Vor einem Jahr wurde die große Reform beschlossen
Ein Jahr ist vergangen, seitdem die umfangreichste Änderung in der Geschichte des Grundgesetzes vorgenommen wurde. Dies war die Föderalismusreform I, beschlossen im Juni und Juli 2006. Sie sollte die verflochtenen Entscheidungsstrukturen zwischen Bundestag und Bundesrat, Bund und Ländern, neu regeln, zum Beispiel im Bereich Personal. Dem Bundestag und den Landtagen wurden zeitgemäßere Entscheidungsmöglichkeiten gegeben. Am 1. September 2006 traten die neuen Bestimmungen in Kraft. Doch bis dahin musste die Reform einen Marathon der Entscheidungsfindungen zurücklegen. Ein Rückblick auf eine viel debattierte Reform.
Der lange Weg zur Reform der bundesstaatlichen Ordnung begann bereits im Oktober 2003. Eine extra eingerichtete Kommission unter dem Vorsitz von Franz Müntefering (SPD) und Edmund Stoiber (CDU/CSU) sollte Vorschläge erarbeiten, die die Handlungsfähigkeit von Bund und Ländern verbessern.
Anlass dafür war die Frage, ob die Ordnung dieses
Bundesstaates noch zeitgemäß sei - angesichts der
Entwicklungen in den letzten fünf Jahrzehnten. Doch die
Kommission scheiterte am 17. Dezember 2004. Sie konnte keine
Einigung für die Neuordnung der Kompetenzen in der
Bildungspolitik erreichen. Beim Jobgipfel am 17. März 2005
wurde die Wiederaufnahme der Arbeit an der Reform zwar beschlossen,
doch der außerplanmäßige Wahlkampf verhinderte
dies.
Nach der Bundestagswahl, im Herbst 2005, gingen CDU/CSU und SPD während der Koalitionsverhandlungen die Reform erneut an. In einer Anlage des Koalitionsvertrages hielten sie die Änderungsvorschläge für das Grundgesetz fest. Diese entsprachen den Ergebnissen der zuvor gescheiterten Föderalismuskommission. Das Gesetzespaket umfasst ein Gesetz zur Änderung des Grundgesetzes, ein Föderalismusreform-Begleitgesetz sowie gleichlautende politische Entschließungen von Bundestag und Bundesrat. Kanzlerin Merkel lobte den Mut für die umfassendste aller Verfassungsänderungen. Die Reform werde die Zuständigkeiten zwischen Bund und Ländern eindeutiger regeln.
Es folgten Beratungen im Bundeskabinett, in den
Koalitionsfraktionen und der Ministerpräsidentenkonferenz am
6. März. Gleichzeitig debattierten Bundestag und Bundesrat
über die Reform.
Am 30. Juni 2006, fast drei Jahre nach der Einrichtung der Föderalismuskommission, beschloss der Bundestag die Verfassungsänderung. 428 Parlamentarier votierten in namentlicher Abstimmung dafür, 162 dagegen und 3 enthielten sich.
In der vierstündigen Debatte begründete Grünen-Chefin Renate Künast das Nein ihrer Fraktion insbesondere mit den Regelungen im Bildungs- und Umweltbereich. So werde der Bund nicht mehr gemeinsam mit den Ländern für ein Ganztagsschulprogramm sorgen können. Im Umweltbereich gebe es zu weit reichende Abweichungsrechte der Länder. Statt der "Mutter aller Reformen" sei ein "Scheinriese" herausgekommen.
Chef der FDP-Fraktion Guido Westerwelle kritisierte, dass die
Finanzbeziehung zwischen Bund und Ländern sowie der
Länder untereinander bei den Verhandlungen von vornherein
ausgeklammert worden sei. Der Vize der Fraktion DIE LINKE. Bodo
Ramelow sagte, so könne von einem ausgeglichenen Wettbewerb
der Länder kaum die Rede sein, wenn sehr unterschiedlich
finanzstarke Bundesländer in einen
Wettbewerbsföderalismus getrieben werden.
Die Spitzen von Union und SPD warben dagegen eindringlich für das nach jahrelangem Tauziehen erreichte Konzept. Bundeskanzlerin Angela Merkel gab sich überzeugt, "dass die Weichen heute für unser Land richtig gestellt werden". Es bestünde die historische Chance zur Neuordnung der "verflochtenen Verantwortlichkeiten" von Bund und Ländern.
Am 7. Juli 2006 stimmte auch der Bundesrat der Reform mit 62 von 69
Stimmen zu. Mecklenburg-Vorpommern lehnte das Gesetzespaket ab,
Schleswig-Holstein enthielt sich. Am 28. August fertigte
Bundespräsident Horst Köhler die Gesetze zur
Föderalismusreform aus. Am 31. August wurden sie im
Bundesgesetzblatt verkündet und am Tag darauf, dem 1.
September 2006, traten sie in Kraft.
Die Föderalismusreform soll das Gesetzgebungsverfahren beschleunigen und transparenter machen. Dafür soll die Zahl der zustimmungspflichtigen Gesetze von rund 60 Prozent auf 35 bis 40 Prozent sinken. Der Bundestag ist somit seltener auf die Zustimmung des Bundesrates angewiesen. Der Bundesrat muss weiterhin Gesetzen zustimmen, die erhebliche Kosten in den Ländern verursachen oder deren Steuereinahmen betreffen.
Die Länder verzichten auf einen Teil ihrer Mitwirkung im
nationalen Gesetzgebungsverfahren. Im Gegenzug erhalten sie
ausschließliche Gesetzgebungskompetenz in zahlreichen
Rechtsbereichen, darunter zum Beispiel Strafvollzug,
Gaststätten, Versammlung, Presse und Ladenschluss.
Außerdem entscheiden die Länder zukünftig selbst über das Dienstrecht für ihre Beamten und über deren Besoldung. Der Bund behält nur noch die Zuständigkeit für die Statusfragen der Beamten. Umgekehrt werden auch Kompetenzen auf die Bundesebene verlagert: Künftig ist allein das Bundeskriminalamt zuständig für die Abwehr von Gefahren, die vom internationalen Terrorismus ausgehen, sofern diese Gefahren länderübergreifend sind.
Zusätzlich bekommen die Länder in Teilen des Umwelt- und Bildungsrechts ein "Abweichungsrecht". Damit können sie von Bundesregelungen abweichende, eigene Gesetze beschließen. Auf der anderen Seite dürfen Gesetze, mit denen der Bund versucht, die Regelungsbefugnisse auf diesen Teilgebieten wieder an sich zu ziehen, erst nach sechs Monaten in Kraft treten. Die Bildungspolitik wird weitgehend Ländersache. Beim Bund verbleibt lediglich die Kompetenz zur Regelung von Hochschulzulassung und -abschlüssen, wovon die Länder wiederum abweichen können. Der Bund behält auch die Oberhand über den betrieblichen Teil der beruflichen Bildung im dualen System.
Ebenso gehört der nationale Stabilitätspakt in der Finanzpolitik zu den wichtigsten Neuregelungen. Bei Verstößen gegen den Europäischen Stabilitätspakt tragen der Bund 65 Prozent und die Länder 35 Prozent der finanziellen Lasten. Den Steuersatz für die Grunderwerbsteuer können die Länder künftig selber festlegen.
Zu guter Letzt wurde durch die Föderalismusreform I auch der Hauptstadt-Status von Berlin im Grundgesetz bekräftigt.
Nun hat die Arbeit am nächsten wichtigen Vorhaben der
Großen Koalition begonnen, an der Reform der
Finanzbeziehungen zwischen Bund und Ländern - der
Föderalismusreform II.