Vorabmeldung zu einem Interview in der nächsten Ausgabe der
Wochenzeitung „Das Parlament“ (Erscheinungstag: 21. April 2008)
– bei Nennung der Quelle frei zur sofortigen Veröffentlichung –
Der Dirigent und Pianist Daniel Barenboim ist überzeugt, dass es „keine militärische, sondern nur eine moralische und strategische Lösung“ im Konflikt zwischen Israel und Palästina geben kann. Im Interview mit der Zeitung „Das Parlament“ warnte er: „Entweder wir töten uns alle, oder wir finden einen Weg, miteinander zu leben.“ Für ihn sei die Einstaaten-Lösung inakzeptabel. Die Zwei-Staaten-Lösung könne heute nicht funktionieren, also müsse man eine Synthese bilden. „Für mich persönlich ist das ein palästinensischer Staat mit allen Rechten eines Staates, aber von Anfang an in einer Föderation mit Israel und noch besser mit Jordanien zusammen.“ Insgesamt sei er zwar „kurzfristig pessimistisch, aber langfristig optimistisch, denn dazwischen gäbe es nichts“.
Barenboim kritisiert das Verhalten der Israelis gegenüber den Palästinensern scharf: Wenn man den Krieg gewonnen und Unabhängigkeit erreicht habe, müsse man doch alles dafür tun, um vom Gegner akzeptiert zu werden. Man habe die „Aufgabe, Verpflichtung und Verantwortung für die Lebensqualität der Besetzten zu sorgen“, so Barenboim. „Was haben wir gemacht? Nichts. Tatsache ist, dass wir eine Situation geschaffen haben, die uns dorthin geführt hat, wo wir heute sind.“
Umgekehrt hätten die Palästinenser „einen Riesenfehler gemacht, den größten Fehler von allen, der auch verständlich ist: und das war, mit Gewalt vorzugehen. Hätten die Palästinenser Widerstand ohne Gewalt geleistet, ohne Selbstmordattentate und ohne Terroristen, hätten sie die moralische und politische Unterstützung der ganzen Welt bekommen.“
Das Interview im Wortlaut:
„Von der Musik lernen“
DANIEL BARENBOIM über ein Israel
vergangener Zeiten und seine Idee für einen Frieden im Nahen Osten
„Das Parlament“; Nr. 17; 21.04.08
Herr Barenboim, Sie sind 1942 in Buenos Aires geboren. Ihre Eltern sind mit Ihnen vier Jahre nach der israelischen Unabhängigkeiterklärung, also 1952, nach Israel gegangen. Warum?
Meine Eltern sind in Argentinien geboren, meine Großeltern kamen aus Russland. Insofern haben wir nicht unter der Situation in Europa gelitten. Aber als meine Eltern merkten, dass ich eine bestimmte musikalische Begabung habe, dachten sie, es sei wichtig, dass ich in einer normalen Gesellschaft lebe. Einer Gesellschaft, in der die Juden die Mehrheit und nicht die Minderheit sind.
Welche Erinnerungen haben Sie an Ihre erste Zeit in Israel?
Der Anfang dort war für mich sehr schwer: Ich musste eine neue Sprache lernen, ein neues Alphabet. Aber es herrschte eine unglaublich positive Stimmung. Das Land war im Aufbau, und es gab weder Zeit noch Raum für depressive Gedanken.
Sie haben 2004 bei einer Preisverleihung davon gesprochen, dass für Sie die Unabhängigkeitserklärung 1948 „Ansporn und Inspiration war, an die Ideale zu glauben, die aus Juden Israelis gemacht haben“. Welche Ideale waren das?
Das Ideal von Gerechtigkeit – nicht nur für die Juden. Die Juden waren 20 Jahrhunderte lang eine Minderheit, manchmal gut aufgehoben, manchmal – wie während der spanischen Inquisition, in der Ukraine oder während der Nazizeit – von großer Grausamkeit betroffen. Wenn man ständig unterdrückt ist und sich verteidigen muss, denkt man nicht an die Rechte der anderen. Wenn man erstmal ein Gleichgewicht erreicht hat, kann man sich das besser vorstellen. Für mich war die Unabhängigkeitserklärung genau das: Die Gerechtigkeit für die Juden, dort existieren zu können und kritisiert zu werden, weil sie vielleicht etwas Schlechtes getan haben, aber nicht weil sie Juden sind.
1967, als der Sechs-Tage-Krieg ausbrach, sind sie sofort nach Israel geflogen, obwohl Sie als Musiker von der Armee befreit waren. Heute sagen Sie, dieses Jahr sei ein Schlüsseljahr gewesen. Warum?
