Rührselig
Rafael Seligmann erzählt die Geschichte des Bergbaus im Ruhrpott
Die Kohle-Saga. Der Tatsachenroman aus dem Revier". Das klingt nach Illustrierte, viel-leicht sogar nach einer spannenden Fortsetzungsgeschichte im Stil der filmischen Heimatepen von Edgar Reitz. Doch schon auf den ersten Seiten entpuppt sich Rafael Seligmanns "literarisch" gestaltete Familienchronik als schlichter Kolportageroman. Rasant und rührselig erzählt er vom Leben, den Leiden und Leistungen der Bergmannfamilie Bialo. Mit einem ausgeprägten Sinn für die enormen Härten und spärlichen Höhepunkte im Alltag eines malochenden Kumpel.
Der Siegeszug der Arbeiterbewegung, die Wirrnisse von Weimar, die bedrohliche NS-Diktatur, das Wirtschaftswunder in den 1950er-Jahren und das Zechensterben Ende der 60er-Jahre sind das historische Weichbild, auf dem der erfahrene Sachbuchautor das Porträt einer nicht unbedingt typischen, aber dafür umso tüchtigeren, anständigen und selbstbewussten Bergarbeiterfamilie zeichnet.
Leszek Bialowons, das Oberhaupt der Sippe, kehrt 1884 seiner polnischen Heimat den Rücken, um sein berufliches wie privates Glück im boomenden deutschen Kohlerevier zu machen. Der eingedeutschte Leopold Bialo bringt es mit Fleiß und Umsicht natürlich bis zum Steiger, heiratet eine mustergültige Frau, die ihm drei Söhne und eine Tochter schenkt. Obgleich seine Kinder sehr unterschiedliche Wege gehen, sich als Bergmann, Nazi-Funktionär oder als Hebamme verdingen, verbindet das Revier ihr Leben auf ewig. Glück auf!
Den Aufstieg des westdeutschen Kohlebergbaus als Generationenroman zu schildern, ist dramaturgisch klug, erzählerisch aber ein schwieriges Unterfangen. In persönlichen Schicksalen werden die großen Linien der Geschichte nur selten sichtbar. Diese Spuren im großen Historiengemälde exemplarisch aufscheinen zu lassen, ist die große Herausforderung. Seligmann ist an dieser Aufgabe gescheitert. Denn die nationale, regionale, lokale und familiäre Geschichte gehen in seiner allzu sentimentalen Saga keine Symbiose ein.
Über weite Strecken liest sich das Buch als temporeicher, aber nicht allzu differenzierter Abriss der deutschen Geschichte, auf den dann unvermittelt die Ruhrstückpassagen aus dem Revier folgen. Mit floskelhaften Dialogen und historischen Monologen lässt sich weder eine poetische noch eine authentische Saga erzählen.
Dass der Romancier Seligmann den Financiers des Opus, der Ruhrkohle AG (RAG), am Ende Respekt zollt für ihre Leistungen bei der Überwindung der bundesdeutschen Kohlekrise, fällt dabei weniger ins Gewicht. Denn über die drastischen Konflikte zwischen Zechenbaronen und Malochern spricht Seligmann ebenso wie über Massenentlassungen und Staublungen. Allerdings gehen diese heiklen Situationen in der Fülle dramatischer und emotionaler Momente allzu oft unter. Was beim Leser haften bleibt, ist vor allem Seligmanns Loblied auf die Solidarität, das Berufsethos und die Heimatliebe der Bergleute.
Den ehrbaren Bergarbeiterfamilien sei eine solch Erinnerung an die identitätsstiftende Epoche ihres Reviers gegönnt. Die Deutschen abseits des Ruhrgebiets blicken jedoch auf eine melodramatische Erzählung, die viel Herzbewegendes, aber wenig Differenziertes über die Region verrät. Man darf gespannt sein, wie der Berliner Journalist im zweiten Band das stetige Grubensterben nach 1969 verkauft. Obwohl die RAG seit vier Jahren für eine neue Zeche bei Hamm wirbt, wird Seligmann die jüngste Bergbauvergangenheit nicht schön schreiben können. Die Zukunft der Region liegt nicht mehr unter, sondern längst über Tage.
Die Kohle-Saga. Der Tatsachenroman aus dem Revier.
Hoffmann & Campe, Hamburg 2006; 368 S., 19,95 ¤