Pressemeldung -
08.05.2005
Ansprache von Bundestagspräsident
Thierse bei der Gedenkstunde von Bundestag und Bundesrat am 8.
Mai
60 Jahre sind vergangen seit durch die
bedingungslose Kapitulation Deutschlands unser Land und ganz Europa
von der Nazidiktatur frei wurde und der furchtbarste und
opferreichste Krieg der Menschengeschichte zu Ende war.
Deutschland hatte den Krieg, den es selbst vom Zaune gebrochen
hatte, verloren. Die Niederlage war vollständig. Der
Neuanfang, der Wiederaufbau konnten nur durch eine ebenso
vollständige Abkehr vom Faschismus gelingen. Das wurde auch
für das deutsche Volk zu einer Geschichte der Befreiung, die
nach 45 Jahren, im Jahre 1990, mit der Wiedervereinigung
Deutschlands vollendet wurde.
Wir gedenken heute aller Opfer der Gewaltherrschaft der
Nationalsozialisten und des Krieges und erinnern uns
Wir erinnern
an die Verbrechen der Nazis,
an die 6 Millionen ermordeter europäischer Juden,
an die ermordeten Sinti und Roma,
an die Verfolgung politischer, ethnischer, sexueller,
religiöser Minderheiten,
an die Opfer der Euthanasie,
an die Opfer des Widerstandes,
an die Gefallenen und an die zivilen Opfer des Krieges und der den
Eroberungen nachfolgenden deutschen Ausrottungsfeldzüge vor
allem in Polen und bei den Völkern der damaligen
Sowjetunion,
an die Opfer der Bombardierungen und der Vertreibungen.
Wir gedenken heute aller Opfer von Gewaltherrschaft und Krieg und
erinnern uns. "Erinnern heißt", sagte Richard von
Weizsäcker in seiner Rede zum 40. Jahrestag des 8. Mai 1945,
"Erinnern heißt, eines Geschehens so ehrlich und rein zu
gedenken, dass es zu einem Teil des eigenen Innern wird."
20 Jahre später sagen Viele - und ich glaube es auch - dass
der ehrliche Umgang mit dieser verbrecherischen Vergangenheit
inzwischen zu einem Teil unserer kollektiven Identität als
Deutsche geworden ist. Nach 60 Jahren aber beginnt ein
Generationen- und Zeitenwechsel: Nationalsozialismus, Krieg und der
organisierte Völkermord werden immer weniger lebendige
Erfahrungen von Zeitzeugen bleiben, sondern immer mehr zu
Ereignissen der Geschichte werden; sie wechseln von
persönlicher Erinnerung in das durch Wissen vermittelte
kollektive Gedächtnis. In den eindringlichen Worten Jorge
Sempruns gesprochen: "Bald wird niemand mehr sagen können: Ja,
so war es, ich war dabei."
Deswegen ist es gut, dass wir in diesem Jahr ein neues, lebhaftes
Interesse der Jüngeren an den Zeugnissen und Berichten der
Älteren erleben, dass eine Fülle von Veranstaltungen, von
Filmen und von Dokumentationen Besucher und Zuschauer anlocken,
dass neue und neu aufgelegte Bücher zum Thema viele Leser
finden.
Denn so wird das vor 60 Jahren Geschehene vergegenwärtigt und
verarbeitet und in unser kulturelles Gedächtnis
übertragen und damit festgehalten.
In unser gemeinsames kulturelles Gedächtnis werden gewiss sehr
verschiedene individuelle und auch widersprüchliche
Erinnerungen eingetragen. Erinnerungen
an Befreiung und Niederlage,
an Freude über das Ende von Krieg, Terror und Angst,
an Trauer über den Tod so vieler Menschen und über den
Verlust von Heimat.
Ich bin in diesen Wochen und Monaten - auch und gerade im Ausland -
gefragt worden, was es bedeute, dass nun häufiger als
früher auch von den eigenen deutschen Opfern die Rede sei. Die
Antwort kann nur lauten: Die Trauer um die Opfer in den
verwüsteten und bombardierten deutschen Städten und um
die Opfer der Vertreibung ist nicht nur legitim, sondern sie
gehört zur vollständigen Erinnerung. Ich erinnere mich an
die verordnete Tabuisierung dieser Opfer in der DDR und daran, wie
sehr dies die betroffenen Menschen verletzte. Ich erinnere auch an
den Missbrauch dieser Trauer zur Aufrechnung gegen die deutsche
Schuld. Aber heute kommt wohl kein vernunftbegabter Deutscher mehr
auf die Idee, dass der 8.Mai 1945 vom 30. Januar 1933 getrennt
werden könnte, dass man Ursache und Wirkung von Krieg, Tod und
Leid vernebeln oder das verursachte Leid gegen das erlittene Leid
aufrechnen könnte oder dürfte.
Die Bewahrung der Erinnerung und das Gedenken an die Opfer von
Gewaltherrschaft und Krieg - sie verpflichten uns zur Verteidigung
der Demokratie heute und zu aktiver Friedenspolitik heute.
Ich grüße und begrüße die Menschen am
Brandenburger Tor auch stellvertretend für alle, die
mithelfen, dass weder unsere Straßen und Plätze noch
unsere Sprache und unser Denken noch einmal Feinden der Demokratie,
dumpfen Nationalisten und Rassisten überlassen bleiben. Sie,
die sich heute am Brandenburger Tor versammeln, wissen: weil
Humanität, Zivilität und Demokratie als Staatsform, die
die individuelle und gleiche Freiheit aller Menschen anstrebt,
immer gefährdet sind - daran mahnt nicht zuletzt der heutige
Gedenktag - deshalb sind sie kostbar, bedürfen sie des
bürgerschaftlichen, des engagierten Schutzes.
Lassen Sie mich diese Gedenkstunde nicht eröffnen, ohne an
eine weitere Konsequenz zu erinnern, die wir in Europa gezogen
haben aus dem Krieg, der heute erst vor 60 Jahren zu Ende war. Ich
meine das Werk der europäischen Einigung.
Gerade weil der Alltag der Europäischen Union mit Vorliebe
kritisch diskutiert wird, ist daran zu erinnern, dass die EU nach
Jahrhunderten europäischer Kriege, nach den von Deutschland zu
verantwortenden entsetzlichen Kriegen des 20. Jahrhunderts die
Verwirklichung einer konkreten Utopie des Friedens ist. Das macht
sie so kostbar - über ihren wirtschaftlichen und sozialen Sinn
hinaus.
Unsere Verfassung, das Grundgesetz unserer Freiheit und die
dauerhafte europäische Einbettung und Verpflichtung
Deutschlands - das sind die wichtigsten Konsequenzen aus jenem Tag
vor 60 Jahren, für die wir in aller Zukunft einzustehen
haben.
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