Vorabmeldung für die nächste Ausgabe der Wochenzeitung
„Das Parlament“ (Erscheinungstag: 28. Juli 2008)
– bei Nennung der Quelle frei zur sofortigen Veröffentlichung –
Schmidt hält „Pflege-Riester“ für möglich – Vorrang räumt sie aber der Einführung einer Bürgerversicherung ein – Raffelhüschen sieht mit Pflegereform Chance vertan
Bundesgesundheitsministerin Ulla Schmidt (SPD) schließt die Einführung einer kapitalgedeckten Säule in der Pflegeversicherung nach Vorbild der Riesterrente nicht aus. Allerdings sollten „zunächst mal die solidarischen Möglichkeiten dieses Landes“ genutzt werden, sagte Schmidt in einem Interview der Wochenzeitung „Das Parlament“ (Erscheinungstag: 28. Juli). Angesichts steigender Preise etwa für Energie und Lebensmittel sei es „den Menschen schwer zu vermitteln, noch mehr Geld beiseite zu legen“. Sie bedauerte, dass nicht bereits mit der zum 1. Juli in Kraft getretenen Pflegereform ein Systemwechsel hin zu einer Bürgerversicherung erreicht worden ist. „Das war mit der Union nicht zu machen“, betonte Schmidt und fügte hinzu: „Wir leisten uns eine Trennung der Systeme wie kaum ein anderes Land nach Status, Risiken und Geld – das ist überholt“.
Sie sagte, die Pflege- sei „bereits eine Volksversicherung“. Es gebe keinen Unterschied zwischen den Leistungen für gesetzlich und privat Versicherte. Allerdings klaffe auf der Einnahmeseite „eine riesige Ungerechtigkeitslücke“, kritisierte die SPD-Politikerin. Sie betonte: „Würden alle Menschen in diesem Land 1,95 Prozent von ihrem Einkommen in die gesetzliche Pflegeversicherung zahlen, hätten wir mit dem jetzigen Leistungsumfang bis weit in das Jahr 2030 hinein Sicherheit.“ Mit der jetzigen Beitragssatzerhöhung auf 1,95 Prozent beziehungsweise 2,2 Prozent für Kinderlose sei die Finanzierung bis zum Jahr 2015 geklärt. Danach müssten entweder die Beiträge erneut angehoben werden, „oder man schafft endlich in der Pflege eine Bürgerversicherung“, unterstrich die Ministerin. Die Bürgerversicherung werde „auf jeden Fall“ ein Thema im Bundestagswahlkampf, sowohl in der Kranken- als auch in der Pflegeversicherung.
Der Freiburger Finanzwissenschaftler Bernd Raffelhüschen kritisierte in „Das Parlament“ die Pflegereform. Mit der Beibehaltung des bestehenden Systems werde „endgültig die Chance vergeben, einen kostengünstigen Umstieg in die Kapitaldeckung zu realisieren“, hob der Professor in einem Gastbeitrag hervor. Kostengünstig wäre der Umstieg aus seiner Sicht heute noch zu bewältigen, da „kein Jahrgang darauf pochen kann, bereits ein Leben lang Beiträge geleistet zu haben“. Dagegen unterstützte der Gesundheitsökonom Heinz Rothgang die Forderungen von Schmidt. Neue Finanzierungsquellen müssten im Rahmen der umlagefinanzierten Sozialversicherung erschlossen werden, sagte der Professor von der Universität Bremen. Er forderte in einem Gastbeitrag unter anderem die Einbeziehung der bislang privat Pflegeversicherten.
Das Interview mit Ulla Schmidt im Wortlaut:
Frau Schmidt, die Pflegereform ist seit 1. Juli in
Kraft. Was ist für Sie als Bundesministerin die zentrale
Neuerung?
Eine der zentralen Verbesserungen ist, dass
wir mit den Pflegestützpunkten die Pflegeberatung dahin
bringen, wo die Menschen wohnen. Damit helfen wir den Menschen,
sich schnell über die Strukturen und Angebote zu informieren
und sich im Pflegefall besser zurechtzufinden. So kann zum Beispiel
der persönliche Fallmanager beim Antrag für einen
Wohnungsumbau helfen. Das stärkt die häusliche Pflege.
