Das einleitende Kapitel in der Untersuchung von Alexander Grasse resümiert die Voraussetzungen und Ergebnisse solchen Größenwahns und ist mit seiner Aufzählung schier unglaublicher Vorgänge geeignet, auch den deutschen Leser an den Grundfesten der modernen Demokratie irre werden zu lassen. "Gleichwohl", so der Autor, "verengt die 'Berlusconi-Debatte' die Wahrnehmung und übersieht die viel komplexere politische und gesellschaftlich-kulturelle Realität Italiens", wo sich "seit dem Ende der ersten Republik 1993 weit mehr verändert [hat] als hierzulande wahrgenommen wird".
Was ist also wirklich los in Italien, und warum kann dieses Land angesichts der Machtkonzentration des Premiers überhaupt noch zum Kreis der konsolidierten liberalen Demokratien gezählt werden? Der vorliegende fünfte Band der VS-Reihe "Regionalisierung in Europa" wählt dazu eine ungewöhnliche, aber gleichzeitig überaus aufschlussreiche Perspektive. Tatsächlich war die von der Lega Nord Umberto Bossis propagierte regionale Frage die bedeutsamste Neuerung in der italienischen Politik Anfang der 90er-Jahre, von der seitdem zahlreiche weitere Veränderungen angestoßen wurden.
Der Autor, der sich nach eigenem Bekunden seit 1992 mit diesem Thema beschäftigt hat, begnügt sich aber nicht mit einer einfachen Beschreibung der Entwicklung, sondern schickt im zweiten Kapitel erst einmal eine theoretische Grundlegung der regionalen Modernisierung voraus mit besonderem Schwerpunkt auf der Netzwerktheorie. Die Abschnitte über die neuesten Entwicklungen kooperativer Staatstätigkeit in der modernen Demokratie machen dabei unmittelbar deutlich, warum die einzig auf aggressive Machtdemonstrationen setzende Regierung Berlusconi letztlich an ihrer Inkompetenz und Unfähigkeit zum kooperativen Dialog scheitern musste.
Darüber hinaus erfährt man über die schillernde Figur des Regierungschefs aber eher wenig, da der Autor im Weiteren konsequent den Weg geht, die Handlungspielräume der Regionen im Networking auszuloten, ihre Erweiterung seit den 90er-Jahren und ihren Beitrag zur Modernisierung von Staat und Gesellschaft. Dabei geht es nacheinander um die Verwaltungs- und Gesetzgebungskompetenzen der erst 1970 geschaffenen Regionen, ihre eher bescheidene Finanz-autonomie sowie ihre erst seit einigen Jahren legalisierten Außen- und EU-Beziehungen. Am Ende dieses Abschnitts steht die Frage nach der Entstehung einer regionalen Identität, die für viele der 20 Regionen Italiens sicher sehr unterschiedlich beantwortet werden muss.
In einer bemerkenswert in die Tiefe gehenden Fallstudie wird im weiteren eine der erfolgreicheren Regionen vorgestellt, die seit 35 Jahren von der Kommunistischen Partei Italiens beziehungsweise ihrer Nachfolgepartei DS regierte Emilia-Romagna mit ihrem dichten Geflecht kooperativer Netzwerke. Dabei wird auch gezeigt, wie die Regionen seit einigen Jahren durch koordiniertes Vorgehen versuchen, Einfluss auf die nationale Politik zu nehmen.
Nach dem Urteil des Autors hat die Region Emilia-Romagna gerade in ihren Außenbeziehungen "seit Anfang der 1990er-Jahre enorme Dynamik" an den Tag gelegt, auch um die Schwächen des "Modells Emilia" zu korrigieren und die Modernisierung von Wirtschaft und Gesellschaft voranzutreiben. "Die Analyse des Fallbeispiels Emilia-Romagna zeigt, dass die Regionalisierung Italiens durchaus im positiven Sinne folgenreich gewesen ist."
Während die Emilia-Romagna mit ihrer Strategie der "kooperativen Region" als Handlungsmodell regionaler Modernisierungspolitik erfolgreich war und durch Networking-Prozesse eine Verdichtung der Beziehungsstrukturen und eine beachtliche Mobilisierung von Ressourcen und Aktivitäten auf lokaler Ebene erzielen konnte, lässt sich das gleiche von anderen Regionen weit weniger behaupten. Die Kehrseite der Regionalisierung Italiens zeigt leider auch eine Reihe chronisch erfolgloser Regionen mit aufgeblähter ineffizienter Bürokratie, weit verbreiteter Vetternwirtschaft und verantwortungsloser Finanzpolitik.
In den letzten Kapiteln seines Buches versucht der Autor, eine Bilanz der bisher erreichten Reformen und einen Ausblick auf die Perspektiven zu ziehen. Die erste bedeutsame und in hohem Grade erfolgreiche Reform war die Wahlrechtsänderung von 1995 zur Direktwahl der Regionalpräsidenten, welche den Regionalregierungen endlich eine solide Legitimation sicherte. Weitere Schritte waren die von der Regierung Prodi seit 1996 eingeleiteten Verwaltungsreformen ("Bassanini-Gesetze"), die Novellierung der regionalen Finanzverfasung (1997, 1999 und 2000) und die am Ende der Legislaturperiode von der Ölbaum-Koalition im Alleingang verabschiedeten Verfassungsreformen (1999 und 2001), die den Regionen deutlich erweiterte Kompetenzen im Bereich der konkurrierenden Gesetzgebung einräumten.
