Das Parlament: "Russland im Zangengriff" lautet der Titel Ihres neuen Buches. Sie analysieren die Gefährdung des größten Flächenstaates der Erde durch die NATO-Osterweiterung, den militanten Islam und den Aufstieg und die damit verbundene Expansion der Volksrepublik China. Welches dieser drei genannten Phänomene dürfte langfristig am gefährlichsten für die Zukunft Russlands sein?
Peter Scholl-Latour: Alle drei geopolitischen Phänomene sind auf Dauer Existenz bedrohend für Russlands staatliche Einheit. Langfristig ist aber der Aufstieg Chinas die eigentliche Herausforderung. Zur Recherche für das Buch habe ich mich direkt vor Ort, im russisch-chinesischen Grenzgebiet, umgesehen. Während sich das riesige Territorium Sibiriens langsam entvölkert, drängeln sich alleine in der Mandschurei, also in unmittelbarer Nachbarschaft, 130 Millionen Chinesen. Während Russlands Bevölkerung jährlich um 800.000 Menschen schrumpft, wächst die chinesische Bevölkerung pro Jahr um etwa zwölf Millionen Menschen. Das unermessliche Potenzial an Bodenschätzen und Rohstoffen in Sibirien führt natürlich zu immensen Begehrlichkeiten auf der chinesischen Seite.
Das Parlament: Findet aktuell eine massive chinesische Migration in die Fernostprovinzen Russlands statt?
Peter Scholl-Latour: Nicht so stark wie zu erwarten wäre. Bei meinem letzten Besuch in der Region, 1993, war die chinesische Präsenz wesentlich auffälliger. Zwar gibt es heute zwischen St. Petersburg und Wladiwostok fast überall in Putins Imperium Chinesen-Märkte und auch chinesische Kolonien, von einer massiven Zuwanderung, wie beispielsweise in den USA durch die Hispanics, kann aktuell aber nicht die Rede sein. Die Zeit spielt aber gegen Russland. Die Chinesen sind sehr klug, man hat keine Eile. In Paris beispielsweise ist die chinesische Präsenz viel deutlicher als entlang der oftmals entvölkerten Siedlungen auf der russischen Seite des russisch-chinesischen Grenzgebietes.
Das Parlament: Welche Rolle spielt dabei eigentlich die Mongolei? Dieser Staat war ja früher so etwas wie ein Protektorat der Sowjetunion und liegt genau zwischen den beiden Giganten China und Russland.
Peter Scholl-Latour: Die Mongolei ist wirklich ein interessanter Fall. Die USA haben dort sehr zum Ärger der Russen und Chinesen eine Militärpräsenz eingerichtet. So etwas wie eine vorgeschobene NATO-Bastion. Die 2,5 Millionen Mongolen erhoffen sich dadurch natürlich eine Art Schutzgarantie für ihr Land. Darauf angesprochen, haben mir meine Gesprächspartner in Peking ein Bonmot Maos entgegen gebracht.: "Wenn China spukt wird die Mongolei ertrinken!" Die schon erwähnt Mandschurei, also die Nordostprovinz Chinas mit direkter Grenze zu Russlands Fernen Osten, ist dabei so etwas wie ein Präzedenzfall. Bis 1920 lebten dort kaum Chinesen. Inzwischen hat alleine diese Provinz fast so viele Einwohner wie ganz Russland.
Das Parlament: Machen wir einen Sprung vom Fernen Osten in den europäischen Teil Russlands, genauer gesagt in den Kaukasus. Hat sich die Situation in Tschetschenien stabilisiert, zumindest im Sinne des Kremls?
Peter Scholl-Latour: Der Widerstand in Tschetschenien wurde ja nun wirklich in Blut und Tränen erstickt. Putin hat mit der Ernennung Kadyrows einen gefährlichen, kriminellen Stadthalter ernannt. Zusammen mit der marodierenden Armee sorgt man in Tschetschenien für eine Art Friedhofsruhe. Kadyrow, genau wie sein ermordeter Vater, war ja ursprünglich ein Widerstandskämpfer im ersten Krieg. Ich halte es nicht für ausgeschlossen, dass er sich eines Tages wieder gegen die Russen wendet. Die Tschetschenen sind ein verdammt hartes Volk und haben in Ihrer Geschichte schon viele dunkle Phasen überstanden. Schon Tolstoi, als auch Solschenizyn haben dies in ihren Büchern vermerkt.
