Verschwörungstheorien
Sie werden immer gerne geglaubt - weil die Wahrheit oft zu banal ist
Verschwörungstheorien erfreuten sich schon immer großer Beliebtheit - nicht zuletzt im Zusammenhang mit dem 11. September. Nun sind zeitgleich zwei Bücher erschienen, die sich mit diesem Phänomen beschäftigen. Die Autoren Wolfgang Wippermann und Heinz Schneppen nähern sich dem Thema von verschiedenen Seiten - spannend sind beide Darstellungen.
Wolfgang Wippermann, Professor für Neuere Geschichte an der Freien Universität Berlin, hat zuvor bereits zahlreiche Studien zum Nationalsozialismus, zu Antisemitismus und Antiziganismus veröffentlicht. Für seine Untersuchung holt er weit aus: "von Luther bis heute", lautet der Untertitel des Bandes. Dabei verschweigt Wippermann, dass er tatsächlich noch viel früher einsetzt: Quelle der meisten von ihm untersuchten Bündnisse zwischen dem "Bösen schlechthin" und seinen Helfershelfern ist das Neue Testament.
Während Wippermann auf eine lange wissenschaftliche Karriere zurückblicken kann, hat Schneppen zwar in den 1950er-Jahren Geschichte studiert, war dann aber von 1960 bis zu 1996 im Diplomatischen Dienst tätig. Zuletzt Botschafter der Bundesrepublik in Paraguay und Tansania, begann er erst im Ruhestand als Historiker zu publizieren. "Odessa und das Vierte Reich" ist eng mit seinem Aufenthalt in Asunción verbunden: Dort kam er auf die Spur des Ghetto-Kommandanten von Riga, Eduard Roschmann. Wo Wippermann seine zeitliche Eingrenzung zu bescheiden ansetzt, deutet der Plural in Schneppens Untertitel - "Mythen der Zeitgeschichte" - eine thematische Ausweitung an, die der Band nicht einhält. Der Autor untersucht ausschließlich die Legende um die "Organisation entlassener SS-Angehöriger", kurz Odessa.
Beide Autoren kreisen kontinuierlich um einen Punkt, der die Entstehung von Mythen und Verschwörungen ungeheuer begünstigt. Bei Wippermann ist dies das Hadern der Menschen mit den Übeln der Welt, mit Naturkatastrophen, Epidemien oder Kriegen, die sie sich nicht anders zu erklären wissen als mit dem Wirken des Bösen schlechthin.
Schneppen erklärt die Entstehung der Odessa-Legende ebenfalls zu einem guten Teil mit der Unfähigkeit der Menschen, an Zufälle und banale Erklärungen zu glauben. Dem größer angelegten Rahmen von Wippermanns Studie entspricht dessen eingangs formulierte Absicht, mentale Gefängnisse im aufklärerischen Sinne einzureißen, indem man sich vom verschwörungsideologischen Denken befreie. Schneppen gibt sich bescheidener. Sein Ziel ist es, den realen Kern von Odessa offen zu legen.
Zum "Agenten des Bösen" taugte in den Augen der jeweiligen Mehrheit im Laufe der Geschichte nach Wippermann fast jede Minderheit. Neben die Juden traten im Mittelalter abtrünnige Sekten wie Albigenser und Katharer, in der Frühen Neuzeit die "Hexen". Konkret manifestierte sich die angebliche Zusammenarbeit mit dem Teufel in den Vorwürfen "Teufelsanbetung", "Hostienschändung" und "Ritualmord".
Wippermann erklärt die Langlebigkeit dieser Legenden damit, dass die Aufklärung im 18. Jahrhundert zu spät gekommen sei, um ihnen wirksam entgegenzusteuern. Zumal im Zuge der Romantik eine überwiegend kritiklose Bewunderung des Mittelalters einsetzte, die auch vor den Verschwörungsideologien keinen Halt machte. Als zäh haben sich auch die gegen Freimaurer gerichteten Verschwörungstheorien erwiesen. Eine Vorzugstellung kam und kommt außerdem den Illuminaten zu, einem Orden, der wegen seiner angeblich "demokratischen" Ideen schon kurz nach seiner Gründung 1776 verboten wurde. Tatsächlich ging es in dem Geheimbund eher despotisch zu und Mitglieder wie der Freiherr von Knigge waren keineswegs Revolutionäre. Dennoch galten die Illuminaten als Verursacher der Französischen Revolution: Sie hätten sich dabei mit den Juden verbündet.
Im Verlauf des 19. und 20. Jahrhunderts tauchten weitere Bösewichte auf, gleichbleibend aber ist die antisemitische Komponente fast aller Verschwörungsideologien. Wippermann zufolge hängt dies ursächlich damit zusammen, dass sich deren "Macher" darüber im Klaren seien, dass man "Dunkelmänner" brauche, denen möglichst viele Anhänger alles zutrauten. Auf Originalität können sie dagegen gut verzichten: Die Verschwörungsepen Udo Holeys alias Jan van Helsings basieren im Wesentlichen auf den bereits in den 1920er Jahren als Fälschung entlarvten "Protokollen der Weisen von Zion" - ihrer Akzeptanz hat das jedoch nicht geschadet.
