Vorabmeldung zu Gastbeiträgen und Interviews in der nächsten Ausgabe der Wochenzeitung
„Das Parlament“ (Erscheinungstag: 30. Juli 2007)
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DGB will Rente mit 67 kippen – Straubhaar und Miegel verteidigen das Gesetz
Der Deutsche Gewerkschaftsbund (DGB) macht weiter Front gegen die Rente mit 67. Für viele ältere Beschäftigte werde die Heraufsetzung des Renteneinstiegsalters „eine reine Rentenkürzung bedeuten. Und für viele Jüngere baut sie noch höhere Hürden beim Einstieg ins Berufsleben auf, wenn Ältere tatsächlich länger im Job bleiben“, kritisiert DGB-Chef Michael Sommer in einem Gastbeitrag für die Wochenzeitung „Das Parlament“ (Erscheinungstag: 30. Juli). Für den DGB sei die Debatte „nicht beendet“. Ob die Rente mit 67 wirklich kommt, entscheide sich „endgültig erst 2010 mit der Arbeitsmarktüberprüfung“. Um die Anhebung des Renteneintrittsalters „halbwegs erträglich zu machen“, müssten fast drei Millionen Jobs zusätzlich geschaffen werden. Sommer betonte: „Daran werden wir beide Koalitionspartner messen – auch mit Blick auf die Bundestagswahl 2009.“
Dagegen bezeichnet der Direktor des Hamburger Weltwirtschaftsinstituts, Thomas Straubhaar, die Rente mit 67 als „eine ökonomisch kluge Entscheidung“. Sie sei „unabdingbar“. In einem Gastbeitrag für „Das Parlament“ verweist er darauf, dass aufgrund „der steigenden Lebenserwartung immer mehr Deutsche immer länger eine Rente beziehen“. Die durchschnittliche Rentenbezugsdauer liege heute bei 17 Jahren. Im Jahr 1970 seien es noch zehn Jahre gewesen. Gleichzeitig zeichne sich wegen der geringen Geburtenzahlen ein Rückgang der erwerbstätigen Beitragszahler ab.
Auch der Rentenexperte Meinhard Miegel verteidigte die Rente mit 67. Das Gesetz sei „das Mindeste, was geschehen musste“, sagte der Leiter des Instituts für Wirtschaft und Gesellschaft in Bonn in einem Interview mit „Das Parlament“. Er fügte hinzu: „Möglicherweise wird der Renteneintritt sogar noch weiter verschoben werden müssen.“ Miegel rechnet zudem mit einem weiteren Absinken des Rentenniveaus. „Das dicke Ende kommt, wenn sich die geburtenstarken Jahrgänge der 1960er-Jahre im Rentenalter befinden – so ab 2030. Dann wird das Rentenniveau auf etwa 40 Prozent und möglicherweise sogar noch darunter sinken“, unterstrich der Rentenexperte. Der heutige Berufseinsteiger werde am Ende seines Arbeitslebens eine Grundsicherung erhalten, „die vielleicht zwei Finger breit über dem Sozialhilfeniveau liegt“. Wer mehr haben will, müsse „schon jetzt anfangen vorzusorgen und zwar erheblich“, so Miegel.
Neben verstärkter Vorsorge hält der Vorsitzende der Sozialkammer der Evangelischen Kirche in Deutschland, Gert G. Wagner, Bildung für die beste Versicherung gegen Altersarmut. Gebildete Menschen bekämen besser bezahlte Jobs und hätten eher die Weitsicht vorzusorgen. „Bildung zahlt sich aber auch im Alter aus: Wer eine gute Bildung hat, kommt mit wenig Geld besser zurecht“, sagte Wagner in einem Interview mit „Das Parlament“. In einem weiteren Interview der Zeitung forderte die Gerontologin und frühere Bundesfamilienministerin Ursula Lehr (CDU) verstärkte Anstrengungen bei der berufsbegleitenden Weiterbildung. „Zur Zeit nehmen nur fünf Prozent der 50- bis 55-Jährigen und ein Prozent der 55- bis 60-Jährigen an Weiterbildungsmaßnahmen teil“, sagte Lehr.
