Nobelpreisträger Grass hat mit seinem Geständnis, 1944/45 Soldat der Waffen-SS gewesen zu sein, für die wohl größte Debatte der jüngeren literarischen Erinnerungskultur gesorgt. Sie war gut für sein neues Buch und schlecht für den Autor: Sein Ruf als moralische Instanz der Deutschen stand auf dem Spiel. Dabei ging es nicht um die vom Autor selbstkritisch sezierte Verführbarkeit eines Jugendlichen im "Dritten Reich". Ein "Kainsmal" (so Grass) wurde die doppelte Rune, die Holocaust-Überlebende zeitlebens entsetzt, aus einem anderen Grund. Grass schwieg sich jahrzehntelang über dieses Kapitel seiner Biografie aus; noch israelischen Besuchern, die ihm im Sommer 2006 eine Ehrendoktorwürde antrugen, hatte er seine SS-Mitgliedschaft vorenthalten. Am meisten aber stieß die Doppelmoral auf Widerspruch, mit der Grass immer wieder Kritik an der Vergangenheit deutscher Politiker geübt und die angeblich "kommode Diktatur" der DDR gerechtfertigt, mit seiner eigenen Geschichte aber wohlweislich hinter dem Berg gehalten hatte.
Wem diese Geschichte gehört, daran lässt Grass keinen Zweifel. Nur der Autor hat das Recht, seine Erinnerung zu hüten, die demgemäß unzuverlässig sein kann und subjektiv sein muss. "Gedächtnislücken" und "Blindstellen" gehören so mit zum Erzählprogramm von Grass, dem der "Krebsgang" der individuellen Erinnerung wichtiger ist als die auf Genauigkeit und Geradlinigkeit bedachte Historiografie. Schon beim Nobelpreisträgertreffen in Vilnius hat Grass dies betont: "Erinnerung darf schummeln, schönfärben, vortäuschen, das Gedächtnis hingegen tritt gerne als unbestechlicher Buchhalter auf."
Die Last der persönlichen Erinnerung verteilt Grass auf zwei Schultern: auf den aus der Gegenwart erzählenden Chronis-ten und auf sein jugendliches Alter Ego, das in zeitliche und zugleich räumliche Distanz gerückt wird. Das Gleichnis für ein solches moralisches Zwei-Personen-Drama aus Mitläufer und Aufklärer liefert das Titelmotiv der Zwiebel. Das Häuten der Zwiebel trübt den Blick und liefert unscharfe Erinnerungsbilder. Gut verfolgen kann man das in dem Kapitel des Buches, das der Zeit bei der Waffen-SS gewidmet ist. An die Stelle von Motivationen und Erklärungen treten Selbstzweifel und selbst aufgestellte Erinnerungsverbote.
Kein Wort fällt über Totenkopfmystik und Nibelungenethos der Schutzstaffel, die sich von Hitlers persönlicher Leibwache zum Hauptinstrument des politischen und militärischen Terrors entwickelte. Sehen und Wissen klaffen auseinander, die subjektive Erinnerung unterdrückt die historische Wahrheit über die Waffen-SS. Damit macht sich Grass selber zu einem "umsichtig heimlichen Verdränger" (Martin Meyer) der Geschichte.
Die 1968 geborene Autorin Tanja Dückers ist 41 Jahre jünger als Grass. Unfreiwillig wurde ihr Roman "Himmelskörper" ein Opfer der Novelle "Im Krebsgang", mit der Grass 2002 die Diskussion über Flucht und Vertreibung zu monopolisieren versucht hatte. Dückers' Buch handelt von dem gleichen Ereignis, der Flüchtlingstragödie des ehemaligen KdF-Schiffes "Wilhelm Gustloff", beleuchtet es aber nicht aus der Opferperspektive wie Grass, sondern verkapselt es in einem Familiengeheimnis der Täter.
Die Großeltern der Erzählerin hatten sich auf Kos-ten anderer Flüchtlinge und mit Hilfe von Denunziationen als privilegierte Nazis aus Gotenhafen gerettet und sogar Hitlers "Mein Kampf" mit ins Fluchtgepäck genommen: eine Geschichte, die verdrängt, vergessen und durch beschönigende Erinnerungen überlagert wird.
Die politische Brisanz des Romans besteht nun da-rin, wie das Geheimnis gelüftet wird. Schon früh ahnt der Leser mit der Erzählerin, dass es mit den Kriegs- und Flüchtlingserzählungen ihrer Großeltern nicht seine Richtigkeit hat. Der eine braucht zu wenig, die andere zu viel Geschichte: "Geschichtsvergessenheit" und "Geschichtsversessenheit" gehen eine irritierende Mischung ein.
Auch die elterliche Nachkriegsgeneration stiftet keine gemeinsame Erinnerung mehr; der Vater, als Orthopäde sinnigerweise auch zuständig für das Einrenken "krummer Geschichten", kann mit dem Krieg weder Erinnerungen noch Erlebnisse verbinden; seine Frau wiederholt den Erinnerungszwang ihrer Mutter, indem sie alte Zöpfe und Zähne sammelt: Extreme einer Scham- und Schuldkultur, die das Werteklima der 68er-Generation langwirkend bestimmt hat.