Außerdem haben wir die Leistungen für Menschen mit
Demenz verbessert und machen damit einen weiteren Schritt weg von
der rein körperbezogenen Pflege hin zu einem ganzheitlichen
Betreuungsansatz.
Die körperbezogene Pflege, wie sie bisher noch
gilt, wird es künftig also nicht mehr
geben?
Derzeit wird darüber nachgedacht, wie der
bisherige Pflegebedürftigkeitsbegriff sinnvoll
weiterentwickelt werden kann. Wir haben dazu einen Beirat aus
Wissenschaftlern und Verbänden einberufen. Dieser hat
Vorschläge erarbeitet, nach denen sich die Feststellung der
Pflegebedürftigkeit – die ist Voraussetzung der
Leistungsgewährung – in Zukunft am Grad der
Selbstständigkeit der pflegebedürftigen Person
orientieren soll. Die Vorschläge werden derzeit in
verschiedenen Regionen erprobt. Im November soll der
Abschlussbericht vorgelegt werden.
Sie sprachen die Pflegestützpunkte als großes
Plus der Reform an. Kritiker sprechen von aufgeblähten
Doppelstrukturen. Sehen Sie da kein Problem?
Nein.
Diese „Argumente“ waren immer vorgeschoben. Von Anfang
an haben wir die Stützpunkte so gedacht, dass sie auf
vorhandenen Strukturen in der ganzen Vielfalt aufbauen, und
Doppelstrukturen gerade vermieden werden. Nehmen Sie mal
Rheinland-Pfalz, ein vorbildlich strukturiertes Land in diesem
Bereich, in dem es bereits wohnortnahe Koordinierungs- und
Beratungsstellen gibt. Die haben sofort gesagt: „Ja, wir
wollen die Pflegestützpunkte. Weil das der nächste
Schritt ist, wie wir unsere Koordinierungs- und Beratungsangebote
ausbauen können.“ Es geht ja auch um mehr als eine
bloße Beratung, es soll ein Fallmanagement aufgebaut
werden.
Was genau verstehen Sie darunter?
Es geht
vor allem um die Unterstützung und Begleitung. Wenn schon die
Familien die Kraft aufbringen, sich um einen Pflegefall zu
kümmern, soll der persönliche Fallmanager den
Pflegebedürftigen und ihren Familien alles abnehmen, was mit
Organisation zu tun hat. Die Pflege selbst wird immer eine
große Aufgabe für die Familien bleiben. Aber das
Telefonieren, das Ausfüllen von Anträgen, der Zugang zu
den Angeboten von Pflegeversicherung und Kommunen, all das
können wir erleichtern. Deswegen werden sich die
Stützpunkte am Ende in allen Bundesländern
durchsetzen.
Sie wollen also den „mündigen
Pflegebedürftigen“?
Ja. Die Menschen
wollen selbstbestimmt leben. Die Pflegereform greift dieses Ziel
auf. Jetzt können Menschen, die beispielsweise in einer
Wohngemeinschaft oder Alten-WG leben, ihre Leistungen zusammenlegen
und sich gemeinsam professionelle Hilfe einkaufen. Das können
auch Menschen machen, die einfach in der Nachbarschaft – etwa
in einer Straße – leben, ohne zusammen zu wohnen.
Glauben Sie, die Alten-WG wird zum
Zukunftsmodell?
In Umfragen sagen etwa 65 Prozent
der Menschen, sie möchten gerne in der eigenen Wohnung
bleiben. 25 Prozent möchten auf jeden Fall in ihrem
Wohnviertel bleiben und mit anderen zusammenwohnen. Auf der anderen
Seite wohnen immer weniger Kinder nah bei ihren Eltern. Um die
„klassische“ Familie zu ersetzen, braucht es
Alternativen, durch nachbarschaftliches Engagement oder eben auch
durch Wohngemeinschaften.