Die Gastbeiträge im Wortlaut:
DGB-Chef Michael Sommer:
„Für viele ältere Beschäftigte wird die Rente mit 67 eine reine Rentenkürzung bedeuten. Und für viele Jüngere baut sie noch höhere Hürden beim Einstieg ins Berufsleben auf, wenn Ältere tatsächlich länger im Job bleiben. Derzeit arbeitet gerade einmal jeder Fünfte bis 65, am Bau ist es nur jeder Zehnte. Die anderen sind arbeitslos oder gesundheitlich angeschlagen. Und die Ausbildungsplatzlücke ist gewaltig, auch wenn Politik und Wirtschaft ihren Ausbildungspakt immer wieder schön rechnen.
Die Debatte um die Rente mit 67 ist mit der Bundestagsabstimmung vom 9. März 2007 für den DGB nicht beendet. Ob die Rente mit 67 wirklich kommt, entscheidet die Politik endgültig erst 2010 mit der Arbeitsmarktüberprüfung. Wir fordern unter anderem, dass sich die Arbeitsmarktlage für Ältere bis dahin entscheidend verbessert haben muss, um die Rente mit 67 wenigstens halbwegs erträglich zu machen. Dafür müssen fast drei Millionen zusätzliche Arbeitsplätze geschaffen werden. Daran werden wir beide Koalitionsparteien messen – auch mit Blick auf die Bundestagswahl 2009.
Wir brauchen also neue Impulse für mehr Beschäftigung und soziale Sicherheit insbesondere Älterer. Wir fordern, dass die Altersteilzeit samt Förderung durch die Bundesagentur für Arbeit über 2009 erhalten und weiterentwickelt wird. Außerdem muss mit einer Aufwertung der Erwerbsminderungsrente dafür gesorgt werden, dass Beschäftigte mit gesundheitlichen Beeinträchtigungen besser abgesichert werden, wenn sie nicht bis 67 arbeiten können. Und wir brauchen flankierend die Verlängerung der Bezugsdauer des Arbeitslosengeldes, damit langjährig Beschäftigten Hartz IV erspart bleibt. Wenn das alles erfüllt ist, sind wir bereit zu prüfen, ob die Rente mit 67 akzeptabel sein könnte.“
HWWA-Direktor Thomas Straubhaar:
„Als Reichskanzler Bismarck 1889 die gesetzliche Rentenversicherung in Deutschland schuf, durfte lediglich jeder fünfte Mann und jede dritte Frau hoffen, das 70. Lebensjahr und damit jene Altersgrenze zu erreichen, die ein Anrecht auf eine Rente sicherte. Damit war eines klar: Die Rente sollte die Ausnahme, nicht die Regel sein. Heute erreichen mehr als 80 Prozent der Männer und mehr als 90 Prozent der Frauen das Rentneralter von 65 Jahren.
Aufgrund der steigenden Lebenserwartung beziehen immer mehr Deutsche immer länger eine Rente. Die durchschnittliche Rentenbezugsdauer liegt heute bei 17 Jahren. 1970 hatte sie noch bei zehn Jahren gelegen. Gleichzeitig zeichnet sich wegen der geringen Geburtenzahlen ein Rückgang der erwerbstätigen Beitragszahler ab. Der Rest ist Mathematik. Entweder steigen pro Kopf die Rentenbei-träge oder aber die Rentenhöhe wird sinken. Soll die Rente nicht gekürzt werden, muss zwangsläufig die Bezugsdauer verringert werden. Genau dieser Absicht folgt die von der Großen Koalition beschlossene „Rente mit 67“. Das ist eine ökonomisch kluge Entscheidung.
