Dass eine integrierte Geschichte des Holocaust notwendig ist, wurde mir erstmals im Laufe der Mitte und Ende der 1980er Jahre geführten Debatten klar. Ausschlaggebend war insbesondere die Auseinandersetzung mit Martin Broszat über das 1985 von ihm vorgelegte "Plädoyer für eine Historisierung des Nationalsozialismus". Eines der Argumente Broszats richtete sich gegen die traditionelle Schwarzweißdarstellung des Dritten Reiches, an deren Stelle ein Bild in abgestuften Grautönen treten sollte. Broszats kaum verhüllter Subtext, der im Zuge unseres 1988 geführten Briefwechsels zutage trat, besagte, die Wahrnehmung der jüdischen Überlebenden von dieser Vergangenheit sei ebenso wie die ihrer Nachkommen zwar "achtenswert", aber sie stelle doch eine mythische Erinnerung dar, die einer rationalen deutschen Geschichtsschreibung ein Hindernis in den Weg lege, das zu einer Vergröberung führe.
Diese Auffassung verewigte die intellektuelle Abtrennung der Geschichte der Juden während der NS-Zeit und überließ ihre Bearbeitung bestenfalls jüdischen Historikern. Meine Arbeit, 1 mit der ich 1990 begann, sollte zeigen, dass im Hinblick auf den professionellen Umgang mit diesem Gegenstand eine Unterscheidung zwischen Historikern unterschiedlicher Herkunft nicht gerechtfertigt ist; sämtliche Historiker, die sich mit diesem Thema befassen, müssen sich über ihre unvermeidlich subjektive Herangehensweise im Klaren sein und genügend selbstkritische Einsicht aufbringen können, um diese Subjektivität unter Kontrolle zu halten. Mir kam es in erster Linie darauf an, auch die jüdische Dimension in eine integrierte historische Erzählung einzubeziehen.
In dieser kurzen Darstellung befasse ich mich zunächst mit dem Begriff einer integrierten Geschichte des Holocaust, wende mich dann einigen Entscheidungen hinsichtlich der Erzählweise und der Interpretation zu, die ein derartiger Ansatz erforderlich macht, und schildere schließlich einige Probleme, die bei dieser Form der Geschichtsdarstellung auftreten können.
David Moffie wurde am 18. September 1942 an der Universität Amsterdam zum Doktor der Medizin promoviert. Auf einer anlässlich dieses Ereignisses aufgenommenen Photographie stehen Professor Ariens Kappers, Moffies Doktorvater, und Professor H. T. Deelman zur Rechten des frisch gebackenen Doktors der Medizin, der Assistent D. Granaat zuseiner Linken. Ein weiteres Mitglied des Lehrkörpers, das von hinten zu sehen ist, möglicherweise der Dekan der Medizinischen Fakultät, steht ihnen gegenüber auf der anderen Seite eines großen Schreibtisches. Im undeutlich auszumachenden Hintergrund erkennt man mit Mühe die Gesichter eines Teils der Menschen, die sich in dem ziemlich kargen Saal versammelt haben und bei denen es sich zweifellos um Familienmitglieder und Freunde handelt. Die Angehörigen des Lehrkörpers sind in ihre akademischen Festgewänder gekleidet, während Moffie und Assistent Granaat einen Smoking und einen weißen Schlips tragen. Auf der linken Seite seiner Smokingjacke trägt Moffie einen handtellergroßen Judenstern, auf dem das Wort "Jood" geschrieben steht. Moffie war der letzte jüdische Student an der Universität Amsterdam in der Zeit der deutschen Besatzung. Kurze Zeit später wurde er nach Auschwitz-Birkenau deportiert. Er gehörte schließlich zu den 20 Prozent der niederländischen Juden, die überlebten; derselben Statistik zufolge kam der größte Teil der bei der Zeremonie anwesenden Juden nicht mit dem Leben davon.