Das alles vermag die Erzählerin Freia nicht zu überzeugen. Sie fühlt sich als "Teil einer langen Kette", aber zugleich anders - "ohne Erklärung, Geschichte, Verbindung" - als ihre weiblichen Vorfahren, die jeweils im ersten Kriegsjahr (1914 die Großmutter, 1939 die Mutter) geboren sind. Sie will den "vagen Begriff ,Geschichte'" mit einer "schlüssigen Geschichte" füllen. Doch am Ende muss sie sich eingestehen, dass Fotografien, historische Dokumente und Erzählungen die Wahrheit der Familienhistorie nicht preisgeben. Tanja Dückers plädiert für die "innere Wahrheit" der Geschichte statt für eine mimikryhafte Realitätsnachahmung.
"Nicht jedes Erinnerungsbuch ist Literatur", hat die ehemalige Bundesministerin Dorothee Wilms mit Recht betont. Uwe Timms Buch "Am Beispiel meines Bruders" jedoch ist ein Modell spannender und zugleich hochauthentischer Erinnerungsliteratur. Schon im Titel knüpft es an die Tradition der Exempla-Literatur an, in der die Historie als eine vorbildliche Beispielsammlung lehrreicher Erfahrungen galt. Doch dem 1940 geborenen Autor liegt weniger an der Lehre der Geschichte als vielmehr an ihrer Leere, an ihren Auslassungen, an Erinnerungslücken und Brüchen.
Aus "der Distanz von 60 Jahren" geht es um die Geschichte seines älteren Bruders, der sich 1942, erst 18-jährig, zur SS-Totenkopfdivision meldete und in der Ukraine starb. Zugleich geht es um die bis in die Gegenwart reichende Geschichte seiner Familie, die der Autor als einziger überlebt hat. Die Last dieser Erinnerung ruht auf dem Familiengedächtnis und den Medien privater Erinnerung (Tagebuch, Briefe, Fotos). Zugleich werden normative Texte der kollektiven Erinnerungskultur zu Rate gezogen. Diese Quellen treten in einen spannungsreichen Dialog. Wenn in den Tagebuchaufzeichnungen des Bruders die Tötung von Zivilisten in einem Krieg der verbrannten Erde als "normaler Alltag", im Luftkrieg über Deutschland hingegen als "Mord" bezeichnet und Feldpostbriefen des Bruders die Erinnerung jüdischer KZ-Insassen gegenübergestellt wird, denen jeder Kontakt mit der Außenwelt untersagt war, dann zeigt sich, wie unzuverlässig jede einzelne Quelle für sich ist.
Timm demonstriert, wie wichtig das kulturelle Gedächtnis als Ergänzung und Korrektiv des Familiengedächtnisses ist. Wovon das Tagebuch des Bruders schweigt, von NS-Ideologie und Antisemitismus etwa, davon müssen historische und literarische Quellen sprechen. Das Mandat des nachgeborenen Erzählers besteht darin, die Aufzeichnungen und Erzählungen der Zeitzeugengeneration, die er überlebt hat, kritisch zu reflektieren.
Wem die Geschichte gehört, der subjektiven Erinnerung der Zeitzeugengeneration (Grass), der literarischen Fiktion der zweiten Nachkriegsgeneration (Dückers) oder dem Familien- und Gesellschaftsgedächtnis der ,Zwischengeneration' (Timm), bleibt offen. Mit dem allmählichen Aussterben der Zeitzeugen, die Weltkrieg und Holocaust, Flucht und Vertreibung noch in ihrem Erfahrungsgedächtnis haben, nähern wir uns einer Schattenlinie. Gleichzeitig wird die Erinnerung an die ost- und ostmitteleuropäischen Diktaturen der zweiten Jahrhunderthälfte reaktiviert. An der Überführung dieser differierenden Geschichtserfahrungen ins kulturelle Langzeitgedächtnis sind neben Bildern, Denkmälern, Museen, Gedenk- und Festtagen die Werke der Literatur maßgeblich beteiligt.
Es sind immer wieder die Schriftsteller, die als gefragte und fragende Instanzen der Erinnerung unsere Gedächtniskraft herausfordern. Sie sammeln, speichern und überliefern das historische Wissen, dessen die Gesellschaft bedarf, um ihre Wertegrundlagen zukunftssicher zu reflektieren. Deshalb sind die Erinnerungsbücher von Louis Begley, Joachim Fest, Gila Lustiger, Uwe Timm, um nur diese zu nennen, so wichtig für eine "europäische Erinnerungskultur" (Dorothee Wilms), in der über Gemeinsames und Trennendes der nationalen Erbschaften gesprochen werden muss. Selbst wenn Versuche der Versöhnung über die Gräben der Vergangenheit oft problematisch sind - sie sind geboten, will man das Gestern nicht dem Vergessen überantworten. Verharmlosung, Beschönigung oder Ostalgie im Umgang mit deutscher Vergangenheit, etwa mit Anpassung und Widerstand in der SED-Diktatur, tragen zur Geschichtsverfälschung bei.
In diesem Sinne ist nur zu beherzigen, was Harald Weinrich jüngst auf dem Berliner Symposium der Konrad-Adenauer-Stiftung über "Literatur als Erinnerungskultur" hervorgehoben hat: "Wachsamkeit und Kritik bleiben geboten, Bequemlichkeit und Unbesorgtheit verboten."