
Ich habe bereits in der letzten Woche darauf hingewiesen: Schauen Sie sich die Zahlen des Statistischen Bundesamtes an!
Die Zahl der unbefristeten Vollzeitjobs hat sich in den letzten zehn Jahren bei rund 20 Millionen eingependelt. In derselben Zeit ist die Zahl der Erwerbstätigen aber um 2,7 Millionen angestiegen. Es wurde also zusätzliche Arbeit geschaffen, weil viele flexible Stellen entstanden sind.
Diese Stellen sind ein Sprungbrett, zuerst in Arbeit, dann in eine unbefristete Ganztagsbeschäftigung. Davon haben insbesondere Geringqualifizierte profitiert: Das sind Menschen ohne Schulabschluss, ohne Ausbildung und damit eigentlich ohne Chance. Wenn wir Ihrem Antrag folgen würden, meine Damen und Herren von der Linken, würden wir diesen Menschen jede Chance rauben. Das ist eine zutiefst unsoziale Politik. Eine solche Politik ist mit uns nicht zu machen. Deshalb werden wir Ihren Antrag ablehnen.
Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt:
Für die SPD-Fraktion spricht nun der Kollege Josip Juratovic.
Josip Juratovic (SPD):
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Kolleginnen und Kollegen! Die Überschrift des Antrags, über den hier diskutiert wird, lautet ?Mit guter Arbeit aus der Krise?. Es werden verschiedene Lösungsangebote aufgezeigt, die Beiträge zu mehr sozialer Gerechtigkeit leisten sollen, allerdings alle auf der Basis der Umverteilung.
Doch um aus der gegenwärtigen Krise zu finden, gehört mehr dazu. Mehr Umverteilung ist noch lange nicht Gerechtigkeit.
So wird zum Beispiel auch bei den Linken die Zeitarbeit hingenommen. Ja, Herr Kober, auch ich bin der Meinung, dass die Zeitarbeit an sich für die Betroffenen eine Chance sein kann. Jedoch ist die Zeitarbeit im Vergleich zur Festanstellung eine Ungerechtigkeit. Das gilt nicht nur für die Entlohnung. Zeitarbeiter werden auch außerhalb des Arbeitslebens stigmatisiert. Wenn beispielsweise jemand einen Kredit haben möchte, wird ihm dieser verwehrt, wenn er als Zeitarbeiter keine unbefristete Anstellung vorweisen kann. Frau Connemann, Sie wollen die Partei der Familienfreundlichkeit sein. Ich denke, mit dieser Perspektive ist es nicht gerade ermutigend, eine Familie zu gründen.
Ja, wir befinden uns in einer Krise. Mehr soziale Gerechtigkeit kann die Auswirkungen der Krise bei den Betroffenen schmerzlindernd gestalten. Um jedoch aus der gegenwärtigen Krise zu kommen, müssen wir neue Antworten auf die Frage finden, wie wir den Menschen eine Zukunft bieten. Die Menschen sind verunsichert. Zwar haben die meisten Menschen das Gefühl, dass es ihnen aktuell gut geht, aber keiner weiß, wie lange noch. Vor allem junge Menschen haben die Sorge, ob sie Arbeit bekommen und unter welchen Bedingungen sie arbeiten müssen. Es herrscht Orientierungslosigkeit, und vor allem schwindet das Vertrauen in den Zusammenhalt der Gesellschaft und auch in die Politik.
Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen, wir haben verschiedene Krisen zu bewältigen, und wir müssen dafür sorgen, das Vertrauen bei den Menschen, dass es in unserer Gesellschaft gerecht zugeht, wieder herzustellen.
Da ist einerseits die Wirtschafts- und Finanzkrise, aber es gibt auch eine Krise in der Arbeitswelt, und zwar nicht nur hinsichtlich des Umgangs mit Umwelt und Ressourcen, sondern auch hinsichtlich der betrieblichen Strukturen. So haben wir in zahlreichen Betrieben zum Beispiel vier Klassen von Arbeitnehmern: Da sind erstens die Festangestellten, da sind zweitens die Neueinsteiger, da sind drittens die Beschäftigten im indirekten Bereich, und da sind viertens die Zeitarbeiter, die befristet Beschäftigten und die Praktikanten. Das ist gelebte Entsolidarisierung in den Betrieben. Natürlich müssen wir schauen, wie wir die Leistungsfähigkeit der Beschäftigten steigern können. Leistungsdruck und Entsolidarisierung führen allerdings nur zu kurzfristigem Profit. Für nachhaltiges Wirtschaftswachstum, das auch unserer Gesellschaft Nutzen bringt, benötigen die Beschäftigten in erster Linie Motivation und Sicherheit.
Doch wir haben auch eine Gesellschaftskrise. Unsere Gesellschaft, die auf Solidarität und Zusammenhalt aufgebaut ist, leidet zunehmend darunter, dass bei vielen Menschen der Ellenbogen zum wichtigsten Körperteil geworden ist. Die Werte, die unsere Gesellschaft lange Zeit ausgemacht haben, werden zunehmend ignoriert.
Es besteht der Eindruck, dass Fleiß, Ehrlichkeit und Anstand sich nicht mehr lohnen. Der Ellenbogen hingegen ist salonfähig geworden.
Leider muss ich feststellen, dass die Regierungspolitik das Spiegelbild einer Ellenbogengesellschaft geworden ist. Wenn ich das sogenannte Sparpaket betrachte, stelle ich fest, dass dabei sehr viel Ellenbogen im Spiel ist. Ich habe den Eindruck, dass die Regierung nach betriebswirtschaftlichen Maßstäben handelt und vergisst, dass es die ureigene Aufgabe der Politik ist, für alle Bürgerinnen und Bürger da zu sein.