Die rechten Oppositionsparteien hatten gegen die Reformen gestimmt, weil sie ihnen nicht weit genug gingen. Nach dem Wahlsieg der "Koalition der Freiheiten" unter Einschluss der Lega Nord wurde diese Position 2001 offizielles Regierungsprogramm. Weitere wichtige Schritte zu einer noch stärkeren Regionalisierung wurden angekündigt.
Tatsächlich kam es in der Praxis aber schon bald zu einer überraschenden Wende, besonders deutlich bereits in dem mit unzähligen Einschränkungen gespick-ten Ausführungsgesetz zur genannten Verfassungsreform (2003), das etliche bereits abgeschaffte Kontrollinstanzen der Zentralregierung umgehend wieder einführte. "Wie konfliktgeladen die Situation ist und in welch fundamentalem Kräftemessen zwischen Staat und Regionen sich das politische und konstitutionelle System Italiens befindet, verdeutlicht auch die Problematik der (...) Schaffung neuer Regionalstatute". Diese wurden nach ihrer Verabschiedung durch die Regionalparlamente tatsächlich in beinahe der Hälfte der Fälle von der Zentralregierung vor dem Verfassungsgericht angefochten.
Dies ist indes nicht der einzige Bereich, in dem die Richter der Corte Costituzionale seit 2001 immer öfter mit der Klärung unscharfer politischer Vorgaben beschäftigt sind, und Mitte 2005 waren dort bereits "über 200 Kompetenzkonflikte zwischen Staat und Regionen anhängig".
Unverkennbar am Werk waren die gleichen Kräfte auch bei der lange hinausgeschobenen und erst Ende 2005 verabschiedeten großen Verfassungsreform der "Freiheitskoalition", die zwar in der Überschrift den Titel "Devolution" trägt, um die Lega Nord zufriedenzustellen, im Detail aber allenthalben bemüht ist, die Autonomie der Gebietskörperschaften zu beschneiden und die Kontrollrechte des Zentralstaats zu stärken. Daran ändert auch die Einführung eines "Senats der Regionen" wenig, der erstens mit 294 Senatoren viel zu groß ausfällt, um sich der dominierenden parteipolitischen Logik zu entziehen, und zweitens jederzeit von den anderen Institutionen überspielt werden kann.
Das eigentlich qualifizierende Element dieser Reform ist daher die beispiellose Stärkung der Exekutive, der kein nur irgendwie erdenkliches Mittel zur Disziplinierung der eigenen Parlamentsmehrheit verwehrt wird. Die derzeit noch unter dem Vorbehalt eines bestätigenden Referendums stehende Verfassungsreform der "Freiheitskoalition", so das Fazit Grasses, beinhaltet deshalb in Wirklichkeit "eine obskure Mischung aus Konzentration von Entscheidungsgewalt, Dezisionismus und Pseudo-Föderalismus beziehungsweise Rezentralisierung". Die föderale Zukunft des Regionalstaats Italien bleibt daher mit beträchtlichen Unsicherheiten behaftet, ganz besonders im Falle eines möglichen Wahlsiegs Berlusconis im April 2006.
In dieser überaus prekären Situation ist der Ausblick Grasses dennoch nicht ganz negativ. Tatsächlich "haben die Regionen, wie in dieser Studie gezeigt, entscheidenden Anteil an der Initiierung und beständigen Fortentwicklung der italienischen Föderalismusdebatte und der im Zuge dessen bereits durchgeführten Reformen - es war nicht allein die Lega Nord, wie in der Italien-Forschung allzu häufig behauptet wird".
Möglich war dies, weil die seit der Wahlreform in ihrer Verantwortlichkeit gestärkten Regionalregierungen eine zunehmend aktive Rolle akzeptiert haben: "Die Regionen sind nach einem Jahrhundert, in dem sie meist nur Objekt von Wirtschaftsplanung waren, seit einiger Zeit immer mehr zum Subjekt ökonomischer Verantwortung und wirtschaftspolitischer Gestaltung geworden".
Auf diese Weise sind die Regionen, wie der Titel des Buches sagt, zu einem unverzichtbaren "Modernisierungsfaktor" geworden, und zwar in zweifacher Hinsicht: "zum einen als Modernisierung für einzelne regionale Gesellschaften wie der Emilia-Romagna, zum anderen aber auch für das gesamte italienische Staatswesen". Waren es gegenüber der allseits blockierenden Parteienherrschaft bislang "nur exogene Faktoren beziehungsweise exogene Schocks, die in Italien grundlegende Veränderungen möglich gemacht haben", so sind damit erstmals auch interne Institutionen in kreativer Konkurrenz zueinander bemüht, die unverzichtbare Anpassung von Wirtschaft und Gesellschaft voranzutreiben und die Entfremdung zwischen Bürgern und Staat zu überwinden. Dies hervorgehoben zu haben, ist das große Verdienst des Autors, der deshalb mit diesem Buch nicht nur einen erhellenden Beitrag zur Institutionenpolitik in Italien, sondern auch zur Entwicklung der modernen Demokratie im Allgemeinen liefert.
Alexander Grasse
Modernisierungsfaktor Region. Subnationale Politik und Föderalisierung in Italien.
Reihe Regionalisierung in Europa, Band 5.
VS Verlag für Sozialwissenschaften, Wiesbaden 2005; 496 S., 59,90 Euro