Die Rente mit 67 ist ökonomisch unabdingbar. Sie schöpft die Fähigkeiten, das Wissen und Können der älteren Menschen besser aus. Sie ist sozial, weil sie nicht junge Alte zwangsweise in die Alterseinsamkeit versetzt, und sie ist verglichen zur Bismarckschen Altersgrenze von 70 Jahren eine geradezu bescheidene Anpassung an die demografi-schen Realitäten des 21. Jahrhunderts!“
Die Interviews im Wortlaut:
Mit Prof. Meinhard Miegel:
Im Hinblick auf die demografische Entwicklung und ihre Folgen für Deutschland sprechen einige Wissenschaftler von einem „Raubtier mit Krallen“, andere wiederum warnen vor einer Panikmache. Wie lautet Ihre Einschätzung?
Miegel: Ich kann weder mit der einen noch mit der anderen Position viel anfangen. Natürlich ist es falsch, Panik zu verbreiten. Umgekehrt ist es ziemlich einfältig, so zu tun, als seien die demografischen Veränderungen ein Sonntagsspaziergang. Niemand kann mit Gewissheit sagen, wie sich eine Bevölkerung verhalten wird, in der fast 40 Prozent das 60. und zehn Prozent das 80. Lebensjahr überschritten haben – die deutsche Wirklichkeit in etwa 40 Jahren. Denn dermaßen alte Bevölkerungen hat es in der bisherigen Menschheitsgeschichte noch nie gegeben.
Bietet das Schrumpfen eines Landes auch Chancen?
Miegel: Gewiss. Sowohl das Schrumpfen als auch das Altern. Deutschland, vor allem sein Westen, ist im internationalen Vergleich noch immer eine sehr dicht besiedelte Region. Würden hierzulande so viele Menschen pro Quadratkilometer leben wie in Frankreich oder Polen, würde die deutsche Bevölkerung heute nicht 82, sondern nur 41 Millionen zählen. So viele wie zuletzt 1871. Dabei haben weder Franzosen noch Polen das Gefühl, in menschenleeren Ländern zu leben. Zu Recht. Und auch das Altern bietet Chancen. Alte Gesellschaften sind friedfertiger, sicherheitsorientierter, vielleicht auch ein wenig umweltbewusster. Kriege jedenfalls dürften von Völkern mit Altenanteilen, wie wir sie in Kürze haben werden, nicht ausgehen.
Wie wirkt sich die demografische Entwicklung auf die Renten aus?
Miegel: Ganz eindeutig: Die Kaufkraft der Renten sinkt – anhaltend und spürbar. Was da an Rentenerhöhungen in Aussicht gestellt wird, ist besser als nichts, aber trotzdem Augenwischerei. Denn wenn die Nominalrente um 0,5 Prozent erhöht wird und zugleich der Geldwert um 1,8 Prozent sinkt, dann verliert die Rente 1,3 Prozent ihrer Kaufkraft und das geschieht ständig. Deshalb kann sich der Rentner von heute, der nur von seiner Rente lebt, nicht mehr das leisten, was sich der Rentner des Jahres 1997 leisten konnte und der Rentner von 2017 wird sich nicht mehr leisten können, was sich der Rentner heute leisten kann.
Was ist Ihre Prognose für das Rentenniveau? Ist die Annahme der Regierung von 46,6 Prozent im Jahr 2020 realistisch?
Miegel: Auf Stellen hinter dem Komma lasse ich mich nicht ein. Aber bis 2020 dürfte die Größenordnung stimmen. Das dicke Ende kommt, wenn sich die geburtenstarken Jahrgänge der 1960er-Jahre im Rentenalter befinden – so ab 2030. Dann wird das Rentenniveau auf etwa 40 Prozent und möglicherweise sogar noch darunter sinken.
Die OECD hat jüngst vor der Gefahr von Altersarmut in Deutschland für Geringverdiener gewarnt. Zu Recht?
Miegel: An der Lage von Geringverdienern wird sich im Vergleich zu heute wenig ändern. Sie werden sich auch künftig im Alter auf Sozialhilfeniveau befinden. Allerdings wird ihr Kreis größer werden. Die eigentlichen Veränderungen werden bei jenen zwei Dritteln der Bevölkerung eintreten, die weder zu den Reichen noch zu den Armen zählen. Dieser Bevölkerungsteil muss erhebliche zusätzliche Vorsorgeanstrengungen auf sich nehmen, wenn er im Alter so gestellt sein will wie derzeitige Rentner ohne private Altersvorsorge gestellt sind.