Die vermeintlichen Einsparungen gehen ausschließlich auf Kosten der Schwächsten in unserer Gesellschaft. Dieses sogenannte Sparpaket ist Ausdruck der Unfähigkeit und Ideenlosigkeit der gegenwärtigen Regierung.
Es führt dazu, dass die Politik zunehmend das Vertrauen der Menschen verliert, und es bringt die ganze Gesellschaft in die Gefahr, nach irgendwelchen Heilsbringern zu rufen.
Der Staat muss das Vertrauen und die Handlungsfähigkeit zurückgewinnen. Um die Zukunft zu gestalten, brauchen wir einen offenen Dialog auf allen Ebenen unserer Gesellschaft. Nur so finden wir den Weg aus der Krise. Wir Sozialdemokraten laden dazu ein, diesen Dialog über die Zukunft des Arbeitslebens und der Gesellschaft in Deutschland, in Europa und in der Welt zu führen. Wir wollen keine voreiligen und von oben aufgesetzten Scheinlösungen, sondern wir wollen aus der Mitte der Gesellschaft neue und tragfähige Antworten finden, um den Zusammenhalt unserer Gesellschaft wiederherzustellen. Damit werden wir auch wieder Vertrauen in die Handlungsfähigkeit der Politik schaffen.
Der Antrag der Linken bringt zwar den Wunsch nach mehr Gerechtigkeit zum Ausdruck, dem ich mich anschließe, jedoch wird er seinem Anspruch, Wege aus der Krise zu finden, nicht gerecht. Deswegen können wir Sozialdemokraten dem Antrag diesmal nicht zustimmen.
Danke schön.
Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt:
Für die FDP-Fraktion hat das Wort der Kollege Sebastian Blumenthal.
Sebastian Blumenthal (FDP):
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Liebe Kollegen von der Fraktion Die Linke, Sie bieten in Ihrem Antrag einen famosen Gemischtwarenladen an. Da ist eigentlich alles drin. Sie haben gesetzliche Mindestlöhne, Generalstreiks und das Verbot der geringfügigen Beschäftigung aufgeführt. Meine Vorredner haben die Widersprüche und fachlichen Defizite in Ihrem Antrag schon mehrfach dargestellt. Ich möchte Ihre Aufmerksamkeit auf ein anderes Thema lenken. Ich möchte auf Anspruch und Wirklichkeit zu sprechen kommen.
In der Bundeshauptstadt Berlin regieren Sie seit dem Jahr 2001 mit. Sie stellen auch die Senatorin für Soziales. Ich finde es interessant, zu schauen, wie die Regierungspolitik der Linken in der Praxis aussieht. Wir können außerhalb des Reichstags sehen, was passiert, wenn Sie in der Regierungsverantwortung sind und sich mit der Realität beschäftigen müssen; dann reicht es nicht, nur wohlfeile Anträge einreichen. Ich gehe einmal auf ein Zitat aus Ihrem Antrag ein. Sie fordern ein sicheres, geregeltes und geschütztes Arbeitsverhältnis, das den Menschen ein verlässliches Einkommen ermöglicht, und dass Arbeitnehmerrechte gestärkt werden. Was machen Sie in Berlin? Hier sieht es völlig anders aus. Im Jahre 2003 haben Sie in Ihrer Regierungsverantwortung beschlossen, den Arbeitgeberverband der Länder zu verlassen. Sie sind ausgetreten.
Als direkte Folge durch die Aufkündigung des Tarifvertrags für die Angestellten im öffentlichen Dienst hier in Berlin kam es zu einer Kürzung der Reallöhne um bis zu 14 Prozent.
Sie beklagen sich zum Beispiel, dass die Reallöhne in der freien Wirtschaft um 0,4 Prozent gesunken sind, setzen hier aber eine Kürzung um 14 Prozent durch. Da kann ich nur sagen: Konsequenz zeigt sich im Handeln.
Sie fahren in Ihrem Antrag weiter fort: ?Menschen, die erwerbslos sind, müssen ? am gesellschaftlichen Leben teilhaben können.? Die Praxis hier in Berlin sieht so aus, dass Sie zum Beispiel zunächst das ÖPNV-Sozialticket gestrichen haben, dann auch das Arbeitslosenticket.
Später haben Sie dann wieder ein Sozialticket eingeführt, aber da war es auf einmal fast doppelt so teuer wie vorher.
Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt:
Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Liebich?
Sebastian Blumenthal (FDP):
Nein, ich möchte den Gedanken zu Ende führen und keine Zwischenfrage zulassen. - Ist das ?Teilhabe am gesellschaftlichen Leben?, wenn Sie ein Sozialticket offensichtlich erst streichen und dann doppelt so teuer wieder einführen? Das ist keine verantwortungsvolle Politik. Das zeigt auch, dass Sie überhaupt nicht in der Lage sind, die Forderungen, die Sie in Ihrem Antrag aufstellen, in der Praxis umzusetzen. Sie schaffen das gar nicht.
Eine andere Zielgruppe, die Sie im Antrag ansprechen, sind junge Menschen; deren dramatische Situation beklagen Sie zu Recht. Wie sind Sie in Berlin mit dieser Herausforderung umgegangen? Seit 2002 haben Sie als Linke in Berlin im Bereich der Jugendhilfe mehr als 30 Millionen Euro pro Jahr gestrichen.
