In einer von der Fraktion Die Linke beantragten Aktuellen Stunde hat sich der Bundestag am Dienstag, 9. Februar 2010, mit dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts zu den Hartz-IV-Regelsätzen auseinandergesetzt. Das Gericht hatte die Ermittlung der Regelsätze als verfassungswidrig erklärt und eine Neuregelung bis Ende des Jahres 2010 verlangt. Von einem "Festtag für die Idee der sozialen Teilhabe" sprach Katja Kipping (Die Linke), Vorsitzende des Ausschusses für Arbeit und Soziales. Das Bundesverfassungsgericht habe eindeutig klargestellt, dass das Grundrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums keine Frage der Mildtätigkeit des Parlaments sei. Vielmehr sei es ein "Verfassungsgebot"
"Die Gewährung des Existenzminimums ist eine Pflicht, die nicht zur Verhandlung steht", betonte Kipping. Dabei gehe es laut Urteil nicht nur um das physische Existenzminimum, sondern auch um Teilhabe am kulturellen und politischen Leben. "Es geht nicht nur um Essen, Strom und Seife, sondern es geht auch um den Telefonanschluss, die Zeitung und den Besuch bei Freunden", sagte die Linken-Abgeordnete und forderte dazu auf, das Urteil ernstzunehmen.
Die Bundesregierung begrüße die "klarstellende Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts", sagte der Parlamentarische Staatssekretär im Bundesministerium für Arbeit und Soziales, Ralf Brauksiepe (CDU/CSU). "Das Urteil aus Karlsruhe gibt die Leitplanken vor, die gebraucht werden, um zu einer allgemein akzeptierten Leistungsbemessung zu kommen." Dabei habe das Gericht sowohl die Höhe der Regelsätze als auch die Berechnungsmethode im Grundsatz nicht in Frage gestellt.
Zukünftig müsse besser und nachvollziehbarer dargestellt werden, wie die Regelsätze zu Stande gekommen seien, sagte Brauksiepe. Dabei habe der Gesetzgeber laut dem Urteil einen Spielraum. Eine "automatischen Erhöhung" sei nicht zu erwarten, sagte er. Es sei daher wichtig, keine falschen Hoffnungen zu wecken. Bei der Neufestsetzung dürfe das Lohnabstandsgebot nicht außer Kraft gesetzt werden, forderte Brauksiepe. "Wer morgens früh aufsteht und zur Arbeit geht, darf sich nicht wie der Dumme fühlen."
Auf das Lohnabstandsgebot ging auch die stellvertretende Vorsitzende der SPD-Fraktion, Elke Ferner, ein. "Schaffen Sie die Vorraussetzungen, dass Menschen, die arbeiten auch von ihrem Lohn leben können", sagte sie an die Regierungsfraktionen gewandt. Der "unterste Hungerlohn" dürfe als Folge des Urteils nicht mehr der Maßstab sein, um die Grundsicherung festzusetzen.
Die "Verweigerungshaltung" der Koalition beim Thema Mindestlöhne sei daher "nicht mehr nachzuvollziehen". Auch Ferner hob hervor, dass das Gericht festgestellt habe: Das soziokulturelle Existenzminimum muss immer gewährleistet werden und steht nicht zur Dispositin."
Das Urteil sei "kein Ruhmesblatt für die rot-grüne Sozialpolitik", sagte Pascal Kober (FDP). Gleichwohl wolle sich die christlich-liberale Regierungskoalition der Herausforderung stellen, bis Ende des Jahres Änderungen herbeizuführen. Kober verwies darauf, dass das Gericht in seinem Urteil nicht die Höhe der Regelsätze, sondern vielmehr die "mangelnde Transparenz und die fehlenden Wertungsentscheidungen" kritisiert habe.
Die Frage, was Menschen über das physische Existenzminimum hinaus benötigten, um eine gesellschaftliche Teilhabe gewährleisten zu können, werde durch Union und FDP beantwortet. "Davor haben Sie sich bewusst oder unbewusst damals gedrückt", sagte Kober in Richtung SPD und Grünen. Gleichzeitig kündigte er an, die Sätze für Kinder "kinderspezifisch" auszugestalten.
Es müsse sofort gehandelt werden, verlangte Markus Kurth, sozialpolitischer Sprecher der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen. "Eine sofortige Erhöhung der Sätze für Erwachsene und Kinder wäre nicht falsch", sagte er.
Gleichzeitig stelle er die Frage, ob die Regelsatzfestlegung bei der Regierung gut aufgehoben sei oder ob dies nicht eher im Parlament diskutiert werden müsse. Dafür sprächen die Beurteilungen des Bundesverfassungsgerichts, wonach es "Schätzungen ins Blaue hinein" und "freihändige Schätzungen" gegeben habe. "Das ist absolut dramatisch", befand Kurth.
Bei allen verständlichen Emotionen, die das Urteil hervorgerufen habe, müsse doch "die Kirche im Dorf gelassen werden", forderte Carsten Linnemann (CDU/CSU). "Wir sind ein soziales Land", sagte er und verwies auf den 150-Milliarden-Euro-Etat im Bereich Arbeit und Soziales, der in diesem Jahr um weitere 15 Prozent gewachsen sei.
Gleichwohl freue sich die Unionsfraktion über die durch das Urteil erfolgte Klarstellung. Es dürfe nun aber kein "Wettlauf um die höchsten Regelsätze" beginnen. "Arbeit muss sich weiterhin lohnen", sagte Linnemann. Das Ziel seiner Fraktion bleibe es, möglichst viele Menschen in Beschäftigung zu bringen.