INDUSTRIEKULTUR
Das Ruhrgebiet kämpft um ein neues Image. Es wirbt mit seiner Rauigkeit. Denn auch die hat Charme.
Manfred Welsch ist ein Paradebeispiel. Doch davon weiß er nichts. Bis vor einigen Monaten hätte er hier am liebsten "alles abgerissen". Jetzt steht er auf dem 55 Meter hohen Dach der Kohlenwäsche der Zeche Zollverein im Essener Norden und sprudelt vor Begeisterung.
Vater und Bruder haben "auf der Zeche" gearbeitet, erzählt er, beide Elektriker - auch unter Tage. Er wisse deshalb, was "das hier" für ein Knochenjob gewesen sei. Lange konnte er deshalb "überhaupt nicht verstehen", warum die Zeche, in der 1986 die letzte Schicht aus dem Schacht kam, nicht einfach "platt gemacht wurde". Wirklich schön sei sie ja auch nicht . . . und die nahegelegene Kokerei erst . . .
Heute sieht Manfred Welsch das anders - völlig anders. Heute arbeitet er selber hier. In der Kohlenwäsche, wo Kohle von Gestein getrennt und nach Größe sortiert wurde, wo früher auch sein Vater malocht hat, führt Manfred Welsch Besucher herum, erläutert Gebäude und Prozesse in und um die ehemalige Zeche. "Erst jetzt", sagt er, "verstehe ich, warum man nicht einfach alles platt gemacht hat. Die Bedeutung, die die Zechen hier bei uns haben, war mir lange nicht klar und hat mich ehrlich gesagt auch nicht interessiert." Und dann fügt er eher beläufig den wohl wichtigsten Satz für den Industriedenkmalschutz - vor allem in Nordrhein-Westfalen - an: "Die Zechen gehören einfach hierher."
Ohne sie hätte Herbert Wehner in den 1970er-Jahren das Ruhrgebiet nicht als "Herzkammer der Republik" bezeichnet und ohne sie hätte die Region zwischen Hamm, Hagen, Duisburg und Recklinghausen wohl eine völlig andere Entwicklung genommen. Fördertürme und -gerüste, Gasometer und Kühltürme, Hochöfen und Halden, Zechen, Kokereien und Hütten sind Teil, ja existenzieller Bestandteil dieser Entwicklung. Dies zu sehen, zu verstehen und zu akzeptieren hat bei Manfred Welsch ziemlich genau 20 Jahre gedauert. Jetzt allerdings ist er Fan des Strukturwandels und will diese Begeisterung möglichst vielen Menschen vermitteln. Das Dach der riesigen Kohlenwäsche, hoch über dem Weltkulturerbe Zollverein, über den Dächern von Stoppenberg, Katernberg und wie die umliegenden Essener Stadtteile mit ihren Bergmannssiedlungen alle heißen, ist kein schlechter Ort dafür. An wenigen Stellen im Ruhrgebiet ist der Strukturwandel so weit fortgeschritten und so greifbar wie auf Zollverein. Alte Gebäude und junge Branchen haben hier bereits ein Symbiose gebildet. Ähnlich weit fortgeschritten ist diese Entwicklung wohl nur im Duisburger Innenhafen, der mittlerweile als angesagte Adresse für Kunst, Design, Medien und Architektur gilt - auf diesem Weg ist auch Zollverein.
So wie Manfred Welsch ein Paradebeispiel für den Verständniswandel im Pott ist, ist Zollverein ein Paradebeispiel für gelungene Umnutzungskonzepte: Im ehemaligen Kesselhaus, mittlerweile umgestaltet von Norman Foster, sitzt das "Red Dot Design Museum", nebendran steht die moderne, von einem japanischen Architektenduo gebaute Zollverein School of Management and Design. In der alten Waschkaue am Nebenschacht hat seit einigen Jahren das Tanztheater "Pact" sein zu Hause, im Maschinenhaus befindet sich der Kunstschacht Zollverein und auf dem angrenzenden Areal entsteht gerade die Designstadt Zollverein mit Büros und Ateliers. In der Kohlenwäsche soll außerdem demnächst das Ruhr Museum eröffnet werden.
Zollverein hat dabei als Weltkulturerbe eine Sonderstellung. Eine Weiter- oder Umnutzung ist hier aufgrund des Renommees, der finanziellen Zuwendungen und des öffentlichen Interesses deutlich einfacher als an vielen anderen Orten in Nordrhein-Westfalen.
Diesen anderen Orten verhelfen Reinhold Budde und Ulrich Heckmann zu mehr Aufmerksamkeit. Sie haben beim Regionalverband Ruhr in Essen die Route der Industriekultur mit entwickelt. Sie zeichnen verantwortlich für die "Vermarktung" der Industriekultur. Ihr Job sei "Imagepolitik für das Ruhrgebiet und Nordrhein-Westfalen", erläutern Budde und Heckmann.