- Richtig, Herr Kolb, und die wollen uns belehren. - Noch härter als junge Menschen trifft es die Kinder in der Stadt. Seitdem Sie mitregieren, ist die Kinderarmut in Berlin um 32 Prozent gestiegen. Jedes dritte Berliner Kind lebt in Armut. Das ist die größte Kinderarmut in ganz Deutschland. Dazu kann ich nur sagen: Hervorragende Bilanz.
Das Fazit, das ich ziehen möchte, ist folgendes - ich möchte da keine Missverständnisse aufkommen lassen -: Das Sparpaket der Bundesregierung hat natürlich zur Folge, dass wir harte Einschnitte vornehmen und dass wir auch unpopuläre Maßnahmen treffen. Aber der Unterschied zwischen uns von der Koalition und Ihnen bei den Linken ist folgender: Wir sagen das den Menschen vorher, und wir erklären den Menschen die Notwendigkeit dieser Sparbeschlüsse.
Sie beschränken sich darauf, hier Schaufensteranträge mit Forderungen einzubringen, obwohl Sie selbst nicht in der Lage sind, diese in der Praxis umzusetzen. Die FDP-Fraktion wird diesen Antrag ablehnen.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt:
Das Wort zu einer Kurzintervention erteile ich dem Kollegen Liebich.
Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt:
Kurzinterventionen werden vom Platz aus gemacht.
Stefan Liebich (DIE LINKE):
Ich bitte um Nachsicht. Ich war ja länger im Berliner Abgeordnetenhaus; dort ist das anders. Das passt aber ganz gut zum Thema, während Ihre Rede nicht zum Thema gepasst hat. Es ist doch so, dass sich das Land Berlin gerade zum Thema ?gute Arbeit? im Bundesrat sehr engagiert hat. Das Land Berlin und einige weitere Bundesländer haben im Bundesrat für einen gesetzlichen Mindestlohn gestritten. Die FDP-mitregierten Länder haben das natürlich abgelehnt und somit verhindert. Das Land Berlin und das Land Brandenburg haben ein Vergabegesetz verabschiedet, bei dem wir darauf setzen, dass Mindestlöhne und Tarife, soweit es europarechtlich möglich ist, gezahlt werden. Wir kämpfen also für gute Arbeit.
Sie haben hier ein paar Beispiele genannt; daher will ich kurz darauf eingehen. Das Sozialticket in Berlin ist nie gestrichen worden. Der Zuschuss an die BVG für dieses Sozialticket - die BVG ist ein großes staatliches Unternehmen, das 500 Millionen Euro pro Jahr erhält - ist gestrichen worden. Die BVG ist aufgefordert worden, aus eigenen Kräften - diese hat sie - eines aufzulegen.
- Hören Sie zu. - Sie wissen, dass alle der Auffassung waren, dass das Land Berlin in Saus und Braus lebt. Es gab eine Einschätzung; niemand wollte das Land Berlin weiter unterstützen. Wir mussten einen Sparhaushalt auflegen.
Als das schiefging, haben wir uns entschieden, ein Sozialticket aufzulegen, wie es in keinem anderen Bundesland existiert. Arbeitslosenhilfeempfänger, ALG-II-Empfänger, Asylbewerber, Seniorinnen und Senioren erhalten ein Ticket zum halben Preis der Umweltkarte, mit dem man in der ganzen Stadt fahren darf.
Das wird massiv angenommen. Wenn Sie das in den Ländern, in denen Sie mitregieren, ansatzweise umsetzen würden, dann könnten Sie sich zu diesem Thema wieder melden.
Das Nächste: zur Jugendhilfe. Sie glauben doch nicht, dass das Land Berlin aus Spaß bei der Jugendhilfe streicht. Die Situation ist, dass eine Steuerpolitik gemacht wurde - Sie wollen diese Politik übrigens nicht verhindern, sondern forcieren -, durch die die Steuereinnahmen zusammengebrochen sind.
Wir mussten darüber diskutieren, wie wir damit im Land Berlin umgehen.
Die Kinderarmut ist in Berlin doch nicht wegen der Berliner Landespolitik gestiegen. Wir haben versucht, gegenzusteuern, wo wir konnten. Wir haben für die Eltern kostenfreie Kitas eingeführt. Führen Sie das doch auch in den Ländern ein, in denen Sie mitregieren!
Wir kämpfen, wir ringen, und diejenigen, die bei den Steuereinnahmen der Länder streichen wollen, stellen sich hier hin und werfen den Ländern, die sich bemühen, mit ihren wenigen Mitteln das Beste zu machen, vor, dass sie unsozial sind. So etwas ist heuchlerisch. Das hat nicht nur nichts mit guter Arbeit zu tun, sondern das hat auch nichts mit guter Politik zu tun.
Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt:
Zur Erwiderung Herr Kollege Blumenthal.
Sebastian Blumenthal (FDP):
Ich bedanke mich natürlich für die wertvollen Hinweise, die der Kollege gerade dargeboten hat. Dass Sie im Bundesrat Absichtserklärungen postulieren, ist sehr schön.
- Ich bin jetzt darauf eingegangen, was Sie hier in Berlin in der Praxis konkret umgesetzt haben.
Ich möchte Sie auf einen weiteren Punkt hinweisen - das habe ich eben bereits in meiner Rede gesagt -: Ich möchte nicht in Abrede stellen, dass es hier wirkliche große Anstrengungen gab. Dass die Finanzsituation des Landes Berlin natürlich eine sehr schwierige ist, wissen wir alle. Der Unterschied zwischen uns und Ihnen ist nur folgender: Sie legen hier Anträge vor, bei denen von vornherein klar ist, dass sie nicht in die Praxis umgesetzt werden können. Ihre Anträge sind nur Schaufensteranträge.
Ich allerdings möchte Sie mit der Realität konfrontieren. Das ist der Unterschied.