Im Gegensatz zu den inhaltlich "alten Hüten" stehen die modernen Distributionswege der Verschwörungstheorien: Das Internet hat ihnen erheblichen Aufschwung gegeben, weil die Möglichkeit, alles in Sekundenschnelle zu recherchieren, den Anschein der Überprüfbarkeit erwecke. Tatsächlich aber gelange man von einer Lüge zur nächsten.
Im Gegensatz zu den Mythen, denen Wippermann nachspürt, hat die von Schneppen untersuchte Legende einen wahren Kern: Tatsächlich gelangten Nationalsozialisten über Süddeutschland, Tirol und Rom nach Argentinien. Vor allem in Tirol konnten sie auf die Unterstützung von Schleusern hoffen, die aber, nicht zwangsläufig Gesinnungsgenossen sein mussten: Viele lebten einfach seit Jahren davon, Menschen zu schmuggeln. Im Vatikanstaat fanden die Belasteten Hilfe bei Bischof Alois Hudal, vor der Passage nach Süd-Amerika wurden sie vom Internationalen Roten Kreuz mit Pässen versorgt.
Der Mythos Odessa allerdings besagt, dass es schon im August 1944 in Straßburg eine Konferenz von SS-Führern und Wirtschaftsbossen gab, auf der diese beschlossen, Gold und Kapital ins Ausland zu schaffen. Schneppen weist überzeugend nach, dass diese Besprechung nicht stattfand. Mit der Entkräftung der Behauptung, Nazi-Gold sei per U-Boot nach Argentinien geschafft worden, entzieht Schneppen der Odessa gleichsam das Betriebskapital. Dem zentral gesteuerten Netz von Unterstützern fehlt damit ebenso die wirtschaftliche Grundlage wie den Auffangorganisationen in Argentinien selbst. Tatsächlich lebten die meisten der 24 von Schneppen aufgespürten Kriegsverbrecher und Nationalsozialisten im Exil nicht in Saus und Braus.
Parallel zur Rekonstruktion des wahren Kerns untersucht Schneppen, wie die Legende entstand und wer zu ihr beigetragen hat. An erster Stelle nennt er Simon Wiesenthal, der Adolf Eichmann in Argentinien aufspürte: Dieser habe Details wie die Straßburger Konferenz zwar nicht erfunden, aber entscheidend "mitgestaltet".
Zuvor hätten einzelne Wichtigtuer - unter anderem ein desertierter Grenzer und ein notorischer Betrüger - die ersten Gerüchte über eine Geheimorganisation in Umlauf gebracht. Diese griff auch die DDR-Staatssicherheit auf und benutzte sie, um Bonner Beamte unter Druck zu setzen und die Bundesrepublik in Gänze zu diskreditieren. Bis Anfang der 70er-Jahre forschten DDR-Historiker ergebnislos zu Odessa.
Detailliert untersucht Schneppen die finanziellen Transaktionen: Die Berichte über argentinische Tarnfirmen, in denen Nazi-Gold versteckt sei, und Bestechungsgelder an die Regierung Péron seien das Ergebnis mehrfacher Fälschungen. Schneppen zweifelt auch die Anzahl der nach Argentinien geflüchteten Nationalsozialisten an: Tatsächlich seien zwar viele Deutsche dorthin ausgewandert, der Anteil aktiver Parteigänger sei aber gering gewesen. Wie andere Länder auch, habe Péron deutsche Fachleute ins Land holen wollen und habe dabei über deren Vergangenheit hinweggesehen.
Schneppen kommt zu dem Ergebnis, dass es Odessa schon deswegen nicht gegeben habe, weil man keine solche Geheimorganisation brauchte - in den Wirren des Kriegsendes und der unmittelbaren Nachkriegszeit entkamen die SS-Leute auch ohne deren Hilfe. Das bagatellisiert nicht deren Flucht und teilweise jahrzehntelanges Untertauchen. Es zeigt nur, dass es dabei banaler zuging als abenteuerliche Geschichten glauben machen wollen.
Die wahren Strukturen und die Entstehungsfaktoren von Legenden offen zu legen, erfordert Ausdauer, gute Argumente und Überzeugungskraft. Wippermann und Schneppen besitzen diese drei Tugenden gleichermaßen.
Odessa und das Vierte Reich.
Mythen der Zeitgeschichte.
Metropol Verlag, Berlin 2007; 278 S., 19 ¤
Agenten des Bösen. Verschwörungs-theorien von Luther bis heute.
Bebra Verlag, Berlin 2007; 208 S., 19,90 ¤