Das Bild wirft einige Fragen auf. Wie war es möglich, dass die Zeremonie am 18. September 1942 stattfand, obgleich jüdische Studenten mit Wirkung von diesem Datum an aus den niederländischen Universitäten ausgeschlossen wurden? Die Herausgeber des Bandes "Photography and the Holocaust" fanden die Antwort: Der letzte Tag des akademischen Jahres 1941/42 war Freitag, der 18. September 1942; das Semester 1942/43 begann am Montag, dem 21. September 1942. Die dreitägige Unterbrechung machte es möglich, dass Moffie die Doktorwürde verliehen bekam, bevor der Ausschluss jüdischer Studenten obligatorisch wurde. Mit anderen Worten: Die Universitätsbehörden erklärten sich bereit, den administrativen Kalender entgegen den Intentionen des deutschen Erlasses anzuwenden. Diese Entscheidung signalisierte eine Haltung, die an niederländischen Universitäten seit Herbst 1940 weit verbreitet war; die Photographie dokumentiert einen Akt des Trotzes, des Umgehens von Gesetzen und Verfügungen des Besatzers.
Es gibt noch mehr zu sagen. Die Deportationen aus den Niederlanden begannen am 14. Juli 1942. Fast jeden Tag verhafteten die Deutschen und die einheimische Polizei auf den Straßen niederländischer Städte Juden, um ihr wöchentliches Soll zu erfüllen. Moffie hätte an dieser öffentlichen akademischen Zeremonie nicht teilnehmen können, wenn er nicht eine der speziellen (und zeitlich beschränkten) 17 000 Ausnahmebescheinigungen erhalten hätte, welche die Deutschen dem Judenrat zuteilten. Indirekt erinnert das Bild somit an die Kontroverse um die Methoden, welche die Oberhäupter des Rates anwandten, um zumindest vorübergehend einige der Juden Amsterdams zu schützen und die große Mehrheit der niederländischen und ausländischen Juden ihrem Schicksal zu überlassen.
Das auf Moffies Jackett aufgenähte "Jood", das dem frischgebackenen Dr. med. die Ermordung verhieß, erscheint, wie wir alle wissen, nicht in Blockbuchstaben oder in irgendeiner anderen gebräuchlichen Schrift. Die Schriftzeichen waren eigens für diesen Zweck entworfen worden (und in den Sprachen der Länder, aus denen die Deportationen vorgenommen wurden, ähnlich gezeichnet: "Jude", "Juif", "Jood" usw.); sie hatten eine krumme, abstoßende und unbestimmt bedrohliche Form, die an das hebräische Alphabet erinnern und doch leicht entzifferbar bleiben sollte. Diese Aufschrift mit ihrer eigentümlichen Gestaltung lässt die auf der Photographie abgebildete Situation in ihrer Quintessenz sichtbar werden; die Deutschen waren versessen darauf, die Juden als Individuen auszurotten und das auszulöschen, was der Stern und seine Inschrift repräsentierten: "den Juden".
So vermittelt ein einziger Schnappschuss dem Betrachter eine Ahnung von einer Vielzahl von Interaktionen zwischen deutschen ideologischen Halluzinationen und Verwaltungsmaßnahmen, niederländischen Institutionen und individuellen Entscheidungen, jüdischen Institutionen und, im Mittelpunkt von alledem, dem Schicksal eines einzelnen Juden. In Worte übersetzt, in seinem Kontext erzählt, auf unterschiedlichen Bedeutungsebenen interpretiert, lässt sich das Bild als metonymische Repräsentation einer Geschichte mit vielen Facetten ansehen, eines Unternehmens, das sich als eine integrierte Geschichte des Holocaust definieren ließe.
Eine integrierte Geschichte des Holocaust ist aus mehreren Gründen notwendig. Erstens lässt sich diese Geschichte nicht auf deutsche Entscheidungen und Maßnahmen beschränken, sie muss vielmehr diejenigen von Behörden, Institutionen und den unterschiedlichsten gesellschaftlichen Gruppen der besetzten Länder und der Satellitenstaaten im von Deutschen kontrollierten Europa einbeziehen. Zweitens ist es offenkundig, dass in jedem Stadium jüdische Wahrnehmungen und Reaktionen (ob kollektiv oder individuell) ein untrennbarer Bestandteil dieser Geschichte waren und man sie somit im Hinblick auf eine allgemeine historische Darstellung nicht als separaten Bereich ansehen kann. Und schließlich drittens verbessert eine gleichzeitige Darstellung von Ereignissen, die sich auf allen Ebenen und an verschiedenen Orten abgespielt haben, die Wahrnehmung der Größe, der Komplexität und wechselseitigen Verflochtenheit der gewaltigen Zahl von Komponenten dieser Geschichte. Ich will diese drei Punkte näher skizzieren.