Wir haben damals den Übergang von einer oft unter Druck gesetzten Minderheit in die Unabhängigkeit geschafft: Von einer Minderheit zur Mehrheit und von einem Volk zu einer Nation. Die Person, die Israel diese Unabhängigkeit gebracht hat und das Land am meisten geprägt hat, war David Ben Gurion. Er hatte aber auch Kritiker wie Martin Buber. Er war der Meinung, dass die Sicherheit Israels – und damit auch seine Existenz – von einer Allianz mit der nichtjüdischen Bevölkerung abhängig war. Das heißt, von unserer Akzeptanz durch unsere Nachbarn.
Was war dabei mit Allianz gemeint?
Es gab zwei mögliche Allianzen: die eine mit einem demokratischen, binationalen Staat. Ben Gurion war absolut dagegen. Die Alternative war eine Zwei-Staaten-Lösung. Vergessen Sie nicht: Am 29. November 1947 beschlossen die Vereinten Nationen die Teilung Palästinas in zwei Staaten. Das heißt, wir waren an diesem Tag genau an demselben Punkt, an dem wir heute sind.
Sie sprechen von wir. Das heißt, dass Sie sich trotz aller Kritik zu Israel zugehörig fühlen?
Selbstverständlich. Wissen Sie, der Konflikt wird oft militärisch, politisch oder historisch beschrieben, aber man muss ihn auch sozial sehen. Meine Generation hat den Staat gebaut. Das heißt, wir haben für den Staat und gleichzeitig für uns gearbeitet. Das war eine ganz extrem sozialistische Gesellschaft, nicht nur in den Kibbuzim, auch in den Städten.
Damit ist die Arbeitspartei immerhin 29 Jahre lang an der Macht geblieben. Warum ist diese Gesellschaftsidee in Israel gekippt?
Das Jahr 1967 hat die Idee von „Ur-Israel“ total verändert. Nach 1967 gab es plötzlich billigere Arbeitskräfte unter den Palästinensern, die ersten israelischen Millionäre tauchten auf. Und wir haben Territorium besetzt. Die Nationalisten haben gesagt, es seien keine besetzten, sondern befreite Territorien, und die Religiösen haben gesagt, es seien nicht nur befreite Gebiete, sondern biblische Gebiete. Dadurch ist das ganze Bild von Israel umgekippt.
Seit wann haben Sie das so empfunden?
Ich habe etwa 1970 angefangen, das so zu betrachten, als wir gesehen und gehört haben, dass Menschen in Gaza, Ramallah und Nablus lebten, die Flüchtlinge waren und vorher ihre Häuser in Jaffa und Jerusalem hatten. Wir lebten doch bis dahin nicht nur in einer geschlossenen Gesellschaft, sondern in einem geschlossenen Land: Libanon und Syrien im Norden, Jordanien im Osten, Ägypten und Gaza im Süden und sonst nur das Meer. Sie konnten nirgendwo hinfahren, es war fast ein bisschen wie West-Berlin.
Hätte man von Anfang an anders auf die Palästinenser zugehen sollen?
Es war klar, dass die Palästinenser uns nicht akzeptierten. Ich bin nicht blauäugig und denke, hätten wir ihnen die Hand gegeben, hätten sie die Hand genommen. Aber wenn Sie als Palästinenser seit Jahrzehnten in Jaffa zuhause wären und plötzlich kommen Juden aus Deutschland, der Ukraine und Argentinien und behaupten, nicht nur ein Recht, sondern ein exklusives Recht zu haben, dort zu leben und Sie hätten dann keinen Platz mehr, würden Sie das auch nicht akzeptieren.
Aber es hat doch schon damals in Israel ein sehr reales Gefühl der Bedrohung gegeben...
Ja, aber wenn Sie gekämpft, den Krieg gewonnen und Ihre Unabhängigkeit erreicht haben, müssen Sie doch alles tun, um den anderen dazu zu bringen, Sie zu akzeptieren. Aber eine Macht oder ein Land, das ein anderes besetzt, hat die Aufgabe, Verpflichtung und Verantwortung für die Lebensqualität der Besetzten zu sorgen. Was haben wir gemacht? Nichts. Tatsache ist, dass wir eine Situation geschaffen haben, die uns dorthin geführt hat, wo wir heute sind.
Aber wie sehen Sie dann die Rolle der oder das Verhalten der Palästinenser?
Die Palästinenser haben einen Riesenfehler gemacht, den größten Fehler von allen, der auch verständlich ist: und das war, mit Gewalt vorzugehen. Hätten die Palästinenser Widerstand ohne Gewalt geleistet, ohne Selbstmordattentate und ohne Terroristen, hätten sie die moralische und politische Unterstützung der ganzen Welt bekommen.
