Auf dem Prüfstand
Verdrängt die Illusion des Alten das Original? Deutschlands Denkmalschützer befürchten es
Den 100.Geburtstag des "Handbuchs der Deutschen Kunstdenkmäler" von Georg Dehio im Jahre 2005 nutzten Deutschlands Denkmalpfleger zu einer umfassenden Bestandsaufnahme und Selbstvergewisserung. Eine umfangreiche, didaktisch ambitionierte Ausstellung von Objekten der Denkmalpflege im Dresdner Residenzschloss führte seinerzeit eine breite Öffentlichkeit an das Thema heran, das doch allzu lange in Expertenzirkeln diskutiert worden war. Auf welche Weise Denkmäler jeden etwas angehen, was sie über Kultur und Geschichte aussagen, wie sie behandelt und bewahrt werden können oder sollten, wollte die Ausstellung "Zeitschichten" verdeutlichen.
Gleichzeitig führte sie den Besuchern durch die Orientierung an den Vorgaben Georg Dehios zum Denkmalschutz vor Augen, dass ein ästhetisches Urteil über das äußere Erscheinungsbild historischer Bauten bei weitem nicht ausreicht, um Sinn und Zweck denkmalpflegerischer Entscheidungen zu erfassen. Dehios radikale Ansicht, die dem sorgfältigen Konservieren alter Bausubstanz allemal den Vorzug vor Nachbauten entschwundener Denkmäler gibt, konnte vor Ort - die neu entstandene Dresdner Frauenkirche vor Augen - sogleich einer kritischen Würdigung unterzogen werden. Zahlreiche Vorträge und Diskussionen begleiteten die Ausstellung und liegen in gedruckter Form, flankiert von zahlreichen erhellenden Abbildungen vor.
"Echt, alt, schön, wahr", die Adjektivreihung im Titel weist bereits mitten in die Problematik hinein. Nicht nur das etwas antiquiert wirkende Anliegen der Denkmalpflege kommt im Titel zur Sprache, sondern auch der Facettenreichtum ihres Anspruchs an sich und die Unsicherheit, ob er mit einem Ausrufe- oder einem Fragezeichen versehen sein sollte. Denn wer könnte behaupten, dass "schön" und "wahr" objektivierbare Eigenschaften sind, die in Zeiten der internetgestützten Kurzdefinitionen per "Googel" und "Wikipedia" noch ungestraft benannt werden dürfen.
Aber selbst die Frage, ob die Kategorien "echt" und "alt" auf Denkmäler zutreffen, wirft definitorische Probleme auf. So verweist der Karlsruher Kunsthistoriker Bernhard Serexhe auf das Missverständnis, im rekonstruierten alten Bauwerk das Ursprüngliche, Authentische zu suchen. So wenig wie die Dresdner Frauenkirche von heute eine Reinkarnation des barocken Vorgängerbaus ist, handelt es sich bei der Kathedrale St. Lazare von Autun um einen Kirchenbau aus dem 12. Jahrhundert. Ob die Kirche jemals so ausgesehen hat, wie der französische Kunsthistoriker und Architekt Viollet-le-Duc sie im 19. Jahrhundert wieder aufgebaut hat, ist fraglich. Doch sein Anspruch war, den romanischen Bau in seiner ursprünglichen Form sichtbar zu machen.
Georg Dehio hingegen hätte das Vergangene vergangen sein lassen. Bestenfalls hätte er den zuletzt dokumentierten Zustand wieder errichten lassen, eingedenk der Tatsache, dass Denkmäler nicht als solche gebaut wurden, sondern als Nutzbauten, deren Verwendung sich über die Jahre änderte und damit auch die äußere Form - von anderen Einwirkungen wie Feuersbrünsten oder Kriegszerstörung ganz zu schweigen. Diese Entwicklungen mitzudenken verlangt auch Serexhe, wenn er die Oberflächlichkeit der "bunt lackierten Fassaden historischer Straßenzüge" kritisiert, die seiner Meinung nach weniger über die Geschichtlichkeit des Ortes als über seinen Marktwert aussagt.
Schönheit als Attribut von Bauwerken, die als erhaltenswert für die Nachwelt eingestuft werden, entlarvt Werner Sewing als rückwärtsgewandten Kampfbegriff, der sich hauptsächlich gegen die moderne Architek-tursprache wendet. Nach dem Motto: Barock ist schöner als Moderne. Ob man nicht besser von guter und schlechter Architektur sprechen solle, fragt der Autor und landet etwas ratlos doch wieder bei der Feststellung, dass die Schönheit - wie immer man sie definieren mag - letztlich doch jedes Urteil über Architektur bestimmt.