Die Tatsache, dass die Geschichte der Vernichtung der Juden Europas nicht an den Grenzen des Deutschen Reiches Halt macht und sich nicht nur auf deutsche Entscheidungen beschränkt, brauchen wir nicht näher auszuführen. Von Bedeutung im Rahmen des großen Netzwerks aus Initiativen, Unterstützung und Hinnahme ist jedoch möglicherweise das Ausmaß der Informationen über die Vernichtung der Juden, die schon früh in ganz Europa (einschließlich Deutschlands natürlich) zur Verfügung standen. Am 18. Juni 1942 schrieb der Zahlmeister der Reserve H. K. aus Brest-Litowsk nach Hause: "In Bereza-Kartuska, wo ich Mittagsstation machte, hatte man gerade am Tage vorher etwa 1 300 Juden erschossen. (...) Männer, Frauen und Kinder mussten sich dort völlig ausziehen und wurden durch Genickschuss erledigt. Die Kleider wurden desinfiziert und wieder verwendet. Ich bin der Überzeugung: Wenn der Krieg noch länger dauert, wird man die Juden auch noch zu Wurst verarbeiten und den russischen Kriegsgefangenen oder den gelernten jüdischen Arbeitern vorsetzen müssen." Einige Monate später schrieb Soldat S. M., der auf dem Weg zur Front war, aus der Stadt Auschwitz: "Juden kommen hier, das heißt in Auschwitz, wöchentlich 7 - 8 000 an, die nach kurzem den Heldentod` sterben." Und er fügte hinzu: "Es ist doch gut, wenn man einmal in der Welt umher kommt (...)."
In Minden hatten die Einwohner das Schicksal der aus ihrer Stadt Deportierten schon im Dezember 1941 erörtert und öffentlich davon gesprochen, dass Juden, die nicht arbeitsfähig seien, erschossen würden. Einige Wochen später, im Februar 1942, notierte Bischof Wilhelm Berning aus Osnabrück, es gebe einen Plan, sämtliche Juden zu vernichten. Schon sehr bald erreichte diese Information nicht nur die Bevölkerung der osteuropäischen Länder, sondern auch Behörden in neutralen Staaten, vor allem in der Schweiz und in Schweden, sowie zentrale religiöse und humanitäre Institutionen. Solches Wissen zu einem frühen Zeitpunkt verleiht der Reaktion staatlicher Stellen im neutralen Europa ebenso wie der des Vatikans oder des Internationalen Komitees vom Roten Kreuz gerade zu dem Zeitpunkt, als die Vernichtung ihr volles Ausmaß erreichte - im Frühsommer 1942 -, eine zusätzliche Dimension.
Bislang ist die jüdische Dimension kaum in allgemeine Untersuchungen über diese Epoche einbezogen worden. Und wenn in der hauptsächlich nichtjüdisch orientierten Geschichtsschreibung auf diese Dimension angespielt wird, gibt es die Tendenz, dabei vorwiegend auf institutionell-kollektives jüdisches Verhalten einzugehen: auf die Entscheidungen jüdischer Führungsgruppen oder auf einige der bekanntesten Widerstandsversuche. Doch von ihrer grundlegenden historischen Bedeutung her spielte sich die Interaktion zwischen den Juden in den besetzten Ländern und den Satellitenstaaten Europas, den Deutschen und der umwohnenden Bevölkerung hauptsächlich auf einer weit elementareren Ebene ab. Von Anfang an stellten alle Schritte, die von einzelnen Juden oder jüdischen Gruppen unternommen wurden, um die Bemühungen der Nazis zu stören, ein Hindernis, wie geringfügig es auch immer gewesen sein mag, auf dem Weg zur vollständigen Vernichtung dar: ob es darum ging, Beamte, Polizisten oder Denunzianten zu bestechen, Familien dafür zu bezahlen, dass sie Kinder oder Erwachsene verstecken, in die Wälder oder ins Gebirge zu fliehen, sich in kleine Dörfer oder in große Städte zurückzuziehen, zu konvertieren, sich Widerstandsgruppen anzuschließen, Lebensmittel zu stehlen oder sonst etwas zu tun, das zum Überleben führte. Auf dieser Mikroebene müssen jüdische Reaktionen und Initiativen untersucht und in die umfassenderen Bereiche dieser Geschichte integriert werden. Auf dieser Mikroebene ist ein großer Teil der Geschichte eine von Individuen.