Genau darauf bin ich auch in meiner Rede eingegangen. Insofern kann ich das nur zurückweisen.
Vielen Dank.
Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt:
Nächster Redner ist der Kollege Dr. Carsten Linnemann für die CDU/CSU-Fraktion.
Dr. Carsten Linnemann (CDU/CSU):
Vielen Dank. - Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine sehr verehrten Damen! Meine Herren! Ich habe Ihren Antrag einmal mitgebracht; das ist ja auch ganz interessant.
- Auch gelesen, ja; bis zur letzten Seite.
- Richtig. Der Frustrationsgrad geht auf 100 Prozent zu.
Sie treffen in Ihrem Antrag zwei falsche Grundannahmen: Erstens. Sie sprechen von einer - ich zitiere - ?katastrophalen Entwicklung auf dem Arbeitsmarkt?.
Frau Connemann und Herr Lehrieder haben gar nicht in Abrede gestellt, dass es bestimmte Bereiche gibt
- die wird es übrigens immer geben -, in denen wir anpacken müssen. Solche Bereiche gibt es übrigens auch dann, wenn man Vollbeschäftigung hat. Es gibt in der Arbeitsmarktpolitik immer Bereiche, die man angehen muss.
Da Sie schreiben, es gebe eine katastrophale Entwicklung auf dem gesamten Arbeitsmarkt, empfehle ich Ihnen, sich die Zahlen einmal anzusehen.
Das europäische Statistikamt hat in allen 27 EU-Staaten die Entwicklung der Arbeitslosigkeit vom Frühjahr dieses Jahres im Vergleich zum Frühjahr des vergangenen Jahres untersucht. Es gab nur ein Land, in dem die Arbeitslosigkeit gesenkt wurde: Deutschland. Das ist der erste Punkt.
Der zweite Punkt ist: Sogar auf dem Höhepunkt der Krise war Deutschland das Land mit dem geringsten Anstieg der Arbeitslosigkeit. Aktuell konnte die Arbeitslosigkeit im Vergleich zum Vorjahr um 215 000 Menschen abgebaut werden. In dieser Situation von einer katastrophalen Entwicklung am Arbeitsmarkt zu sprechen, halte ich für nicht tragbar.
Zweitens. Sie skizzieren in Ihrem Antrag ein Gesellschaftsbild, das es in der Realität nicht gibt.
Sie sagen, der Staat muss es richten, muss Arbeitsplätze usw. schaffen, aber die Eigenverantwortung des Einzelnen spielt keine Rolle mehr. Dabei ist die Eigenverantwortung des Einzelnen, eingebettet in die Soziale Marktwirtschaft, eigentlich das Erfolgsmodell, das dieses Land groß gemacht hat. So ist es.
Wir sagen: Der Staat schafft keine Arbeitsplätze, sondern der Staat ist derjenige, der Schiedsrichter ist und aufpasst, dass die Regeln eingehalten werden.
Diese Spielregeln haben wir in den 50er-Jahren übrigens selbst definiert, sogar gegen Teile unserer Partei und auch gegen Teile der Wirtschaft. Diese Spielregeln hat damals Ludwig Erhard auf den Weg gebracht,
und dieses Gesellschaftsmodell lassen wir uns von Ihnen nicht kaputtmachen.
- Sie brauchen jetzt gar nicht so unqualifizierte Äußerungen zu machen.
Melden Sie sich, stellen Sie mir Ihre Frage, dann gehe ich auch gerne konkret darauf ein.
Eigenverantwortung ist für uns wichtig. Da Sie beispielsweise die wöchentliche Höchstarbeitszeit auf 40 Stunden und im zweiten Schritt auf 35 Stunden reduzieren möchten, sage ich Ihnen: Es gibt viele Menschen, die gerne 36 oder mehr Stunden pro Woche arbeiten wollen. Wollen Sie denen dann sagen: ?Stellen Sie jetzt den Computer ab?? Sie wollen die Kündigungsschutzregeln ändern und die Schwelle von zehn Mitarbeitern komplett abschaffen. Ich frage Sie: Gibt es dann noch Unternehmensgründungen? - Die Menschen gehen ein Risiko ein, wenn sie sich selbstständig machen. Wir brauchen Unternehmensgründungen; denn dadurch entstehen Arbeitsplätze. Aus den Gründungen kleiner Unternehmen entsteht der Mittelstand. Der Mittelstand schafft Arbeitsplätze und nicht der Staat. Übrigens sind es nicht in erster Linie die großen Unternehmen, die Arbeitsplätze schaffen, sondern die kleinen und mittleren Unternehmen.
Das ist der Unterschied zwischen Ihrer und unserer Politik. Das Erfolgsmodell ?Mittelstand? haben wir in der gesamten Welt verbreitet, und das lassen wir uns von Ihnen nicht kaputtmachen.
- Nein.
Wenn Sie sich die Geschichte der sozialen Marktwirtschaft und die Geschichte der marktwirtschaftlichen Ordnung ansehen, dann sehen Sie, dass es in der Regel Erfolge gibt. Es gibt auch Misserfolge - das will ich gar nicht abstreiten -, wie jetzt in der Finanzkrise, weil Regeln nicht eingehalten oder nicht definiert wurden. Eines kann ich Ihnen aber sagen: Staatlich gelenkte Wirtschaft, Staatswirtschaft, Kommandowirtschaft, Zentralverwaltungswirtschaft - das alles ist immer und überall auf diesem Globus mit Pauken und Trompeten gescheitert. Deshalb lehnen wir den Antrag ab.
Ich bedanke mich für die Aufmerksamkeit.
