Irgendwann entwickelt Siegfried Kauder (CDU) eine spezielle Theorie: Es müsse wohl Vollmond sein. Offenbar lasse sich nur so die überaus gereizte Stimmung erklären, meint der Vorsitzende. In der Tat sind bei dieser Sitzung des Untersuchungsausschusses während der Zeugenanhörungen zur Entführung Khaled El-Masris zwischen Oppositionsvertretern sowie Kauder und SPD-Obmann Thomas Oppermann scharfe Wortgefechte zu erleben.
Da empören sich Wolfgang Nescovic (Linkspartei) und der Grüne Hans-Christian Ströbele, dass ihnen der Vorsitzende das Rederecht beschneide. Wie sie wehrt sich der FDP-Abgeordnete Max Stadler vehement dagegen, dass Innenstaatssekretär August Hanning mit Unterstützung Kauders die Antworten auf angeblich unzulässige, weil nicht zum Beweisthema gehörende Fragen verweigert oder sich nur nichtöffentlich äußern will. Oppermann wiederum macht bei der Opposition "Mätzchen" aus. Nescovic kritisiert erregt Kauder, weil der bei ihm Dinge rüge, die er beim SPD-Obmann durchgehen lasse. Hanning weist energisch Ströbeles Vorwurf zurück, er habe ehedem als Chef des Bundesnachrichtendienstes für sich eine "Lizenz zum Lügen" reklamiert, weil er damals dem Parlamentarischen Kontrollgremium von US-Seite erhaltene Informationen über El-Masris Verschleppung vorenthalten habe.
Vielleicht hat die Nervosität damit zu tun, dass mit Hanning und dem seit einem Jahr amtierenden BND-Präsidenten Ernst Uhrlau zwei zentrale Zeugen vernommen werden. Der Ausschuss prüft, ob deutsche Behörden bis hin zur Regierung über das rechtswidrige Kidnapping des fälschlicherweise unter Terrroverdacht geratenen El-Masri durch die CIA unterrichtet und in die Aktion involviert waren. Der Deutsch-Libanese war Silvester 2003 in Mazedonien verhaftet und dann in ein afghanisches US-Gefängnis geschafft worden. Das Fazit von Hanning und Uhrlau: Hiesige Stellen hatten mit dieser Aktion nichts zu tun und erfuhren von der Verschleppung erst nach der Freilassung El-Masris. So meint denn Oppermann zufrieden, deutsche Geheimdienste seien in diesen Fall nicht verstrickt gewesen und hätten sich nichts zuschulden kommen lassen, es habe "keine Kumpanei" mit der CIA gegeben.
Die Opposition indes hegt weiter Zweifel. Vor allem bergen Hannings und Uhrlaus Aussagen Zündstoff für weitere Themen des Ausschusses. El-Masri ist nur der erste Komplex. Danach dreht es sich etwa um den Fall des aus Bremen stammenden und offenbar irrigerweise unter Terrorverdacht gestellten Murat Kurnaz, der vor seiner Verschleppung nach Guantanamo zuvor in einem afghanischen US-Lager auch von deutschen Soldaten misshandelt worden sein will, sowie um die Frage, ob die deutsche Regierung etwas von den getarnten CIA-Flügen mit Terrorverdächtigen zu Geheimgefängnissen wusste und bei diesen "Renditions" geholfen hat.
Mehrfach betont Hanning, der BND hätte zugunsten El-Masris eingegriffen, so Pullach von dessen Entführung Wind bekommen hätte. Es sei "abwegig", anzunehmen, man würde sich in einer solchen Situation nicht für deutsche Staatsbürger einsetzen. Stadler hakt nach: Warum habe man sich dann nicht für Kurnaz verwandt? Dessen kurzzeitige Inhaftierung in Afghanistan 20202 wurde ja nach Deutschland gemeldet. Oppositionsvertreter erwähnen auch einen lange Zeit in München lebenden Ägypter, der als 69jähriger kurz nach dem 11. September verhaftet und in einem bosnischen US-Lager misshandelt wurde - und der dort von deutschen Sicherheitsbehörden kontaktiert wurde. Ströbele spricht den Fall des Deutsch-Syrers Mohammed Zammar an, der in Damaskus einsitzt und dort von deutschen Stellen verhört wurde: Haben die hiesigen Verantwortlichen etwas für den Terrorverdächtigen getan?