Aber auch in Israel hat es doch zeitweise eine starke Friedensbewegung wie etwa 2005 gegeben?
Ja, das ist ja der Widerspruch. Ich glaube, 75 Prozent der Bevölkerung wollen Frieden, sind aber nicht bereit, den Preis für diesen Frieden zu bezahlen. Der Preis bedeutet anzuerkennen, dass man Fehler gemacht hat und dass es eine gewisse Ungerechtigkeit – die man nach den Konzentrationslagern auch durchaus erklären kann – gegeben hat.
Sie haben einmal gesagt, es gebe für die Lösung des Konflikts keine militärische, moralische oder strategische Lösung?
Nein, ich habe gesagt, es gibt keine militärische Lösung. Eine solche Lösung gibt es nur zwischen zwei Staaten. Ich glaube hingegen, dass die moralische und die strategische Lösung Hand in Hand gehen. Die moralische Lösung, die besagt, wir müssen eine Weg finden, mit den Palästinensern zusammenzuleben, ist auch langfristig die richtige strategische Entscheidung.
Aber Menschen werden doch immer stark von ihren Emotionen, Erlebnissen und Wahrnehmungen bestimmt. Wie kann man damit umgehen?
Nicht so, wie es in den vergangenen 40 Jahren war. Es gibt viele Palästinenser, die die Existenz Israels in Frage stellen und davon träumen, sie könnten aufwachen und die Juden wären weg. Das wird nicht passieren. Und es gibt viele Juden, die davon träumen, sie könnten aufwachen und die Palästinenser wären weg. Das wird auch nicht passieren. In der Realität können wir nicht träumen. Psychologisch ist das größte Problem von Israelis und Palästinensern nicht mehr zwischen Traum und Realität unterscheiden zu können.
Welche Lösung sehen Sie?
Ich bin kurzfristig pessimistisch, aber langfristig optimistisch, denn dazwischen gibt es nichts. Entweder wir töten uns alle, oder wir finden einen Weg, miteinander zu leben. Für mich ist die Einstaaten-Lösung inakzeptabel. Die Zwei-Staaten-Lösung kann heute nicht funktionieren, also muss man eine Synthese bilden. Für mich persönlich ist das ein palästinensischer Staat mit allen Rechten eines Staates, aber von Anfang an in einer Föderation mit Israel und noch besser mit Jordanien zusammen.
Sie sind für Ihre Haltung schon häufig kritisiert worden?
Nicht nur, denn Sie wissen ja: Was negativ kritisiert wird, hat viel mehr Lautstärke. Ich habe viele Briefe bekommen und weniger als zehn Prozent sind kritisch. Ich denke, die ganze Diskussion, die wir hatten, muss man in die Realität umsetzen.
Genau dazu haben Sie vor einigen Jahren das Western-Eastern Diwan-Orchester gegründet, in dem Juden und Palästinenser miteinander musizieren. Was kann man aus der Musik für die Politik lernen?
Von der Musik habe ich vieles gelernt. Man denkt, man lernt viel vom Leben für die Musik – das stimmt. Ich habe aber auch sehr viel von der Musik gelernt für das Leben. Musik ist nicht nur Emotion und nicht nur Ratio, sie kann nur entstehen, wenn beide miteinander verbunden sind.
Den Vorwurf, Künstler seien manchmal weltfremd, kann man Ihnen jedenfalls nicht machen...
Ich hoffe, nicht. Es gibt Musiker, die die Musik total außerhalb der Welt sehen. Sie haben ihre eigenen Gesetze, die mit dem anderen nichts zu tun haben. Ich finde das falsch, weil die großen Komponisten nicht nur Meister in Kontrapunkt und Harmonie sind, sondern sie sind Menschen. Sie haben auch eine menschliche Aussage.
Könnte man daraus schließen, dass Sie mit Ihrer Arbeit auch Politik machen?
Ich sehe mich nicht als politischen Menschen. Ich finde nur, dieser Konflikt muss jetzt gelöst werden – deshalb mache ich, was ich mache. Deswegen habe ich vor zwei Jahren eine Musikerziehung für Palästina aufgebaut, deswegen habe ich vor kurzem in Jerusalem das Konzert für zwei Völker organisiert. Das ist kein politisches Projekt, das ist eine menschliche Erkenntnis und ein Bekenntnis zu der Tatsache, dass wir lernen müssen, zusammenzuleben.
Das Interview führten Susanne Kailitz
und Annette Sach.