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:
Das Wort hat jetzt die Kollegin Katja Mast von der SPD-Fraktion.
Katja Mast (SPD):
Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Der Antrag, über den wir hier diskutieren, trägt den Titel ?Mit guter Arbeit aus der Krise?. Ich habe das Gefühl, dass wir in der Debatte doch noch einmal eine gemeinsame Definition von guter Arbeit brauchen, um zu wissen, über was wir uns überhaupt streiten. Der Kernkonflikt zwischen den Fraktionen auf der rechten und der linken Seite ist, dass wir eine Vision von guter Arbeit haben, während Sie keine davon haben und deshalb auch nicht an dem Erreichen des Ziels arbeiten, gute Arbeit in Deutschland zu schaffen. Das ist das Problem dieser Regierungskoalition.
Ich sage Ihnen: Es ist eben nicht so, dass sozial ist, was Arbeit in Deutschland schafft. Sozial ist ausschließlich, was gute Arbeit in Deutschland schafft.
Die Menschen erwarten, dass wir für gute Arbeit in Deutschland sorgen.
Ich will Ihnen mit einem Beispiel aus meinem Wahlkreis Pforzheim deutlich machen, welche Menschen das sind. Es geht vor allen Dingen um junge und ältere Menschen, weil das genau diejenigen sind, die bei Ihrer Politik durch den Rost fallen. Ich war kürzlich im Rahmen meines Schulprojekts ?Junger Rat für Mast? in der 9. Klasse des Kepler-Gymnasiums in Pforzheim. Die Schüler haben mich zum Thema Berufsperspektiven beraten. Als ich zum zweiten Mal in die Schulklasse kam, haben mir die Neuntklässler dieses Gymnasiums in Baden-Württemberg - wohl bemerkt, bei uns ist die Welt noch in Ordnung -
gesagt: Frau Mast, wir wollen einen Mindestlohn, Sicherheit am Arbeitsplatz, eine unbefristete Beschäftigung etc. pp. - Das ist all das, was Sie nicht wollen. Sie machen Politik gegen die junge Generation, wenn Sie gute Arbeit nicht in den Mittelpunkt Ihrer Politik stellen.
Lassen Sie mich ?gute Arbeit? definieren; denn im Gegensatz zu Ihnen hat sich meine Partei, die SPD, mit dem Thema sehr intensiv auseinandergesetzt, und sie weiß, was gute Arbeit ist. Für uns ist gute Arbeit zuerst Arbeit, die die Würde schützt.
Das ist Arbeit, mit der ich mir aufgrund eines Mindestlohns wenigstens meine Existenz sichern kann und die mir die soziale Teilhabe und die Teilhabe an den sozialen Sicherungssystemen ermöglicht; denn gute Arbeit bedeutet nicht nur Broterwerb, sondern ermöglicht auch die soziale Teilhabe in dieser Gesellschaft. Das macht gute Arbeit aus.
Außerdem wird durch gute Arbeit die Vereinbarkeit von Familie und Beruf ermöglicht. Es bringt uns hier nicht weiter, wenn künstliche Konflikte zwischen den Teilzeitarbeitenden und den Vollzeitbeschäftigten heraufbeschworen werden, weil sowohl für die Teilzeitbeschäftigten als auch für die Vollzeitbeschäftigten der Grundsatz der Würde der Arbeit gilt. Es geht darum, dass man seine menschlichen und familiären Bedürfnisse mit der Erwerbstätigkeit vereinbaren kann. Dafür kämpft die Sozialdemokratische Partei Deutschlands.
Das wird immer wieder vergessen: Bei guter Arbeit geht es nicht nur um die Vereinbarkeit von Familie und Beruf, die Würde der Arbeit, Perspektiven sowie die soziale und demokratische Teilhabe, sondern vor allen Dingen auch um die Weiterentwicklung der eigenen Qualifikation. Dazu zählt erstens, dass die eigene Qualifikation erhalten bleibt, wenn man ins Erwerbsleben eintritt, und zweitens, dass man sie weiterentwickeln kann und damit durch Arbeit auch Chancen für den sozialen Aufstieg in dieser Gesellschaft eröffnet werden.
Gegen all diese Punkte machen Sie aktuell Politik. Deshalb diskutieren wir heute so engagiert. Meine Kollegen aus dem Ausschuss und der Staatssekretär können es vielleicht nicht mehr hören, aber Ihre Kürzungsvorschläge im Bereich Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik des Bundeshaushalts sind unsozial. Dazu wurde schon viel gesagt. Sie klauen durch Ihre Politik vor allen Dingen jungen Generationen Bildungschancen. Für uns besteht eine sehr wichtige Voraussetzung für gute Arbeit darin, dass in Bildung investiert wird. Sie wollen Rechtsansprüche in Ermessensleistungen umwandeln und gleichzeitig die Haushaltstitel kürzen.
Damit schaffen Sie alles ab, was jungen Menschen hilft, die durch den Rost gefallen sind. Vergessen Sie nicht, dass 70 000 Jugendliche in Deutschland die Schule ohne einen Abschluss verlassen! Heute war schon vom Bildungsbericht die Rede. Jeder sechste Jugendliche in Deutschland zwischen 20 und 30 Jahren hat keinen Berufsabschluss. Diese Zahlen machen mir Angst; denn es bedeutet, dass wir auch in puncto sozialen Zusammenhalt ein Problem bekommen. Sie wollen einfach Rechtsansprüche auf Bildung in Ermessensleistungen umwandeln, ohne dafür vor Ort Geld zur Verfügung zu stellen. Das ist doch im Kern Ihre Politik, mit der Sie der Gesellschaft Chancen nehmen. Mein Vorredner hat von Eigenverantwortung gesprochen. Woher soll sie denn kommen, wenn man den Menschen keine zweite Chance auf dem Arbeitsmarkt gibt?