Die Große Koalition hat als jüngste Rentenreform die Rente mit 67 verabschiedet. Wie ist Ihre Meinung dazu?
Miegel: Ich weiß, dass die Bevölkerungsmehrheit das anders sieht. Trotzdem hat der Arbeitsminister Recht. Bis 2029 – erst dann ist das neue Gesetz voll wirksam – wird die Lebenserwartung nochmals um annähernd vier Jahre steigen. Selbst wenn also der Renteneintritt bis dahin um zwei Jahre hinausgeschoben wird, wird sich die Rentenbezugsdauer noch immer überproportional verlängern. Das Gesetz ist deshalb das Mindeste, was geschehen musste. Möglicherweise wird der Renteneintritt sogar noch weiter verschoben werden müssen.
Wie müsste Politik aussehen, die sich an demografischen Voraussagen und Statistiken orientiert?
Miegel: Sie müsste alles unternehmen, um das schwächer werdende demografische Fundament zu stärken und zu entlasten. Stärkung heißt vor allem: eine überzeugende Familienpolitik, die bestmögliche Bildung und Ausbildung der nachwachsenden Generation, anhaltende Qualifizierung der älteren Bevölkerungsteile, möglichst viele hoch produktive, sprich wissens- und kapitalintensive Arbeitsplätze. Entlastung heißt vor allem: Runter mit den öffentlichen Schulden, Schaffung finanzierbarer sozialer Sicherungssysteme, kein Weiterwälzen von Aufgaben auf die nächste Generation.
Sind die möglichen Versäumnisse der Politik noch aufzuholen?
Ein Stück weit. Aber nicht ganz. Der heute 50-Jährige, der nicht privat vorgesorgt hat, wird sich schwer tun, die Löcher zu stopfen, die in den vor ihm liegenden 30 Jahren im Rentensystem aufreißen werden. Hier hätte das Umsteuern von 25 Jahren beginnen müssen.
War und ist die Politik ehrlich genug?
Miegel: In der Vergangenheit war die Politik zutiefst unehrlich. Sie hat die Bevölkerung geradezu mutwillig in die Irre geführt. Das wirkt teilweise bis heute nach. Noch immer haben viele ganz falsche Vorstellungen von den Möglichkeiten und Grenzen einer gesetzlichen Alterssicherung. Inzwischen hat sich hier einiges verbessert. Viele Politiker sagen recht deutlich, was künftig zu erwarten ist. Das Paradox ist: Teile der Bevölkerung glauben ihnen nicht. Sie setzen bei der Altersvorsorge noch immer weitgehend auf den Staat, so als sei nichts geschehen.
Was erwartet Ihrer Meinung nach einen Berufseinsteiger von heute Mitte 20 am Ende seines Arbeitslebens?
Miegel: Der heutige Berufseinsteiger wird am Ende seines Arbeitslebens eine Grundsicherung erhalten, die vielleicht zwei Finger breit über dem Sozialhilfeniveau liegt. Wem das reicht, der braucht sich keine weiteren Gedanken zu machen. Der hat ausgesorgt. Wer mehr haben will, muss schon jetzt anfangen vorzusorgen und zwar erheblich.
Würden Sie den Jungen raten, zu meutern und aus dem Generationenvertrag auszusteigen?
Miegel: Das mit dem Generationenvertrag ist so eine Formulierung, die immer richtig und falsch zugleich war. Natürlich müssen die Jungen die Brötchen backen, die die Alten essen wollen und sie müssen diesen die Haare schneiden. Die Frage ist doch, wie der Transfer von Jung zu Alt organisiert werden soll. Bisher wurden den Jungen einfach die Mittel entzogen, die in die Taschen der Alten fließen sollten. Künftig werden die Menschen große Teile dessen, was sie im Alter benötigen, im Laufe ihres Lebens selbst ansparen müssen. Der Unterschied zum heutigen System ist beträchtlich. Durch die Ansparleistungen der künftig Alten wird nämlich Kapital gebildet, was wiederum hilft, die Produktivität der Arbeitsplätze zu erhöhen. Die Versorgung des alten Bevölkerungsteils wird dadurch erleichtert.