Das Denkmal als Ausdruck einer Idee von Wahrhaftigkeit und Ästhetik oder als real existierendes steinernes Geschichtsbuch, kulturelles Gedächtnis über mehrere Epochen - diese Antipoden bestimmten zu allen Zeiten die Auseinandersetzung zwischen Denkmalschützern. Wie passt es aber in eine Zeit, in der nahezu alles reproduzierbar erscheint?
Ingrid Scheurmann verweist auf das allmähliche Verschwinden der Kategorie "Originalität" aus dem Kunstbetrieb. Ersetzt durch oftmals ironische Reminiszenzen führt das Original demnach ein Schattendasein. Noch weniger Respekt, so moniert die Autorin, erfahre es im architektonischen Bereich. Die Illusion des Alten, erzeugt durch neuzeitliche Mittel, verdrängt das Original mit seinen Spuren erlebter Zeit.
Scheurmann, Leiterin der Dehio-Geschäftsstelle bei der Deutschen Stiftung Denkmalschutz, plädiert vehement für eine energische Positionsbestimmung der Denkmalpflege im Konzert des zunehmend kommerzialisierten Kulturbetriebes. Einer Werte- debatte könne man sich nicht entziehen, zumal die Beschleunigung der Erfahrung von Geschichte auch vor der Denkmalpflege nicht halt macht: "Genauso wenig wie die Geschichte heute vergangen sein muss, um Historie zu heißen, muss ein Bauwerk alt sein, um Denkmalstatus zu erlangen."
Unter dem Diktat leerer Kassen und der Wandlung der Innenstädte von Produktionsstandorten in Dienstleistungszentren ist die "sehenswerte historische Altstadt" zum reinen Tourismusmagneten geworden - eine Entwicklung, die die Kuratorin der "Zeitschichten"-Ausstellung äußerst kritisch sieht. Lieber Altertum als Altertümelei, lautet ihr Credo.
Was passiert, wenn sich eine Gesellschaft ihres Stein gewordenen Gedächtnisses entledigt, zeigt der Aufsatz des ehemaligen sächsischen Landeskonservators Heinrich Magirius über die Denkmalpflege in der DDR. Vorhandene Bauwerke wurden in den 1960er-Jahren als Verfügungsmasse sozialistischer Stadtplanung betrachtet, mussten dort weichen, wo die neue Zeit ihre eigenen Denkmäler bekommen sollte. Gleichzeitig setzte bei den als erhaltenswert eingeschätzten Kulturgütern eine Verwissenschaftlichung der Denkmalpflege ein.
Seit die DDR 1970 Mitglied der Uesco-Vereinigung Icomos geworden war, stand die Denkmalpflege hoch im Kurs - ganz im Bemühen, sie zum Zwecke der internationalen Anerkennung zu nutzen. Deshalb kam der Wiedererrichtung der Semper-Oper in Dresden herausragende Bedeutung zu, während weniger prestigeträchtige Bauten andernorts ein Schattendasein fristen mussten. Das Paradoxe an dieser Situation war, dass aufgrund von Geldmangel und Desinteresse die historische Bausubstanz in der DDR zwar in schlechtem Zustand, aber immerhin noch vorhanden war. Im Westen der Republik hingegen musste sie oft dem Wohnungsbeschaffungsprogrammen der Nachkriegszeit weichen.
Interessant in diesem Zusammenhang auch die Betrachtungen der Regierungsbauten beider deutscher Staaten und die Neuorientierung nach der Entscheidung für Berlin als Hauptstadt des wiedervereinigten Deutschland. Gerade hier gilt es bis heute, sich zu den unterschiedlichen Zeitschichten der Bauwerke zu positionieren. Schließlich haben Preußentum, Nationalsozialismus und Sozialismus hier ihre architektonischen Versinnbildlichungen erfahren.
Die Sammlung an Fachvorträgen ist entgegen dem Anliegen der Ausstellung "ZeitSchichten" und der generellen Bemühungen des aktiven Denkmalschutzes um eine breite Unterstützung wohl eher etwas für Fachleute und interessierte Laien, die sich selbst von zuweilen recht verquaster Wissenschaftslyrik nicht am Weiterlesen hindern lassen. Wer Orientierung sucht in einer schier uferlosen Thematik, wird hier - bei einigen lesenswerten Ausnahmen - oft mit Fragen und Zweifeln konfrontiert. Eine sorgfältigere Beachtung der Wissensrückstände architekturhistorischer Laien wäre der Sache dienlicher gewesen. Ein größeres Publikum zu erreichen, das doch immerhin die Anliegen des Denkmalschutzes mittragen und unterstützen sollte, ist in dieser Form - trotz der zahlreichen wirklich anschaulichen Bildbeispiele mit verständlichen Erläuterungen - eher unwahrscheinlich.
Echt - alt - schön - wahr. Zeitschichten der Denkmalpflege.
Deutscher Kunstverlag, Berlin 2006; 264 S., 34,90 ¤