Wenn es ambulant aber nicht mehr geht, kommt das Heim ins Spiel. Künftig wird es unangemeldete Kontrollen geben. Wichtig ist vor allem unsere Neuregelung, dass alle Prüfberichte in verständlicher Form veröffentlicht werden müssen. Jedes Heim muss darüber hinaus eine Zusammenfassung an gut sichtbarer Stelle öffentlich aushängen. Bis Ende September wird über die Kriterien dazu entschieden, und auch, ob die Ergebnisse dann in einem Ampelsystem oder einem Sternesystem zusammengefasst werden. Es muss ein System sein, bei dem man sofort sieht: Wie waren die Prüfergebnisse? Davon verspreche ich mir die meiste Dynamik in Richtung mehr Qualität. Weil die Menschen nirgendwo hingehen, wo steht: „Hier war es schlecht.“
Müssen sich auch die Kontrollen der Heime
verändern?
Die sollen sich künftig
schwerpunktmäßig auf den pflegebedürftigen
Menschen, die Ergebnisse der Pflege und weniger auf
Papierprüfungen konzentrieren. Die Menschen müssen
beachtet, befragt und angeschaut werden: Sind sie zufrieden, sind
sie gut genährt, haben sie genug zu trinken, stimmt das ganze
Drumherum?
Schrecken Sie die Nachrichten von den Missständen
im Heim? Muss die Politik nicht noch mehr
tun?
Politik kann rechtswidriges und
menschenunwürdiges Handeln sicherlich nie völlig
verhindern, aber wir können mit dem Gesetz dem soweit wie eben
möglich entgegenwirken. 2,2 Millionen Menschen bekommen
Leistungen aus der Pflegeversicherung, es gibt rund 11.000
stationäre Einrichtungen, 10.000 ambulante Dienste sowie die
private Pflege zuhause. Niemand kann eine 100-prozentige Garantie
dafür abgeben, dass nie etwas passiert. Ich erhoffe mir auch
bessere Qualität durch mehr Heimärzte in den
Einrichtungen.
Sie sagen, die Finanzierung der Pflegeversicherung ist
bis 2015 gesichert. Kanzlerin Merkel regte jüngst für die
Zukunft ein Nachdenken über die Kapitaldeckung für die
Pflege an. War es klug, an der Umlagefinanzierung
festzuhalten?
Die jetzige Erhöhung um 0,25
Prozentpunkte bringt 2,5 Milliarden Euro im Jahr. Mit dieser
Anhebung kommen wir nach Expertenmeinung bis Ende 2015 hin. Dann
muss über eine Änderung neu entschieden werden. Entweder
man hebt dann die Beitragssätze erneut an oder man schafft
endlich in der Pflege eine Bürgerversicherung. Die Pflege- ist
bereits eine Volksversicherung, es gibt keinen Unterschied zwischen
den Leistungen für gesetzlich und privat Versicherte. Auf der
Einnahmeseite klafft da allerdings eine riesige
Ungerechtigkeitslücke. Würden alle Menschen in diesem
Land 1,95 Prozent von ihrem Einkommen in die gesetzliche
Pflegeversicherung zahlen, hätten wir mit dem jetzigen
Leistungsumfang bis weit in das Jahr 2030 hinein Sicherheit.
Warum ist das nicht so gekommen?
Das war
mit der Union nicht zu machen.
Der Wirtschaftsweise Bert Rürup rät zu einem
„Pflege-Riester“, das heißt, heute
Berufstätige sollen sich staatlich gefördert privat an
künftigen Pflegekosten beteiligen. Was halten Sie
davon?
Das hätte man schon machen können,
aber durch das Ansteigen der Preise beispielsweise für Energie
und Lebensmittel ist es den Menschen schwer zu vermitteln, noch
mehr Geld beiseite zu legen. Man sollte zunächst mal die
solidarischen Möglichkeiten dieses Landes nutzen.
Wird das ein Wahlkampfthema?
Die
Bürgerversicherung auf jeden Fall, in der Pflege- wie in der
Krankenversicherung. Wir leisten uns eine Trennung der Systeme wie
kaum ein anderes Land nach Status, Risiken und Geld – das ist
überholt.
Frau Ministerin, wie wollen Sie denn mal gepflegt
werden?
Nun, ich hoffe wie alle, dass es
überhaupt nicht nötig wird. Aber wenn, dann zuhause. Dann
möchte ich gerne, dass meine Angehörigen in der Nähe
sind, und wir das organisiert bekommen. Ich zahle ja auch in die
Pflegeversicherung ein.