2. Mai 1945: Sowjetflagge weht auf dem
Reichstagsgebäude
Von Michael S.
Cullen
Das Foto, auf dem Soldaten der Roten Armee das "Banner des Sieges" hissen, gehört zu den berühmtesten Aufnahmen des 20. Jahrhunderts. Allerdings ist es eine Nachstellung, aufgenommen von Jewgenij Chaldej. Die Fahne auf dem Foto ist nicht diejenige, die nach der Erstürmung des Reichstagsgebäudes gehisst wurde, die Männer sind nicht die Soldaten, die die Fahne in diesem Moment gehisst haben, und die Aufnahme wurde nicht im Augenblick der Eroberung gemacht.
Historiker brauchen zuverlässige Quellen. Im Fall der roten Fahne auf dem Reichstagsgebäude aber gibt es zahlreiche Aussagen von Soldaten, die zum Teil lange nach dem Ereignis veröffentlicht wurden und sich oft auch widersprechen. Ein Historiker zählte 95 Versionen dieses Ereignisses.
Glaubhaft ist, dass fünf Kompanien der Roten Armee miteinander wetteiferten, die Fahne auf dem Reichstagsgebäude zu hissen und damit 'ewigen Ruhm' zu erlangen - glaubhaft, weil alle Erzähler das Gleiche berichteten. Gleichwohl ist der offizielle "Tagesbefehl" der Roten Armee bisher nicht veröffentlicht worden.
Als sicher kann auch gelten, dass eine rote Fahne am 30. April 1945, zwischen 22 und 23 Uhr, ins Innere des Reichstagsgebäudes gebracht wurde. Nicht sicher ist dagegen, wie lange sie da blieb. Das erste Foto einer Fahne auf dem Reichstagsgebäude erschien am 3. Mai 1945 in der Prawda, dem Organ der Kommunistischen Partei der UdSSR. Die Aufnahme, die vermutlich am 1. Mai entstand, zeigt die Fahne am Südostturm.
Auch der Armeefotograf Jewgenij Chaldej wollte Aufnahmen machen. Er besorgte sich eine rote Fahne (30 Jahre später behauptete er, er habe sich eine Fahne aus einem Tischtuch gebastelt), brachte einige Rotarmisten zum Dach auf der Ostseite des Reichstagsgebäudes und machte seine nunmehr berühmten Aufnahmen. Noch ist unbekannt, wann und wo dieses Foto zum ersten Mal veröffentlicht wurde.
Wer aber waren die Rotarmisten, die das "authentische" Banner hissten? Hier gibt es noch mehr Ungereimtheiten. Als sicher gelten kann, dass sie nicht diejenigen Soldaten waren, die auf dem berühmten Foto zu sehen sind. Und heute gilt als ziemlich sicher, dass es auch nicht diejenigen Soldaten waren, die bis 1990 offiziell genannt wurden - Mikhail Jegoroff und Meliton Kantarija, die sogar bis 1992 Ehrenbürger Berlins waren.
Am 8. Mai 1996 berichtete die Zeitung "Moskau am Abend", dass die Ehre drei Soldaten gebühre: dem Ukrainer Alexei Nikolaiew, dem Dagestaner Abdullhakim Ismailow und dem Weißrussen Leonid Gorjatschow. Sie erzählten 50 Jahre nach dem Ereignis, dass man sie damals unter Todesandrohung zwang, niemals von ihrem Mitwirken zu erzählen.
Allerdings behaupten auch andere Soldaten, die Fahne angebracht zu haben: die Feldwebel Sagitow, Lisimenko und Mikhail Petrowitsch Minin, unter Anleitung eines Hauptmanns Makow. Neuerdings behauptet Minin zudem, er habe die Tat allein vollbracht. Licht ins Dunkel kann hier nur die Öffnung der Archive der Roten Armee bringen.
1994 begleitete ich Chaldej bei einem Berlinbesuch aufs Dach des Reichstagsgebäudes. Dort erzählte er von der Entstehung seines Fotos und auch, dass er sein Geburtsdatum gefälscht hatte, um sich älter zu machen: Lange hatte er behauptet, dass er 1916 geboren wurde. Tatsächlich wurde er am 10. März 1917 in Donetsk in der Ukraine geboren. Chaldej starb in Moskau am 6. Oktober 1997.