Die Geschichte der Vernichtung des europäischen Judentums auf der individuellen Ebene lässt sich aus der Perspektive der Opfer nicht nur auf Grund von Aussagen vor Gericht, Interviews und Memoiren rekonstruieren, sondern auch mit Hilfe der ungewöhnlich großen Zahl von Tagebüchern (und Briefen), die während der Ereignisse geschrieben und im Laufe der nachfolgenden Jahrzehnte aufgefunden wurden. Diese Tagebücher und Briefe schrieben Juden aller Länder, aller Lebensbereiche, aller Altersgruppen, die entweder unter unmittelbarer deutscher Herrschaft oder mittelbar in der Sphäre der Verfolgung lebten. Selbstverständlich muss man die Tagebücher mit derselben kritischen Aufmerksamkeit benutzen wie jedes andere Dokument. Als Quellen für die Geschichte jüdischen Lebens während der Jahre der Verfolgung und Vernichtung bleiben sie jedoch unersetzlich. Hunderte, wahrscheinlich Tausende von Zeugen vertrauten ihre Beobachtungen der Verschwiegenheit ihrer privaten Aufzeichnungen an. Diese Zeugnisse schildern in allen Einzelheiten die Initiativen und die alltägliche Brutalität der Täter, die Reaktionen der Bevölkerung, das Leben und die Vernichtung ihrer Gemeinden, aber sie halten auch die Welt ihres Alltags fest, die von Verzweiflung, Gerüchten, Illusionen und Hoffnung bestimmt ist, welche sich fortwährend abwechseln, meist bis zum Ende.
"Mein lieber Papa, traurige Nachrichten. Nach meiner Tante bin ich an der Reihe fortzugehen." So begann die hastig mit Bleistift geschriebene Postkarte, die die 17-jährige Louise Jacobson am 12. Februar 1943 aus Drancy an ihren Vater schickte, der sich noch in Paris aufhielt. "Ich bin sehr zuversichtlich", fuhr sie fort, "so wie alle hier. Mach Dir bitte keine Sorgen, Papa. Erstens fahren wir unter sehr guten Bedingungen los. Ich habe in dieser Woche sehr, sehr gut gegessen. Ich habe nämlich eine Berechtigung für zwei weitere Pakete erhalten. Das erste stammt von einer Freundin, die schon deportiert worden ist, und das zweite von Tante Rachel. Und dann kam ja auch noch eins von Dir, genau im richtigen Moment. (...) Wir fahren morgen früh ab. Ich bin mit Freunden zusammen, denn morgen werden sehr viele abgeholt. Ich habe meine Uhr und den Rest meiner Sachen bei zuverlässigen Leuten aus meinem Zimmer hinterlassen. Lieber Papa, ich küsse Dich hunderttausendmal von ganzem Herzen. Courage et à bientôt, Deine Tochter Louise." Am 13. Februar 1943 fuhr Louise in Transport Nr. 48 zusammen mit 1 000 anderen französischen Juden nach Auschwitz. Eine überlebende Freundin, eine Chemieingenieurin, war während der Selektion mit ihr zusammen. "Sag, du bist Chemikerin", hatte Irma geflüstert. Als Louise an der Reihe war und sie nach ihrem Beruf gefragt wurde, antwortete sie: "Studentin"; sie wurde nach links, in die Gaskammer, geschickt.
Solche persönlichen Chroniken, solche individuellen jüdischen Stimmen sind die unmittelbarsten Zeugnisse von Dimensionen laufender Ereignisse, die in anderen Quellen gewöhnlich nicht wahrgenommen werden. Wie Blitzlichter, die Teile einer Landschaft erhellen, bestätigen sie Ahnungen, sie warnen uns vor vorschnellen Verallgemeinerungen, sie durchbrechen die Selbstgefälligkeit wissenschaftlicher Distanziertheit. Häufig wiederholen sie nur das, was bekannt war, aber sie drücken es mit unvergleichlicher Eindringlichkeit aus. So brachte im Rahmen ihrer Erinnerungen an die Ermordung von etwa 12 000 Juden in Stanislawow am 12. Oktober 1941 die junge Tagebuchschreiberin Elsa Binder das Schicksal ihrer beiden Freundinnen Tamarczyk und Esterka zur Sprache: "Ich hoffe", schrieb Elsa, "dass der Tod gut zu Tamarczyk war und sie gleich geholt hat. Und dass sie nicht leiden musste wie ihre Gefährtin Esterka, bei der man mit ansehen musste, wie sie erwürgt wurde."