Kein leichter Job, das haben die beiden seit 1996 - damals begannen die Plaungen für die 1999 eröffnete Route der Industriekultur - erfahren. Ihr Ziel ist es, aus einem schlechten Image, das das Ruhrgebiet trotz Wehners Herzkammer-Aussage hat, Stück für Stück ein besseres zu machen. Dabei sei man durch viele verschiedene Projekte, neben der Route der Industriekultur auch die Ruhrtriennale, die Ruhr Festspiele, die Lange Nacht der Industriekultur, schon ein ganzes Stück voran gekommen. Etwa vier Millionen Besucher waren im vergangenen Jahr auf der Route unterwegs. Es müsse aber auch klar sein: "Das Ruhrgebiet ist nicht plötzlich zu einem Freizeitpark geworden."
Mit dem Niedergang des Bergbaus und der Montanindustrie sei eine Zeit keine und lange eine falsche Strategie zur Imageverbesserung des Ruhrgebiets gefahren worden, erzählt Ulrich Heckmann. Nach Kohle, Rauch und Dreck ging es darum zu betonen, dass das Ruhrgebiet auch grün ist. "Doch grün ist es überall."
Mittlerweile aber sehe man die Industriekultur nicht mehr als Relikt einer überholten Regionalstruktur, sondern begreife sie als Alleinstellungsmerkmal. "Wir müssen die negativen Klischees aufgreifen", schildert Reinhold Budde. "Die Rauigkeit hat auch ihren Charme", fügt Heckmann an. Das Problem dabei sei, dass die Industrieanlagen "nicht schnuckelig sind wie ein kleines Schlösschen". Vielmehr sind Zechen, Hütten und Kokereien negativ besetzt, "das darf man nicht verniedlichen", findet Heckmann. Aber man darf selbstbewusst damit umgehen.
Genau das tut die Route der Industriekultur: Sie führt quer durchs Ruhrgebiet und verbindet auf rund 400 Kilometern 25 große Industriedenkmäler miteinander. Der Regionalverband Ruhr stellt dabei die verbindende Infrastruktur und die gemeinschaftliche Außendarstellung sicher, Träger der Industriedenkmäler sind andere: Bund, Kommunen, Stiftungen, private Initiativen.
Dabei geht es nicht ausschließlich um Tourismusförderung, "ebenso wichtig ist die Binnenwirkung", sagt Ulrich Heckmann. Es gehe um das Selbstverständnis der Region. "Die Menschen merken langsam: Mensch, man ist auch mal stolz auf das Ruhrgebiet." Der Umgang mit Industriedenkmälern ist damit ein wichtiger Aspekt bei in der neuen Identitätsbildung der Region. Als so genannte "weiche Standortfaktoren" haben Identität, Selbstbewusstsein und Attraktivität des Ruhrgebiets sogar eine wichtige ökonomische Seite. Die Pflege der Industriekultur wird damit zum Standortfaktor. Ziel von Budde und Heckmann ist, die Industriekultur als Marke zu etablieren.
Was Industriekultur bedeutet, zeigt sich in Dortmund-Bövinghausen. Während die Zeche Zollverein in Essen beispielhaft für den Strukturwandel durch Umnutzung ist, setzt man hier in Zollern II/IV, an der Wiege der Industriedenkmalpflege, voll auf musealen Umgang mit der Kultur der Industrie. Der ehemaligen Zeche tief im Dortmunder Wes- ten ist - wie Ulrich Heckmann sagt - das Beste passiert, was einer Zeche passieren kann: Das Westfälische Industriemuseum hat dort seinen Hauptsitz bezogen. Somit sind nicht nur Architektur und Technik der backsteinroten Vorzeigezeche zu besichtigen. In der alten Waschkaue, dort wo sich die Kumpel früher umzogen und heute noch die Kleiderkörbe unter der Decke hängen, ist Industriekultur greifbar. Multimedial aufbereitet kann dort Arbeit, Alltag, Ausbildung und Leben der Kumpel und Industriearbeiter nachvollzogen werden. Das Bandonion, das Klavier des kleinen Mannes hat dort ebenso seinen Platz wie die Werkzeuge, mit denen die Hauer früher in den Flözen, die hier Wilhelm, Johann, Präsident, Sonnenschein und Dickebank hießen, unter Tage die Kohle lösten.
Die Maschinenhalle von Zollern II/IV ist das erste Industriebauwerk, das in Deutschland unter Denkmalschutz gestellt wurde. Grund dafür war vor allem das Jugendstilportal, das der riesigen Halle einen majestätischen Charakter gibt.
Mit der Umnutzung und der Eröffnung des Museums auf Zollern II/IV habe das "zweite Leben" der Zeche begonnen, heißt es hier. Diese Aussage lässt sich auf das ganze Ruhrgebiet übertragen. Denn: "Industriedenkmalpflege ist mehr als nur alte Zechentürme", sagt Reinhold Budde. Mit dieser Erkenntnis beginnt das "zweite Leben" des Potts.