Bundestagspräsident Norbert Lammert (CDU) war seiner Zeit schon etwas voraus. Zum Beginn der Sitzung kündigte er eine Erklärung der Kanzlerin zum Europäischen Rat in Düsseldorf statt in Brüssel an. Nach einer ersten Heiterkeit und einem Dank an die derzeitige finnische Präsidentschaft begann die Bundeskanzlerin ihre Regierungserklärung gleich mit dem "heißen Eisen": der Erweiterungspolitik. Auch mit Blick auf die derzeitige Debatte um die Türkei machte sie unmissverständlich klar, dass alle Beitrittskriterien eingehalten werden müssten. "Dies sage ich nicht als Drohung, sondern ich sage es eher als Ansporn für die Gemeinschaft, die natürlich dafür sorgen muss, dass sie die notwendige Aufnahmefähigkeit hat", erklärte die Kanzlerin. Noch am selben Abend beschlossen die Staats- und Regierungschefs auf ihrem Gipfel in Brüssel strengere Kontrollen beim Erweiterungsprozess. Konkret sollen in Zukunft vor allem die politischen und finanziellen Folgen für die Gemeinschaft stärker unter die Lupe genommen werden.
In ihrer Regierungserklärung zum Gipfel kündigte Merkel an, Ländern wie der Ukraine durch eine dauerhafte Nachbarschaftspolitik neue Perspektiven jenseits einer Mitgliedschaft anbieten zu wollen. Eng damit verbunden ist auch das Thema Migration. Die Union wolle "mit Entschiedenheit gegen illegale Migration vorgehen", aber gleichzeitig ihre Ursachen bekämpfen. Auch hier brachte der Brüssler Gipfel wenige Stunden später einen Erfolg: Erstmals einigten sich die noch 25 Mitgliedstaaten auf gemeinsame Schritte beim Thema legale Zuwanderung. Dazu soll die EU-Kommission bis Juni 2007 detaillierte Vorschläge machen.
Neue Ideen ganz anderer Art werden von der Bundeskanzlerin vor allem für den Fortgang des Verfassungsvertrages erwartet. Angela Merkel versuchte sie vor dem Plenum etwas zu dämpfen: "Das wird ein Prozess sein, der während unserer Präsidentschaft nicht beendet werden wird", sagte sie. Die Koalitionsfraktionen hatten die Regierungschefin zuvor in einem Antrag (16/3808) aufgefordert, den Verfassungsprozess "intensiviert fortzuführen" und klare Ziele zu formulieren. Die FDP wurde bereits konkreter und erklärte in ihrem Antrag (16/3832), dass "der Verfassungsprozess bis Ende 2008 zu einem guten Ergebnis" gebracht werden solle. Doch auch die Kanzlerin nannte einen Zeithorizont: "Ich hielte es für ein historisches Versäumnis, wenn wir es nicht schaffen würden bis zur nächsten Europawahl mit der Substanz des Verfassungsvertrages so umzugehen, dass wir wirklich ein Ergebnis abliefern können." Europa wählt 2009 ein neues Parlament. Der frühere Finanzminister Hans Eichel (SPD) rief die Länder, die Nein zum Verfassungsprozess gesagt haben, auf, zur Kenntnis zu nehmen, dass "zwei Drittel der Länder Ja gesagt haben" - und zwar in Kenntnis des negativen Votums. Der Fraktionschef der Linksfraktion, Oskar Lafontaine, zitierte den griechischen Philosophen Perikles und forderte für den Verfassungsvertrag ein Votum der Bevölkerung: "Ohne Volksabstimmung gibt es kein demokratisches Europa", sagte er. Peter Ramsauer (CSU) erklärte das "Nein" der Niederländer und Franzosen zum Verfassungsvertrag damit, dass für sie "Europa nicht mit einer glänzenden und guten Zukunft verbunden war, sie keinen Nutzen für den einzelnen Bürger sahen...". Die Fraktionschefin von Bündnis 90/Die Grünen, Renate Künast, forderte, anlässlich des 50. Jahrestages der Römischen Verträge, der am 25. März mit einem Festakt in Berlin gefeiert werden soll, "der Europäischen Union einen Sinn" einzuhauchen, da sich die Menschen fragen würden, wozu sie die EU bräuchten. Eine Frage, auf die von der deutschen Ratspräsidentschaft bis Juni 2007 viele konkrete Antworten erwartet werden. Debattendokumentation auf den Seiten 17 - 20