Schließlich erweitert die integrierte Darstellung - das ist der dritte Punkt - die historische Wahrnehmung des Holocaust um eine wesentliche Dimension; sie braucht nicht transnational zu sein. Sie kann sich auf verschiedene Ereignisse beziehen, die gewöhnlich nicht miteinander verknüpft werden und die sich zu gleicher Zeit und in ein und demselben Land abspielten. Ende Dezember 1941 war die Entscheidung zur Vernichtung aller Juden Europas gefällt worden. Zur gleichen Zeit gab die Hauptvertretung der Deutschen Evangelischen Kirche, die Kirchenkanzlei, als Reaktion auf eine stark antisemitische Erklärung einer Reihe deutschchristlicher Kirchen eine Verlautbarung heraus, in der sie getauften Juden jegliche Solidarität versagte: "Der Durchbruch des rassischen Bewusstseins in unserem Volk, verstärkt durch die Erfahrungen des Krieges und entsprechende Maßnahmen der politischen Führung, haben die Ausscheidung der Juden aus der Gemeinschaft mit uns Deutschen bewirkt. Dies ist eine unbestreitbare Tatsache, an welcher die deutschen Evangelischen Kirchen nicht achtlos vorübergehen können. Wir bitten daher im Einvernehmen mit dem Geistlichen Vertrauensrat der Deutschen Evangelischen Kirche die obersten Behörden, geeignete Vorkehrungen zu treffen, dass die getauften Nichtarier dem kirchlichen Leben der deutschen Gemeinde fernbleiben."
Die Bekennende Kirche protestierte, aber ihr Protest war der einer Minderheit und machte keine Gegenmaßnahmen erforderlich. Wenige Wochen zuvor hatten mehrere katholische Bischöfe einen Text kursieren lassen, in dem Unterstützung für konvertierte deutsche Juden, die man in den "Osten" geschickt hatte, zum Ausdruck kommen sollte. Die Mehrheit der Bischofskonferenz lehnte jeden derartigen Schritt, mochte er auch noch so zaghaft formuliert sein, ab. Selbstverständlich gingen weder Protestanten noch Katholiken auf das Schicksal der nicht getauften Juden ein. Mit anderen Worten: Als die Deportationen aus Deutschland begannen und vor allem, als die ersten Vernichtungsstätten in Betrieb genommen wurden, konnten sich Hitler und seine Helfer auf die Passivität der einzigen Gegenkraft verlassen, die einst das Regime wegen seiner verbrecherischen Politik herausgefordert hatte.
Die Gleichzeitigkeit der Entscheidung, alle Juden Europas zu ermorden, und des erklärten Nichteingreifens der christlichen Kirchen zugunsten getaufter Juden stellt die Frühphase der "Endlösung" in ihren umfassenderen deutschen Kontext. Eben dieser Kontext nimmt eine weitere sowohl tragische als auch ironische Bedeutung an, denn zur selben Zeit feierten Juden im Reich und im gesamten besetzten Europa ihre bevorstehende Befreiung, weil die sowjetischen Armeen vor Moskau erste Erfolge verzeichneten. Nur in Wilna und etwas später in Warschau wurde winzigen Gruppen klar, dass die allgemeine Vernichtung gerade erst anlief.
Es mag ungewöhnlich sein, bei der Erörterung eines historischen Projekts, bei dem per Definition alle Aufmerksamkeit der Begriffsbildung und Interpretation gelten sollte, Problemen der Erzählung Raum zu geben. Tatsächlich aber haben diese Probleme mein Unternehmen beinahe zum Scheitern gebracht. Wir haben es mit Ereignissen zu tun, die sich in Deutschland, in sämtlichen besetzten Ländern und Satellitenstaaten Europas und darüber hinaus abgespielt haben. Wir haben es mit Institutionen und individuellen Stimmen, mit Ideologien und religiösen Traditionen zu tun. Keine allgemeine Geschichte des Holocaust kann der Interaktion dieser Vielfalt von Elementen gerecht werden, wenn sie sie nach Art eines Lehrbuchs isoliert nebeneinander darstellt. Wenn man das Schicksal einzelner Juden, hauptsächlich Verfasser von Tagebüchern, verfolgt, also eine Zeitspanne darstellt, die sich vom Kriegsbeginn in den meisten Fällen bis zu ihrem Lebensende erstreckt, wird eine chronologische Entfaltung des Gesamtprozesses unvermeidlich.