Sie haben bereits vor geraumer Zeit vor Schwierigkeiten gewarnt. Sind Sie frustriert, dass zu wenig gemacht wurde?
Frustriert ist der falsche Begriff, obwohl ich nicht verhehle, dass mich die Langsamkeit der Politik immer wieder in Erstaunen versetzt. Denn alles, was uns heute beschwert, hat sich über Jahre und Jahrzehnte entwickelt und war über lange Zeiträume vorhersehbar. Doch die Politik rührt immer erst dann die Hände wenn – bildlich gesprochen – die Kinder im Brunnen liegen. Vorausschauende Politik habe ich in all den Jahren nur selten erlebt. Gehandelt wurde immer nur auf kürzeste Sicht. Aber vielleicht liegt dies im Wesen menschlicher Gesellschaft im Allgemeinen und demokratischer Politik im Besonderen.
Mit Prof. Gert G. Wagner:
Die Entwicklung der Altersarmut machte jahrelang Mut, der Anteil der "armen Rentner" sank kontinuierlich. Nun warnt die OECD vor einem dramatischen Ansteigen in den kommenden Jahrzehnten auch in Deutschland. Ein realistisches Szenario?
Wagner: Durchaus. Im Vergleich zu dem, was war und sein wird, ist Altersarmut heute ein eher vernachlässigenswertes Phänomen. Der heutigen Rentnergeneration geht es besser als jeder vor ihr – und als jeder nach ihr. Grob gesagt werden sich Rentner von morgen in drei Gruppen unterteilen lassen: Einem Drittel wird es sehr gut gehen, ein weiteres wird zurechtkommen. Einem Drittel wird es finanziell wirklich schlecht gehen.
Wer wird besonders betroffen sein?
Wagner: Das Auskommen wird davon abhängen, ob die Menschen gezielt vorgesorgt haben – ohne betriebliche und private Vorsorge wird es nach den Rentenreformen der vergangenen 20 Jahre nicht gehen. Es wird also jene treffen, die an Vorsorge nicht gedacht haben – vor allem aber alle, die es sich nicht leisten konnten, etwas zurückzulegen, Geringverdiener, Hartz-IV-Empfänger, Arbeitslose. Ein höheres Risiko tragen vor allem Menschen, die nicht über einen langen Zeitraum betrieblich vorgesorgt haben: weil sie häufig den Arbeitgeber gewechselt, in kleinen Betrieben gearbeitet haben oder Selbstständige waren.
Was sollten Menschen tun, die kaum etwas beiseite legen können?
Wagner: Vor allem sollte man jede Chance nutzen, die sich bietet. So etwas wie die Riester-Rente, bei der der Staat für die private Vorsorge etwas dazugibt, kann man sich nicht entgehen lassen. Eins muss man sich als junger Mensch klar machen: Anders als im arbeitsfähigen Alter kann man sein Einkommen als Rentner kaum aufstocken. Die Zeiten, in denen man durchkommt, indem man einen zweiten und dritten Job annimmt oder mehr Stunden arbeitet, sind dann vorbei.
Stimmt die Legende vom "armen Ost-" und "reichem West-Rentner"?
Wagner: Ja und Nein. Die gesetzlichen Renten im Osten sind nicht niedriger als im Westen. Allerdings können die Menschen in der ehemaligen Bundesrepublik auf wesentlich mehr private Ressourcen in Form von Immobilien, privatem Vermögen und Erspartem zurückgreifen. Deswegen sind sie im Schnitt besser gestellt. Das wird über Jahrzehnte so bleiben.
Von privater Vorsorge abgesehen: Gibt es eine Versicherung gegen Altersarmut?