Das sind die Probleme, um die es heute geht. Deshalb fordere ich Sie auf: Denken Sie darüber nach und erinnern Sie sich auch an die Politik, die wir gemeinsam gemacht haben! Wir und auf jeden Fall auch die Sozialpolitiker in der Union - das haben wir nämlich in der Großen Koalition gemeinsam hinbekommen - wissen doch, dass es nicht darum geht, nachzusorgen, sondern darum, vorzusorgen. Es geht darum, den Menschen Perspektiven und Wege zu eröffnen, statt sie ihnen zu verschließen. Das ist das Problem bei Ihren Kürzungsvorschlägen. Ich verstehe nicht, warum gerade Ursula von der Leyen, die sich in der Großen Koalition damit hervorgetan hat, Maßnahmen wie das Elterngeld und die Familienförderung mit unserer Unterstützung und unserer Konzeption im Vorfeld umzusetzen, jetzt in der vorsorgenden Sozialpolitik eine Rolle rückwärts macht. Kehren Sie um! Nur dann können wir in Deutschland gute Arbeit durchsetzen, von der Menschen leben können, wenn sie eine Vollzeitbeschäftigung haben.
Vielen Dank.
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:
Das Wort hat die Kollegin Gabriele Molitor von der FDP-Fraktion.
Gabriele Molitor (FDP):
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! In Deutschland sind gegenwärtig etwa 3,2 Millionen Menschen ohne Arbeit.
Die erste Sorge dieser Menschen ist sicherlich nicht, ob Mitbestimmung in einem Betrieb möglich ist oder wie das Streikrecht gestaltet ist. Diese Dinge sind ohne Frage wichtig. Aber die größte Sorge der Menschen ohne Arbeit ist, überhaupt Arbeit zu bekommen. Die Arbeitslosigkeit ist schließlich das Problem, dessen Ursache wir bekämpfen müssen. Damit müssen wir beginnen. Sie machen aber den zweiten Schritt vor dem ersten und kommen deshalb gewaltig ins Stolpern. Zugegeben, die Zeiten haben sich geändert, die Arbeitsbedingungen und die Erwerbsbiografien auch. Es gibt heutzutage kaum noch Arbeitnehmer, die 25 Jahre in einem Betrieb beschäftigt sind. Das war einmal. Heutzutage ist es entscheidend, flexibel und wettbewerbsfähig zu sein. Das sind die Menschen in aller Regel auch. Das, meine Damen und Herren von den Linken, scheinen Sie noch nicht begriffen zu haben. Das hat die Diskussion heute deutlich gezeigt. Sie haben auch nicht begriffen, dass zwischen Arbeitnehmer und Arbeitgeber ein Vertrag über den Faktor Arbeit geschlossen wird. Wenn die Forderungen dazu überzogen werden, kommt es gar nicht erst zur Einstellung. Das ist der Hintergrund.
Ein Prinzip unserer sozialen Marktwirtschaft ist, dass Politik den Rahmen für unternehmerisches Handeln vorgibt. Diese Praxis hat sich bewährt.
Liebe Kolleginnen und Kollegen von der Fraktion Die Linke, Sie malen das Bild einer Arbeitswelt, die es so nicht gibt, und Sie wollen die Menschen glauben machen, die Politik müsse nur die entsprechenden Gesetze ändern bzw. erlassen und die Arbeitswelt werde so, wie Sie sie gerne hätten. Das ist eine ideale Wunschwelt, die meilenweit von der Realität entfernt ist. Sie wird auch nicht realisierbar sein, weil die Rahmenbedingungen ganz anders sind.
Ihr Antrag ist ein Sammelsurium; alle möglichen Forderungen sind darin vereint. Natürlich fehlt auch nicht die obligatorische Forderung nach einem gesetzlichen Mindestlohn in astronomischer Höhe von 10 Euro.
Sie sind offensichtlich davon überzeugt, dass Ihre Forderung zu guter Arbeit führen wird. Ich sage Ihnen: Das ist ganz und gar nicht so.
Dies haben meine Kollegen und Vorredner bereits deutlich herausgestellt.
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:
Frau Kollegin Molitor, erlauben Sie eine Zwischenfrage?
Gabriele Molitor (FDP):
Nein, ich erlaube keine Zwischenfrage mehr. Ich denke, es sind schon genügend Argumente genannt worden.
Wir Liberalen haben ein klares Ziel: Obere Priorität ist, Menschen wieder in Arbeit zu bringen. Wir Liberalen wollen eine Politik, die den Menschen in den Mittelpunkt stellt. Es gilt, die Ursachen von Arbeitslosigkeit zu bekämpfen, indem wir die wirtschaftlichen Rahmenbedingungen verbessern und auf eine Beschäftigungspolitik setzen, die sich am Wachstum orientiert. Das ist die Politik der FDP, und dafür machen wir uns stark.
Vielen Dank.
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:
Das Wort hat der Kollege Dr. Matthias Zimmer von der CDU/CSU-Fraktion.
Dr. Matthias Zimmer (CDU/CSU):
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Nachdem die Kollegin Mast eben in ihrer Rede zusätzliche Reflexionstiefe bei der Behandlung des Themas angemahnt hat, will ich dies gerne aufnehmen und mit einigen nachdenklichen Bemerkungen über das Thema ?gute Arbeit? zusätzliche Argumente bringen, die mir wichtig sind.