Plötzliche Schnitte in der Erzählung, gefolgt von abrupten Perspektivwechseln, sind Verfahrensweisen, die im Film, aber kaum in der Geschichtsschreibung üblich sind. Ich habe mich jedoch entschlossen, diese Methoden in meiner Arbeit zu verwenden, weil sie die einzig mögliche Lösung für ein anders nicht zu lösendes Dilemma darstellen. Mein Projekt erzwang überdies eine teilweise Rückkehr zur Chronik, aber, darauf hat der Historiker Dan Diner hingewiesen, nicht zu einer Form, die der Begriffsbildung vorausgegangen wäre; die Chronik blieb die einzige Zuflucht, nachdem ich andere Interpretationsrahmen ausprobiert und für unzulänglich befunden hatte. Allerdings schließt eine derartige Form der chronologisch berichtenden Darstellung parteiische Interpretationen nicht aus, und ebenso wenig können Annahmen über den allgemeinen historischen Kontext des Holocaust - etwa die Krise des Liberalismus in Europa - oder, pointierter, allgemeine Thesen über den historischen Ort der Vernichtung der Juden im breiten Spektrum der Zielsetzungen der Nazis ausgeschlossen werden.
Dieser Punkt führt mich zum Hauptproblem der Interpretation: zur zentralen Stellung des Holocaust in der Geschichte des Nationalsozialismus. Die Verfechter des Historisierungskonzepts betonten, die Verbrechen der Nazis seien zunächst deswegen in den Mittelpunkt der Geschichte des Dritten Reiches gerückt, um den Erfordernissen der Kriegsverbrecherprozesse zu genügen. Später seien, derselben Argumentation zufolge, die Konzentration auf die verbrecherische Dimension des Dritten Reiches und seine Schwarzweißdarstellung für eine volkspädagogische Geschichtsschreibung unabdingbar geworden; außerdem sei diese Schwerpunktsetzung das Ergebnis der mythischen Erinnerung der Überlebenden. Aus dieser Sicht war 40 Jahre nach Kriegsende die Zeit reif, die verbrecherische Politik des Regimes in einen umfassenderen und differenzierteren Kontext zu stellen, in dem die Juden nicht mehr notwendigerweise im Mittelpunkt standen. Im Sinne dieses historischen Trends war die Verfolgung und Vernichtung der Juden Europas nur ein sekundärer Aspekt von Maßnahmen, mit denen ganz andere Ziele verfolgt wurden, etwa die Herstellung eines neuen wirtschaftlichen und demographischen Gleichgewichts im besetzten Europa durch die Ermordung überschüssiger Bevölkerungsteile, die Neuverteilung und Dezimierung von Bevölkerungsgruppen zur Erleichterung der deutschen Kolonisierung im Osten oder, wie kürzlich ausgeführt, die systematische Ausplünderung der Juden Europas, um das Führen des Krieges zu ermöglichen, ohne die deutsche Gesellschaft allzu sehr zu belasten, oder, genauer gesagt, um die wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Ziele von Hitlers Volksstaat nicht zu gefährden. Eine Reihe dieser Interpretationen, insbesondere die letztgenannte, haben in Deutschland ein großes Echo gefunden.
Ein derartiger Ansatz kann jedoch keine Antwort auf grundlegende Fragen geben: Warum entschloss sich Hitler, die Juden zu vernichten, während er sie aller Besitztümer beraubte? Warum entschied er persönlich im Herbst 1943, die Deportation der Juden Dänemarks und Roms zu forcieren, obgleich beide Operationen mit großen Risiken behaftet waren (es bestand die Möglichkeit, dass es in Dänemark zu Unruhen kommen und dass der Papst öffentlich Protest einlegen würde) und ihr "Nutzen" gleich Null war? Warum schlug Himmler die wiederholten Bitten der Wehrmacht ab, jüdische Facharbeiter von der Vernichtung auszunehmen? Die sekundäre Funktion, die der antijüdischen Politik zugeschrieben wird, passt auch nicht zu scheinbar marginalen, aber bezeichnenden anderen Vorgängen: der Reichsführer SS verlangte persönlich von Finnlands Ministerpräsidenten, sein Land möge seine 30 bis 40 ausländischen Juden an die Deutschen ausliefern; im Juli 1944 wurden die kleinen, verarmten sephardischen jüdischen Gemeinden auf den Ägäischen Inseln deportiert; noch wenige Tage vor der Befreiung von Paris wurden Hunderte von jüdischen Kindern festgenommen und aus Frankreich nach Auschwitz abtransportiert.