Wagner: Bildung! In jungen Jahren bewahrt eine gute Ausbildung oder ein Studium davor, in die Risikogruppe zu kommen – gebildete Menschen bekommen besser bezahlte Jobs und haben eher die Weitsicht vorzusorgen. Bildung zahlt sich aber auch im Alter aus: Wer eine gute Bildung hat, kommt mit wenig Geld besser zurecht.
Mit Prof. Ursula Lehr:
Frau Lehr, Sie sind 77 Jahre alt. Woran bemerken Sie ihr eigenes Alter?
Lehr: Das ist schwer zu sagen. Vielleicht müsste ich erst einmal in die Berge fahren und Klettertouren machen. Dann kann ich es Ihnen sagen (lacht gelöst).
Brauchen wir ein neues Bild vom Alter?
Lehr: Das Bild vom Alter hat sich in der Wissenschaft schon in den 60er-Jahren verändert – aber eben nicht im öffentlichen Bewusstsein. Altern muss nicht Abbau und Verlust bedeuten. Das negative Altersbild hat seinen Ursprung in medizinischen Untersuchungen vom Beginn des vergangenen Jahrhunderts. Damals haben fast nur Ärzte über das Alter geschrieben. Da es nicht üblich war, als relativ gesunder Mensch zur Vorsorgeuntersuchung zu gehen, waren die Mediziner nur mit den kranken alten Menschen konfrontiert. Das „normal aging“ wurde in Deutschland erst vom Beginn der 60er-Jahre an erforscht.
55 Prozent der 55-Jährigen und Älteren sind nicht mehr berufstätig und im Jahr 2030 wird jeder dritte Bundesbürger über 60 Jahre alt sein. Die Politik versucht, auf diesen demografischen Wandel Antworten zu geben und hat jetzt die Rente mit 67 beschlossen. Ist das ein richtiger Ansatz?
Lehr: Allerdings, den begrüße ich sehr! Aber es geht alles viel zu langsam. Man hätte viel früher eine Flexibilität der Altersgrenze auch nach oben erreichen müssen. Die Anzahl der Jahre sagt grundsätzlich wenig über die Fähigkeiten, Fertigkeiten und Verhaltensweisen eines Menschen aus. Der eine mag nach harter körperlicher Arbeit mit 60 reif für den Ruhestand sein, der andere ist mit 70 Jahren immer noch sehr leistungsfähig. Warum sollte der nicht länger arbeiten? Manch einer ist sogar erst mit über 30 Jahren ins Berufsleben eingestiegen. Wir werden heute immer älter und bleiben dabei auch länger gesund. Die Lebenserwartung der Neugeborenen verlängert sich pro Jahr um drei Monate. Wenn man heute in den Ruhestand geht, hat man oft noch ein Viertel, manchmal sogar ein Drittel seines Lebens vor sich.
Wie können ältere Arbeitnehmer den Anforderungen des oft hektischen und immer schneller werdenden Berufslebens gerecht werden? Was muss es für Modelle geben, damit die Leistungskraft von älteren Menschen optimal genutzt wird?
Lehr: Wir benötigen berufsbegleitende Weiterbildung, betriebliche Gesundheitsförderung und auch mehr Flexibilität in der Arbeitszeit. Zur Zeit nehmen nur fünf Prozent der 50- bis 55-Jährigen und ein Prozent der 55- bis 60-Jährigen an Weiterbildungsmaßnahmen teil.
Wird in einer schrumpfenden und älter werdenden Gesellschaft genug Wachstum generiert? Ältere Arbeitnehmer gelten als weniger kreativ als jüngere.
Lehr: Das ist doch ein Vorurteil. Viele Erfindungen werden erst in einem höheren Alter gemacht. Wir brauchen Alt und Jung zusammen in der Arbeitswelt. Auch ältere Menschen haben Innovationskraft und reichen Patente ein, ihre Erfahrung, ihr Wissen ist viel wert. Und langsam erkennt das auch die Wirtschaft. Eine Trendumkehr ist eingeläutet: Die Zahl der sozialversicherungspflichtig Beschäftigten ist unter den 55-Jährigen von 2002 auf 2006 von 2,77 Millionen auf immerhin 3,11 Millionen Menschen gestiegen.
