Berlin: (hib/BOB) Gegensätzliche Ansichten vertreten Experten in der Frage, ob die Urteile gegen Kriegsverräter pauschal und ohne Einzelfallprüfung aufgehoben werden sollen. Das verlangt die Linksfraktion in einem Gesetzentwurf ( 16/3139), der am heutigen Nachmittag Gegenstand einer Anhörung im Rechtsausschuss ist. Die Linke hatte die Forderung nach einer Aufhebung unter anderem damit begründet, die Kriegsverräter hätten aus "zutiefst humanen Gründen gehandelt". Eine Aufhebung der Urteile sei für die Angehörigen getöteter oder mittlerweile verstorbener Verurteilter zudem ein wichtiges moralisches und politisches Zeichen, dass ihre Verwandten nicht länger als Straftäter gälten, so die Fraktion.
Professor Sönke Neitzel von der Universität Mainz spricht sich in seiner Stellungnahme gegen den Gesetzentwurf aus: Ein solcher Beschluss hätte zur Folge, dass das opportunistische Verhalten einer über Einzelfälle weit hinausgehenden Gruppe von Wehrmachtssoldaten mit dem Gewissensentscheid, etwa eines Hans Oster (deutscher General und Widerstandskämpfer) auf eine Stufe gestellt werden würde. Gerade bei einem politisch wie moralisch sensiblen Thema wie dem Kriegsverrat erfordere das Gebot der historisch-kritischen Analyse "zwingend" eine sorgfältige Differenzierung der Motive jener Männer und Frauen, die Kriegsverrat begingen oder dessen beschuldigt wurden. Neitzel weist zudem darauf hin, es sei zwingend erforderlich, die überlieferten 180.000 Akten der Feldgerichte im Bundesarchiv-Militärarchiv in Freiburg ebenfalls auswerten. Professor Rolf-Dieter Müller vom Militärgeschichtlichen Forschungsamt aus Potsdam wendet sich ebenfalls gegen eine "pauschale Lösung". Durch die bisherigen Regelungen sei der mögliche Unrechtsgehalt bei Kriegsverratsurteilen grundsätzlich anerkannt. Durch das Angebot einer Einzelfallprüfung sei zudem eine angemessene Berücksichtigung auch des möglichen Strafgehalts der Tat der Verurteilten vorgesehen. Die Einzelfallprüfung müsse deshalb nicht als unzumutbar angesehen werden, so Müller in seiner Stellungnahme.
Professor Wolfram Wette von der Universität Freiburg widerspricht dem in seiner Beurteilung: Die meisten der wegen Kriegsverrats verurteilten Wehrmachtsoldaten hätten auf unterschiedliche Weise politischen Widerstand gegen das NS-Regime geleistet; andere hätten verfolgten Juden oder Kriegsgefangenen geholfen. Wieder andere seien desertiert und zu den Partisanen übergelaufen. Selbst die einseitig von der Betrachtungsweise der NS-Militärrichter geprägten Quellen ließen erkennen, dass die meisten Fälle von "Kriegsverrat" politisch oder ethisch-moralisch motiviert gewesen seien. Sie seien Opfer einer willkürlich urteilenden und gnadenlosen NS-Militärjustiz gewesen. Wettes Fazit: "Wer Widerstand gegen das verbrecherische NS-Regime für legitim hält, sollte den wegen Kriegsverrats Verurteilten die Rehabilitierung nicht verweigern." Ludwig Baumann, Vorsitzender der Bundesvereinigung Opfer der NS-Militärjustiz e.V. aus Bremen, pflichtet ihm in seiner Stellungnahme bei: Die Urteile wegen Kriegsverrat müssten aufgehoben werden, weil gerade die Kriegsverräter aus ethisch-moralischen und politischen Motiven und Gründen heraus gehandelt hätten.
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