Der einzige Ansatz, der mir in einer integrierten Geschichte des Holocaust möglich erscheint, muss die Behandlung der Juden unmittelbar ins Zentrum der Weltanschauung des Regimes und seiner Strategien rücken. "Im großen und ganzen kann man sagen", notierte Goebbels Ende April 1944 nach einem langen Gespräch mit Hitler, "dass eine langfristige Politik in diesem Krieg nur möglich ist, wenn man von der Judenfrage ausgeht." Diese Wahnvorstellung wurde von Hitlers engsten Mitarbeitern, von Dienststellen der Partei und des Staates, von Beamten und Technokraten auf allen Ebenen des Systems sowie von bedeutenden Teilen der Bevölkerung begeistert unterstützt und umgesetzt. Die "Logik", die hinter dieser judenfeindlichen Leidenschaft stand, wurde von der Propaganda ständig wiederholt. Wie Jeffrey Herf gezeigt hat, zeichnete diese Propaganda ein immer bedrohlicheres Bild "des Juden" als tödlichen und unbarmherzigen Feind des Reiches, der zu dessen Vernichtung entschlossen war. So entschied sich Hitler imRahmen eben dieser halluzinatorischen Logik, als das Reich an beiden Fronten, im Osten wie im Westen, kämpfen musste, ohne dass Hoffnung auf einen raschen Sieg bestand und als erste Andeutungen der Niederlage erkennbar wurden, für die sofortige Vernichtung. Sonst würden, so sah er es, die Juden ebenso wie 1917/1918 Deutschland und das neue Europa von innen heraus zerstören. Als sich die militärische Lage zuspitzte, wurde die Vernichtung bis zum Äußersten beschleunigt.
Eine integrierte Geschichte führt zu vergleichenden Fragestellungen sowie zu allgemeineren Zusammenhängen, die man sonst nur undeutlich wahrnimmt. Ein wichtiges Beispiel könnte die Frage nach der jüdischen Solidarität angesichts der Katastrophe sein. Die deutsche jüdische Führung versuchte Ende 1939 und Anfang 1940, gefährdeten polnischen Juden die Emigration aus dem Reich nach Palästina zu versperren, um alle Auswanderungsmöglichkeiten deutschen Juden vorzubehalten; die alteingesessene französische jüdische Führung (das Consistoire) forderte von der Vichy-Regierung unablässig eine klare Unterscheidung zwischen einheimischen und ausländischen Juden hinsichtlich ihres Status und der ihnen zustehenden Behandlung. Die Judenräte in Polen - insbesondere in Warschau - gestanden Angehörigen der einheimischen Mittelklasse, die sich Bestechungsgelder leisten konnten, ein Bündel von Privilegien zu, während die Armen, die Flüchtlinge aus den Provinzen und die Masse derer, die über keinerlei Einfluss verfügten, zunehmend gezwungen waren, Sklavenarbeit zu verrichten, oder in Hunger und Tod getrieben wurden. Nachdem die Deportationen begonnen hatten, machten ortsansässige Juden in Lodz Front gegen Deportierte aus dem Westen. In Westerbork schützten sich deutsche Juden, die Elite des Lagers, die eng mit den deutschen Kommandanten zusammenarbeitete, damit, dass sie niederländische Juden auf die Abgangslisten setzten, während sich zuvor die niederländische jüdische Elite sicher gefühlt hatte und davon überzeugt gewesen war, dass nur Flüchtlinge (vor allem deutsche Juden) in die inländischen Lager geschickt und dann deportiert werden würden. Der Hass der getauften Juden auf ihre jüdischen Brüder im Warschauer Ghetto ist berüchtigt.