Zunächst einmal ist der Begriff der Arbeit aus christlich-demokratischer, aus biblischer Sicht ausgesprochen ambivalent. Die Arbeit gehört zum einen zur Conditio humana, also zur Identität des Menschen schlechthin. Deswegen haben auch die Apostel und Jesus selbst gearbeitet. Arbeit ist zum anderen seit der Vertreibung aus dem Paradies auch mit Schmerzen, mit Last, mit den Tränen, die die Arbeit mit sich bringt, belastet. Das Paradies ist nicht mehr erreichbar.
Ich möchte aus der Deutschen Ideologie von Karl Marx zitieren, der das ?Reich der Freiheit? damit beschrieben hat, dass man morgens jagt, mittags fischt, abends Viehzucht betreibt und nach dem Essen kritisiert. Dies ist sicherlich eine sehr paradiesische Vorstellung vom Reich der Freiheit. Für mich wäre zumindest wichtig, dass aus diesem Reich der Freiheit keine Notwendigkeit wird, dass der Mensch also nicht gezwungen werde, morgens zu jagen, mittags zu fischen, abends Viehzucht zu betreiben und nach dem Essen zu kritisieren, damit er überhaupt seinen Lebensunterhalt verdienen kann. Gute Arbeit ist nach meinem Dafürhalten die Möglichkeit, sich auf einem Gebiet Anerkennung zu verschaffen und nicht aufgespalten zu werden.
Gute Arbeit ist des Weiteren nicht antagonistisch. Sie steht nicht in der Auseinandersetzung von Arbeit und Kapital. Deswegen wollen wir die Mitarbeiterkapitalbeteiligung ausbauen, um Brücken zwischen Arbeit und Kapital zu schlagen und dem Arbeitnehmer eine zusätzliche Möglichkeit zu geben, sich mit dem Betrieb zu identifizieren. Gute Arbeit ist nach meinem Dafürhalten dann gegeben, wenn die Arbeit als etwas Eigenes empfunden wird. Gute Arbeit ist also eine inklusive Arbeit. Dazu gehört die Mitarbeiterbeteiligung.
Ich betrachte mit großer Sorge die Zunahme von Mobbing- und Bossing-Fällen in der Arbeitswelt, mit Folgekosten in Höhe von bis zu 6,5 Milliarden Euro pro Jahr, die zum großen Teil von Rentenversicherern getragen werden müssen, weil sie die Rehabilitationsmaßnahmen finanzieren. Davon sind alle Berufe betroffen. Erstaunt hat mich aber, dass soziale Berufe überproportional von Mobbing- und Bossing-Prozessen betroffen sind, im Übrigen auch Gewerkschaften. Das heißt, dass dies kein individuelles Problem, sondern ein institutionelles Problem der Arbeitsorganisation ist. Deswegen handelt es sich für mich dann um gute Arbeit, wenn Arbeitsstrukturen nicht ausgrenzen, sondern eingrenzen.
Dazu gehört aber auch, dass wir uns mit der Frage nach der Beschleunigung und Verdichtung von Arbeitsinhalten, mit der Ausfransung der Grenze von Arbeit und Leben auseinandersetzen. Das ist für mich eine ernste Angelegenheit. Wenn ich in die Runde der Kollegen schaue, dann sehe ich, dass viele von ihnen ein Handy dabei haben. Das Handy ist mittlerweile nicht mehr Mittel, sondern schon fast Zweck. Es signalisiert die allgemeine Erreichbarkeit. Wir werden im Grunde genommen auf Relaisstationen der Informationsgesellschaft reduziert. Auch Arbeitnehmer sind allgemein verfügbar. Ich weiß, dass keiner der Kollegen im Bundestag das macht, aber es soll durchaus vorkommen, dass Arbeitgeber ihre Mitarbeiter auch weit nach dem Arbeitsende auf dem Handy anrufen - weil jederzeit jemand verfügbar ist - und mit Arbeitsaufträgen behelligen. Nach meinem Dafürhalten ist gute Arbeit dann gegeben, wenn Leben und Arbeit, Arbeit und Freizeit voneinander abgegrenzt sind und nicht unterschiedslos ineinander verschwimmen.
Gute Arbeit verweist also auf eine Werthaltung; sie basiert auf einem Verhalten jenseits von Angebot und Nachfrage, über das wir nachdenken müssen. Der Ökonom Wilhelm Röpke hat gesagt, sie habe etwas mit den sittlichen Reserven zu tun. Er benennt sie wie folgt: Selbstdisziplin, Gerechtigkeitssinn, Ehrlichkeit, Fairness, Ritterlichkeit, Maßhalten, Gemeinsinn, Achtung vor der Menschenwürde des anderen. Das alles ist sicherlich richtig. Wir brauchen nicht unbedingt einen neuen Grundkonsens, wie Gesine Schwan es heute Morgen beschrieben hat. Diese sittlichen Reserven sind nicht alles. Aber ich bin davon überzeugt: Wenn wir sie nicht haben, ist alles nichts.
Die Grundlage guter Arbeit ist, glaube ich, etwas komplexer, als es im Antrag der Linken zum Ausdruck kommt. Sie hat sehr viel mit Werthaltung zu tun. Darüber zu diskutieren, lohnt sich.
Ich danke Ihnen.
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:
Als letzter Redner zu diesem Tagesordnungspunkt hat der Kollege Ulrich Lange von der CDU/CSU-Fraktion das Wort.
Ulrich Lange (CDU/CSU):
Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen, insbesondere der Linksfraktion! Ich habe eigentlich gedacht, dass wir, nachdem wir uns Ende April mit diesem Thema hier im Hause befasst haben, ein Ende dieses unseriösen Sammelsuriums erreicht hätten. Aber es hat sich im Ausschuss und auch heute wieder gezeigt: Sie sind beratungsresistent, Sie sind und bleiben die Partei des Populismus, des sozialistischen Märchenlands. Man kann Ihnen einfach nicht folgen.