Das Parlament: Also sind die Gefährdungen Russlands - seitens des islamistischen Aufbegehrens - auf dem eigenen Territorium überwunden?
Peter Scholl-Latour: Keineswegs. Inzwischen leben über 20 Millionen Muslime in der Russischen Förderation. Von allen Ethnien und religiösen Minderheiten verzeichnen diese das stärkste Bevölkerungswachstum. Neben dem Konflikt in Tschetschenien, droht im benachbarten Dagestan ein noch schlimmeres Blutbad. Das Siedlungsgebiet der russischen Muslime ist keineswegs nur auf den nördlichen Kaukasus beschränkt. In dem Buch beschreibe ich ja auch meine Reise nach Tatarstan. Diese Region im östlichen Teil des europäischen Russlands ist unmittelbarer Bestandteil der Russischen Förderation. Anfang der 90er-Jahre, nach dem Untergang der Sowjetunion, gab es dort ein ähnliches ethno-religiöses Aufbegehren wie heute in Tschetschenien oder Dagestan. Durch geschickte Zugeständnisse Moskaus gelang es aber, diesem Wunsch nach staatlicher Unabhängigkeit den Wind aus den Segeln zu nehmen. Das muss aber nicht immer so bleiben.
In diesem Zusammenhang sollte man daran erinnern, dass Russland über Jahrhunderte dem Tatarenjoch ausgeliefert war. Gleich östlich von Tatarstan liegt die autonome Region Baschkortostan. Wie die Tataren sind auch die Baschkiren ein islamisches Turkvolk. Deren Siedlungsgebiet westlich des Urals liegt nur noch rund 50 Kilometer von den Grenzen Kasachstans entfernt, grenzt also fast unmittelbar an die unabhängigen islamischen Turkrepubliken Zentralasiens. In Moskau hält man es nicht für ausgeschlossen, dass sich dort eines Tages ein neuer Krisenherd - mitten im Herzen Russlands - anbahnt.
Das Parlament: Wie nimmt man in Russland die Osterweiterung der NATO war?
Peter Scholl-Latour: Als bedrohlich! Ich habe mich in Moskau unter anderem mit Valentin Fallin , dem ehemaligen Außenminister der Sowjetunion in der Bundesrepublik und Primakow, dem ehemaligen Premierminister, unterhalten. Beide Herren versicherten mir, dass ein neuer Kalter Krieg im Gange sei. In der Ukraine wird die Armee schon durch die NATO trainiert und ausgerüstet. Das gleiche gilt auch für Georgien. Beide Staaten werden auf eine NATO-Mitgliedschaft vorbereitet. In Washington hat man es offensichtlich darauf angelegt, Russland geopolitisch einzukreisen und nach Osten abzudrängen. Besonders beschämend finde ich es, dass sowohl die Bundesregierung als auch die Europäische Union dieses Spiel ohne ein Wort des Protestes mitmachen.
Das Parlament: Was stört Sie an dieser NATO-Osterweiterung?
Peter Scholl-Latour: Die Tatsache, dass wir als Westen, als Europäer so töricht sind, eine neue Gegnerschaft zu Russland aufzubauen. Wir schlittern direkt in einen neuen Kalten Krieg, wo wir doch froh sein sollten, den alten überwunden zu haben. Russland mit seinem Potenzial, seiner Fläche und seinen Rohstoffen ist doch im Endeffekt so etwas wie ein natürlicher Verbündeter bezüglich der uns bevorstehenden Herausforderungen. Stattdessen treiben wir diesen größten Flächenstaat der Erde, dieses Eurasische Imperium in eine Ecke, aus der es nur mit Gewalt ausbrechen kann.
Das Parlament: Wie wird Russland langfristig auf die von Ihnen geschilderten Herausforderungen, diesen Zangengriff reagieren?
Peter Scholl-Latour: Mit einem übersteigerten und gefährlichen Nationalismus. Die Ansätze dafür sind schon vorhanden.
Das Interview führte Ramon Schack