Es sollte jedoch erwähnt werden, dass ungeachtet aller Spannungen weit verbreitete Wohlfahrtsanstrengungen sowie Bildungs- und Kulturaktivitäten in vielen jüdischen Gemeinden allen offen standen. Überdies zeigte sich eine Festigung der Bindungen innerhalb kleiner Gruppen, denen ein bestimmter politischer oder religiöser Hintergrund gemeinsam war. Typische Fälle waren politische Jugendgruppen in den Ghettos, jüdische Pfadfinder in Frankreich und natürlich die eine oder andere Gruppe orthodoxer Juden. Wenn wir uns das große Bild ansehen, können wir zu dem Schluss kommen, dass meist spezifische ethnisch-kulturelle, politische oder religiöse Bindungen, die Untergruppen miteinander teilten, Vorrang vor allen Verpflichtungen hatten, die von einer gemeinsamen Jewishness herrührten.
Während Vergleiche, die zum Wesen einer integrierten Geschichte gehören, in einer Reihe von Fällen unsere Wahrnehmung grundsätzlicher Probleme fördern, werfen sie gelegentlich auch Fragen auf, die keine eindeutige Antwort zulassen. So schrieb am 27. Juni 1945 die jüdisch-österreichische Chemikerin Lise Meitner, die 1939 von Deutschland nach Schweden emigriert war, an ihren ehemaligen Kollegen und Freund Otto Hahn, der seine Arbeit im Reich fortgesetzt hatte. Nach der Feststellung, er und die wissenschaftliche Gemeinschaft in Deutschland hätten vieles über die sich verschärfende Verfolgung der Juden gewusst, fuhr Meitner fort: "Ihr habt auch alle für Nazi-Deutschland gearbeitet und habt nie auch nur passiven Widerstand versucht. Gewiss, um Euer Gewissen loszukaufen, habt Ihr hier und da einem bedrängten Menschen geholfen, aber Millionen Unschuldiger hinmorden lassen, und keinerlei Protest wurde laut." Meitners cri de cur, der an Hahn und damit an die prominentesten Naturwissenschaftler Deutschlands gerichtet war, von denen keiner ein aktives Parteimitglied, keiner in verbrecherische Aktivitäten verwickelt gewesen war, hätte ebensogut der gesamten intellektuellen und geistlichen Elite des Reiches (selbstverständlich mit einigen Ausnahmen) sowie weiten Teilen der Eliten in den besetzten Ländern und den Satellitenstaaten Europas gelten können.
Ein noch beunruhigenderer Aspekt derselben Frage zeichnet sich mit Blick auf die Haltung der christlichen Kirchen ab. In Deutschland hat - wiederum mit Ausnahme weniger, von denen keiner den höheren Rängen der evangelischen oder der katholischen Kirche angehörte - kein protestantischer Bischof, kein katholischer Prälat öffentlich gegen die Vernichtung der Juden protestiert. Als Männer guten Willens wie Bischof Konrad Preysing aus Berlin oder der württembergische Bischof Theophil Wurm, die Stimme der Bekennenden Kirche, angewiesen wurden, ihre Versuche des vertraulichen Protestes einzustellen, fügten sie sich.
Und wenn wir berücksichtigen, dass sich im Allgemeinen - sieht man von begrenzten Protesten in den Niederlanden und von denjenigen mehrerer französischer Bischöfe ab, die in einigen Fällen widerrufen wurden - die deutsche Situation in den meisten Ländern des besetzten Europas wiederholte, dann erhält diese Frage ihr volles Gewicht. Dass keine nennenswerte Anzahl von Persönlichkeiten, die zur intellektuellen oder geistlichen Elite Europas zählten, öffentlich ihre Stimme gegen die Ermordung der Juden erhob, lässt sich leicht verstehen. Dass auf der gesamten europäischen Bühne nicht einmal einige wenige Stimmen in diesem Sinne laut wurden, ist verwirrend. Dass in Deutschland nicht eine einzige Persönlichkeit von Format bereit war, sich zu Wort zu melden, bleibt ebenso wie zahlreiche andere Aspekte dieser Geschichte eine fortwährende Quelle der Fassungslosigkeit.
1 Übersetzung
aus dem Englischen: Dr. Martin Pfeiffer, Berlin. Vgl. Saul
Friedländer, Das Dritte Reich und die Juden. Erster Band: Die
Jahre der Verfolgung. 1933 - 1939; zweiter Band: Die Jahre der
Vernichtung. 1939 - 1945, München 1998/2006.