Geklärt werden solche Fragen nicht, auch weil Hanning unter Verweis auf das Beweisthema El-Masri Antworten verweigert. Ob es im Übrigen etwas zu bedeuten hat, dass Hanning stets von "deutschen Staatsbürgern" redet, für die sich der BND in einem Entführungsfall zu engagieren habe? Kurnaz und der alte Ägypter haben diesen Status bislang nicht. Auf Nachfragen der Opposition erklärt der Staatssekretär, "nach seiner Kenntnis" habe der BND nicht an Renditions mitgewirkt. Laut Uhrlau, der bis Dezember 2005 im Kanzleramt für die Geheimdienstkoordination zuständig war, hatte man bereits vor der Affäre El-Masri Erkenntnisse, dass die USA verhaftete Terrorverdächtige nach Guantanamo bringen - nicht jedoch auf Geheimgefängnisse in verschiedenen Ländern. Die "systematische Rendition-Praxis" sei erst im Laufe des Jahres 2005 bekannt geworden. Bei solchen Aussagen merken Oppositionsabgeordnete auf, schließlich gab es ja die Fälle von Kurnaz und Zammar sowie des Ägypters. Nescovic will zudem wissen, ob der BND beim Informationsaustausch zwischen hiesigen und US-Diensten bei der Terrorbekämpfung auch von Erkenntnissen profitiert habe, die aus Verhören bei Renditions stammten. Die Amerikaner würden nicht mitteilen, wie sie ihre Informationen gewinnen, antwortet Hanning. Da scheint das letzte Wort noch nicht gesprochen, zumal die vom EU-Parlament zu den CIA-Flügen eingesetzte Kommission einen Bericht mit einer gewissen Brisanz vorgelegt hat: Danach fanden seit 2001 im europäischen Luftraum über 1.200 getarnte CIA-Gefangenentransporte statt.
Beim Fall El-Masri vermag die Opposition Hanning und Uhrlau nicht aus der Ruhe zu bringen. Beide betonen, dass der BND von dieser Entführung erst im Juni 2004 nach der Freilassung des Deutsch-Libanesen erfahren habe, daran nicht beteiligt gewesen sei und diese Verschleppung nicht geduldet habe. Deutsche Stellen hätten keine Nachrichten über El-Masri an die USA geliefert und auch nicht an dessen Verhören teilgenommen. Beide Zeugen erklären, bei "Sam" handele es sich nicht um einen Mitarbeiter hiesiger Sicherheitsbehörden: Ein solcher deutschsprechender "Sam" war laut El-Masri bei seinen Vernehmungen in Afghanistan anwesend.
Eines sagen Uhrlau und Hanning auch: dass sie erst Ende 2005 aus US-Medien erfuhren, wonach Ex-Innenminister Otto Schily von US-Botschafter Daniel Coats bereits am 31. Mai 2004 vertraulich über die Vorgänge um El-Masri in Kenntnis gesetzt wurde. Das habe ihn "überrascht", meint Hanning. Kauder weist darauf hin, dass ein Mitarbeiter Schilys schon kurz danach die Vizepräsidenten des Bundeskriminalamts und des Verfassungsschutzes über das Gespräch informiert hat, nicht aber die BND-Spitze. Hanning zuckt kommentarlos die Schultern. Als "Panne" bezeichnen beide Zeugen das Verhalten des BND-Bediensteten "Cordes", der im Januar 2004 von El-Masris Verhaftung erfuhr, dies aber erst im Mai 2006 in Pullach meldete. Das sei "sehr merkwürdig" und "sehr ungewöhnlich", so Hanning.
Eine andere Merkwürdigkeit: "Versehentlich", so Uhrlau, sei "Cordes" nicht befragt worden, als die anderen BND-Residenten in Skopje in dienstlichen Erklärungen mitteilten, von der Festnahme des Deutsch-Libanesen nichts mitbekommen zu haben. Belanglos war das Schweigen von "Cordes" keineswegs: Im Januar 2004 wurde El-Masri noch in Mazedonien festgehalten, so dass der BND dort etwas für ihn hätte tun können.