Meine Damen und Herren von den Linken, das zeigen auch Ihr Antrag und insbesondere die Rede der Präsidentschaftskandidatin, die Sie aufgestellt haben. Sie wollen eigentlich keine Verbesserung, nein, Sie wollen Unruhe in die Bevölkerung bringen.
Ich habe vorhin das Wort ?Kampfansage? mitgeschrieben. Wer Präsidentschaftskandidat ist, sollte sich überlegen, ob er in Debatten über die Arbeitsmarktpolitik Worte wie ?Kampfansage? verwenden will. Ich glaube, eine Präsidentschaftskandidatin sollte integrieren, die Bevölkerung mitnehmen und hier zeigen, was man für dieses Land leisten möchte. Das haben Sie heute nicht gezeigt.
Sie müssen im Brecht?schen Sinne das Volk erst suchen, das Sie wählt. Mit Ihrem Antrag sorgen Sie vor allem für Verunsicherung in der Bevölkerung. Sie tragen mit Ihrem klassenkämpferischen Ton dazu bei, Investoren vor diesem Land abzuschrecken. So werden keine Arbeitsplätze geschaffen; davon sind wir überzeugt.
Eines ist auch richtig: Wir haben - ich möchte die Kolleginnen und Kollegen der SPD einbeziehen - in der Krise gezeigt, wie man Arbeitsplätze erhält und Arbeitsplätze für die Zeit bereitstellt, wenn die Krise vorbei ist und die Konjunktur wieder anspringt. Durch das Kurzarbeitergeld können viele Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in den Betrieben bleiben.
- Die Konjunktur wird natürlich wieder anspringen.
Die Bilanz zeigt, dass wir seit dem Jahr 2003, als wir noch 5 Millionen Arbeitslose hatten, sehr viele gute Arbeitsplätze in diesem Land geschaffen haben, sodass Menschen wieder in Lohn und Brot gekommen sind. Das sollte man an dieser Stelle feststellen.
Es nutzt gar nichts, wenn man wie mit einer Walze über den konjunkturellen Aufschwung, der jetzt beginnt, hinweg zieht und völlig unrealistische Forderungen stellt wie die nach Abschaffung unbefristeter Arbeitsverhältnisse. Frau Müller-Gemmeke, darüber waren wir uns schon in der vergangenen Woche schon nicht einig. Darüber werden wir uns auch nicht einig werden, weil ich weiterhin glaube, dass befristete Arbeitsverhältnisse ein wesentlicher Motor für unseren Arbeitsmarkt sind.
Gleiches gilt für seriöse Zeitarbeit. Hier kämpfen wir gegen den Drehtüreffekt. Sie von der SPD - ich habe es schon in der vergangenen Woche gesagt - sollten sich nicht von all dem Guten und Sinnvollen verabschieden, das in den vergangenen Jahren für den Arbeitsmarkt in diesem Land getan worden ist. Ich will nicht auf den Kündigungsschutz, auf das Überbieten beim Mindestlohn oder auf den öffentlichen Beschäftigungssektor eingehen. Will denn tatsächlich jemand von uns nochmals einen bankrotten Staat mit einem bankrotten Beschäftigungssektor und bankrotten Staatsbetrieben? Am 17. Juni sollten wir doch eigentlich geistig weiter sein.
Die Liste Ihrer arbeitsplatzvernichtenden Forderungen ist lang. Ich kann Sie nur auffordern: Nehmen Sie die ideologische Brille ab! Versuchen Sie zu begreifen, was soziale Marktwirtschaft bedeutet! Versuchen Sie es endlich! Lesen Sie nicht Marx! Herr Schreiner, Sie können den Bischof Marx gern weiter lesen; das gestehe ich Ihnen zu. Lesen Sie aber nicht Marx und Engels! Lesen Sie nicht Lafontaine! Lesen Sie Ludwig Erhard! Dann wissen Sie, wie es geht.
Lesen Sie und schauen Sie, was wir in der Regierung leisten! Ich nenne als Beispiele nur das Beschäftigungschancengesetz und die Verlängerung der Dauer des Kurzarbeitergeldes in der Krise. Führen Sie nicht weiter eine Neidkampagne! Stellen Sie nicht den Arbeitgeber als böse und den Arbeitnehmer als gut dar! Beide arbeiten in den Betrieben gut und fair zusammen. Hetzen Sie sie nicht gegenseitig auf! Sorgen Sie für den sozialen Frieden, den es in den Unternehmen als Partnerschaft zwischen den Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern einerseits und den Arbeitgebern andererseits gibt! Unterstützen Sie das Erfolgskonzept der sozialen Marktwirtschaft! Das ist gute Arbeit.
Herzlichen Dank.
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:
Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Abstimmung über die Beschlussempfehlung des Ausschusses für Arbeit und Soziales zu dem Antrag der Fraktion Die Linke mit dem Titel ?Mit guter Arbeit aus der Krise?. Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/2069, den Antrag der Fraktion Die Linke auf Drucksache 17/1396 abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen bei Gegenstimmen der Fraktion Die Linke und Enthaltung der SPD-Fraktion und der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen angenommen.
[Der folgende Berichtsteil - und damit der gesamte Stenografische Bericht der 49. Sitzung - wird morgen,
Freitag, den 18. Juni 2010,
auf der Website des Bundestages unter ?Dokumente & Recherche?, ?Protokolle?, ?Endgültige Plenarprotokolle? veröffentlicht.]