Das Parlament: Erst 35 Jahre nach dem öffentlichen Selbstmord Ihres Vaters im Jahre 1969 auf dem evangelischen Kirchentag schreiben Sie über ihn. Warum hat es so lange gedauert?
Ute Scheub: Ich habe öfter Anläufe gemacht, um über ihn zu recherchieren, aber mich hat immer wieder den Mut verlassen. Im Jahre 2004 habe ich zufällig viele Dokumente über ihn entdeckt: Seine 14 Abschiedsbriefe, die Feldpostbriefe, seine SS-Dokumente und die Unterlagen seines Studiums über die Rassenkunde an der SS-Elite-Universität Jena. Das war der äußerliche Anlass. Mir fiel es schwer, mit der Familienloyalität zu brechen. Man redet nicht schlecht über seine Eltern in der Öffentlichkeit - so bin ich erzogen worden. Ganz massiv war auch die Angst zu entdecken, dass mein Vater ein Verbrecher ist. Ermutigt haben mich zwei Freundinnen und literarische Vorbilder, unter anderem Wibke Bruhns, die auch ihre Familiengeschichte aufgeschrieben haben.
Das Parlament: Sie geben Einblicke in die Intimität Ihrer Verwandten. Fühlen Sie sich deswegen illoyal?
Ute Scheub: Meine Loyalität ist inzwischen erweitert. Ich habe nicht nur gegenüber der Familie eine Verpflichtung, sondern auch gegenüber den Opfern des Nationalsozialismus, ihren Angehörigen und Nachkommen. Meinen jüdischen Freunden und Bekannten möchte ich auch gerecht werden.
Das Parlament: Wie erklären Sie, dass viele Kinder von Nazi-Tätern erst vor kurzem ihre Familiengeschichte öffentlich gemacht haben?
Ute Scheub: Man braucht einen zeitlichen Abstand, um es zu tun. In den 50er- oder 60er-Jahren wäre es unmöglich gewesen. Man wäre wohl öffentlich hingerichtet worden. Jetzt kann eine andere Generation sprechen, die mit bestimmten deutschen Traditionen gebrochen hat. Ein weiterer Grund ist, dass alle Täter und Opfer in zehn Jahren nicht mehr leben werden. Wollen die Nachgeborenen das kulturelle und lebendige Gedächtnis erhalten, müssen sie jetzt schriftlich festhalten, was vorher innerfamiliär in der Erinnerung war.
Das Parlament: Sie werfen Ihrem Vater sein Schweigen vor. Aber Sie schreiben, es wäre schrecklich gewesen, jeden Tag mit einem Verbrecher die Suppe zu löffeln. Was hätte er also tun sollen?
Ute Scheub: Er hätte sich retten können, wenn er sich zu seinen Taten bekannt hätte. Natürlich ist das unheimlich hart. Aber besser ist es, wenn Kinder einmal die Wahrheit hören, als wenn sie sich ein Leben lang darüber in Fantasien ergehen müssen. Das gilt generell für alle Familiengeheimnisse. Eltern denken gerne, sie sollten Kinder schonen. Aber Kinder kriegen unheimlich genau mit, was verschwiegen wird. Sie machen sich ihre eigenen Fantasien, die meistens noch viel schlimmer als die Realität sind.
Das Parlament: Ihre Gefühle zu Ihrem Vater schwanken zwischen Wut und Mitgefühl. Mitgefühl mit dem Täter - ist das überhaupt möglich?
Ute Scheub: Nein, ich habe kein Mitgefühl mit dem Täter, um Gottes Willen, nur Wut. Das Mitgefühl habe ich mit dem Kind und mit dem Jugendlichen, der später zu meinem Vater wurde und der in einer eisigen Atmosphäre aufgewachsen ist und keine Chance hatte, Mitmenschlichkeit zu entwickeln. Ganz entscheidend für seine Generation waren die Väter, die als lebendige Tote aus dem Ersten Weltkrieg zurückkamen. Nach diesem ersten Völkergemetzel haben die Väter auch geschwiegen. Sie haben stellvertretend ihre Söhne in den Zweiten Weltkrieg geschickt, um sich dafür zu rächen.
Das Parlament: Haben Sie Ihrem Vater verziehen?
Ute Scheub: Dem Menschen, der in einer fürchterlichen Zeit der emotionalen Härte und Kälte aufwuchs - dem habe ich verziehen. Dem Nazi kann ich aber nicht verzeihen, weil er anderen etwas getan hat. Das müssten die Opfer oder ihre Angehörigen tun. Ich bin die Falsche dafür. Diese Differenzierung ist mir sehr wichtig. Sie geht in den aktuellen Autobiografien von Täter-Kindern manchmal verloren. Ich will mich aber auch nicht höher stellen und sagen, ich hätte es sicher ganz anders als er gemacht. Im Nachhinein ist es ganz leicht, so etwas zu behaupten.
Das Parlament: "Die Leichen im Keller meines Vaters sind auch meine Leichen", steht auf dem Cover Ihres Buches. Sie schreiben aber, wie Sie einen Brief in sein Grab legen, in dem steht, es seien einzig und allein seine Leichen. Sind es nun Ihre oder seine?
Ute Scheub: Ich weiß, dass es nicht meine Leichen sind. Und trotzdem fühle ich mich immer wieder dafür verantwortlich. Auch andere Täterkinder fühlen sich unendlich schuldig. Ihr ganzes Leben büßen sie für die Taten ihrer Eltern und kommen nie aus diesem Gefühl heraus. Sie wollen die Dinge wieder ins Gleichgewicht bringen. Manche Täterkinder konvertierten zum Judentum oder heirateten eine Jüdin und streckten ihren Nazi-Eltern die Zunge raus: "Ätsch, eure Enkel sind Juden." Andere gingen ins Kloster. Es gibt natürlich auch welche, die alles abwehrten - zumindest scheinbar.
Das Parlament: In der Bundesrepublik herrrschte lange Schweigen über die NS-Vergangenheit. Im Ausland haben Sie nach anderen Bewältigungsstrategien der Vergangenheit gesucht. Was haben Sie herausgefunden?
Ute Scheub: In Südafrika gab es nach der Abschaffung der Apartheid Initiativen von Führungsfiguren, die integer sind. Nelson Mandela und Bischof Desmond Tutu haben ihren Peinigern öffentlich verziehen. Das war ein glorioses Vorbild. In der Wahrheitskommission, die Tutu mitgegründet und geleitet hat, wurden die Täter amnestiert, wenn sie die Wahrheit ausgesagt haben. Manche erschrecken bei diesem Gedanken, weil eine Amnestie der Täter für die Opfer auch etwas Hartes ist. Aber es ist heilsamer als Gerichtsprozesse, bei denen die Täter leugnen und irgendwann abgeurteilt werden. Die Täter müssen sich bekennen und der Öffentlichkeit sagen: "Ich war ein Mörder" oder "Ich war ein Folterer". Es ist ein massiver Gesichtsverlust und eine harte Strafe, die Sinn macht, insbesondere für die Opfer. Sicher ist das Verfahren nicht perfekt und einige haben nur formell gebeichtet. Aber solche Täter-Opfer-Ausgleiche sind für mich überzeugender als das, was bei uns gelaufen ist.
Das Parlament: Frau Scheub, wir danken Ihnen für das Gespräch.
Das Interview führte Geneviève Hesse
Ute Scheub
Das falsche Leben. Eine Vatersuche.
Piper Verlag; München 2006, 304 S.; 18,90 Euro