Das ehrenamtliche Engagement war in Deutschland lange sehr verbreitet. Doch hat man bei den heute 65-Jährigen bisweilen den Eindruck, dass sie oftmals lieber auf dem Golfplatz stehen, statt sich um die Enkelkinder zu kümmern oder Nachbarschaftshilfe zu leisten. Die Generation der heute 85-Jährigen hatte eine andere Einstellung...
Lehr: Das ist nur zum Teil richtig. Ja, es gibt in der Generation der 60-Jährigen bisweilen eine solche Haltung. Allerdings darf man nicht übersehen, dass sich dennoch knapp 40 Prozent der 60-Jährigen ehrenamtlich engagieren. Hinzu kommt, dass viele der 60-Jährigen und Älteren für Kinder, Enkel, Eltern und Schwiegereltern sorgen. In der Generation der heute 80- bis 85-Jährigen, deren Jugend durch Kriegs- und Nachkriegszeit bestimmt war, wurde Freizeit ein Leben lang klein geschrieben. Sie erlebten noch die
60-, dann die 48-Stunden-Woche, Samstag als vollen Arbeitstag. Bis 1957 gab es einen Urlaubsanspruch von zwölf Tagen im Jahr, Samstage mit eingerechnet. Wann konnten diese Menschen überhaupt Freizeitaktivitäten entwickeln?
Dennoch haben viele Jüngere das Gefühl, dass die heute 65-Jährigen auf Kosten der nachfolgenden Generation leben.
Lehr: Zunächst muss man festhalten, dass ein Generationenkonflikt oft herbeigeredet wird, dass es zwischen den Generationen im privaten Bereich noch nie so eine große Harmonie gab wie heute. In verschiedenen Generationenstudien wurde festgestellt, dass frühere Jahrgänge mit ihren Eltern weit mehr Auseinandersetzungen hatten. Damals gab es weit mehr Verbote und Gebote, und viele Themen, wie zum Beispiel Sexualität, waren tabuisiert. Heute ist das Verhältnis zwischen Eltern und Kindern, Großeltern und Enkeln ein viel offeneres. Allerdings muss man auch sehen, dass sich dieses private oftmals gute Verhältnis der Generationen untereinander gesellschaftspolitisch kaum abbildet. Ich erinnere nur an die Äußerungen, denen zufolge 85-Jährige keine künstlichen Hüften und 75-Jährige keine Dialyse mehr auf Kosten der Solidargemeinschaft finanziert bekommen sollten. So kommen wir nicht weiter. Wir brauchen ein gegenseitiges Verständnis zwischen den Generationen. Die Jüngeren sollten die erbrachten Leistungen der Älteren zur Kenntnis nehmen, die es in ihrem Leben in mancher Hinsicht viel schwerer hatten. Wir Älteren aber müssen einsehen, dass die Jungen finanziell überfordert sind. Die heute erwerbstätigen 25- bis 60-Jährigen müssen für Kinder und für zwei Generationen im Rentenalter aufkommen.
Während die heutige Generation Älterer im Allgemeinen gut abgesichert ist, findet die Generation der 30- bis 45-Jährigen oft keinen nachhaltigen Einstieg ins Berufsleben, hangelt sich von Job zu Job. Steuern wir in 15 Jahren auf eine neue Altersarmut zu?
Lehr: Es kann eine Schieflage geben. Aber oft greifen heute die Großeltern den Kindern und Enkeln finanziell ganz gehörig unter die Arme. Doch nicht jeder hat Großeltern, die zuschustern können. Heute kann man nur an jeden appellieren, privat vorzusorgen. Zudem sollte jeder, der keinen Job hat, ständig in seine Bildung investieren, zum Beispiel eine weitere Fremdsprache lernen, sich neues Wissen aneignen. Schon bald werden wir aufgrund des demografischen Wandels wieder qualifizierte Arbeitskräfte brauchen. Alle, die sich um Bildung und Weiterbildung bemühen, egal welchen Alters, werden gefragt sein.