Deutschland
Der Streifzug von Wolfgang Herles offenbart sich als wirtschaftsliberale Kampfschrift
Psychologisieren ist in. Und es mag durchaus reizvoll anmuten, die Politik unter einem solchen Ansatz zu sezieren. Wolfgang Herles konstatiert in der Zeit vom Kriegsende bis heute bei Politikern wie Bürgern einen neurotischen Zustand: Innerpsychische Konflikte erschwerten es den Betroffenen, "sich der Realität anzupassen". Dem will der Autor abhelfen, indem er Mythen, Lebenslügen und Legenden zertrümmert und so die Sicht auf das Notwendige freilegt: "Neurosen sind ausnahmslos eine Form der Unfreiheit. Freie Menschen sind in der Lage, neue Wege zu wählen und zu gehen."
Der psychologische Blick auf die Politik wirkt in seinem Buch jedoch etwas aufgepfropft - so, als solle dem Text noch ein unkonventioneller Kick mitgegeben werden. Herles präsentiert einfach einen kritischen Streifzug durch die Nachkriegsgeschichte. Bei der Frage, welcher "Realität" sich denn die Deutschen und ihre Politiker "anzupassen" hätten, wird der Standpunkt des Autors rasch klar: Er fordert die Abkehr vom Sozialstaatsmodell. Die Deutschen wollten den "Niedergang ihres Wohlfahrtsstaats" nicht wahrhaben, lautet die Anklage. Oder: "Es ist zweifellos leichter, mit einem von Höhenangst Besessenen auf den Eiffelturm zu steigen, als einen deutschen Gewerkschaftssekretär von der notwendigen Verlängerung der Lebensarbeitszeit zu überzeugen." Das ist Polemik, und die würzt das Buch an vielen Stellen. Helmut Kohls Kanzlerschaft attackiert Herles, ein Beispiel, als absolutistisches System unter dem Titel "le parti c'est moi", die Partei bin ich.
Solche Befunde zählen indes zu den Nebenkriegsschauplätzen. Im Kern hat der ZDF-Journalist eine wirtschaftsliberale Kampfschrift verfasst, was sich als roter Faden durch den gesamten Band zieht. Den Deutschen attestiert er Angst vor der Freiheit, die nun mal nicht ohne Risiken zu haben sei. Auf analytisch zuweilen etwas mysteriös anmutenden Pfaden stellt Herles eine Verknüpfung zwischen Sozial- und Nationalstaat her. Seit Bismarck sei das "nationale Weltbild" mit einem "gleichmacherischen Staat" verbunden, bis heute behaupte sich Sozialpolitik als "Überrest eines gängelnden Obrigkeitsstaats". Für Hitler sei Sozialpolitik ein Instrument gewesen, das Volk an sich zu binden. Adenauer habe die Nazis und ihr Volk sozialpolitisch für die Demokratie und die Absage an das Nationale gewinnen wollen. Derart habe dann Kohl während und nach der Wiedervereinigung die "DDR-Kommunisten und ihre Mitläufer" mit dem Kapitalismus versöhnen wollen.
Solcherlei soll wohl die Idee des Sozialstaats diskreditieren. Herles argumentiert mit bekannten neoliberalen Versatzstücken. Keinen Gedanken verschwendet er an die Überlegung, dass der Sozialstaat für den Großteil der Bevölkerung individuelle Freiheit überhaupt erst ermöglicht. Dickes Lob erhält Erhard für seinen marktwirtschaftlichen Parforceritt 1948.
Doch bald schon nimmt aus Sicht des Autors die "Erbsünde der Bonner Republik" ihren Lauf, eben der angeblich wuchernde Sozialstaat: Adenauers Rentenreform 1957, die regulierenden Eingriffe der ersten Großen Koalition, der Ausbau der Sozialleistungen unter Willy Brandt, Helmut Schmidt und Helmut Kohl - allenthalben nur Übel. Gerhard Schröders zweite Kanzlerschaft findet wegen der Agenda 2010 Gnade, Angela Merkel hingegen nicht: "Als Reformerin ist sie kaum zu erkennen." Viel Fett bekommt Kohl als Einheitskanzler ab, der die Wiedervereinigung in der Tat zulasten der Sozialsysteme gemanagt hat.
Aber sind derartige Thesen wirklich neu? Bekannt wirken auch die Forderungen nach Einschnitten ins Rentensystem, nach einer kapitalgedeckten Grundvorsorge, nach mehr "Eigenverantwortung" im Gesundheitswesen, nach einem Zurückschrauben der "Anspruchsmentalität". Gleiches gilt für das Nein zum Mindestlohn.
Sehnsuchtsvoll schaut der Verfasser nach England, wo Maggie Thatcher die "Übermacht" der Gewerkschaften "zerstört" und den Unternehmungsgeist "befreit" habe. Aber leben die Briten eigentlich besser als die Deutschen? Die Zwänge der Globalisierung, die angeblich fehlende Wettbewerbsfähigkeit: Die Bundesrepublik eilt von einem Exportrekord zum nächsten, das Bruttosozialprodukt wächst Jahr für Jahr. Bedeuten da Einschnitte in den Sozialstaat nicht einfach mehr Umverteilung von unten nach oben? Derartiges umschifft der Autor lieber.
Herles kritisiert zwar die Sozialpolitik im Westen seit dem Krieg. Doch dieser für die von Adenauer betriebene Verhinderung eines Einheitsstaats zu zahlende Preis habe dazu beigetragen, die Deutschen erfreulicherweise dem Nationalen zu entfremden. Wie es scheint, wittert Herles nun die Gefahr, dass dieser Prozess mit und seit der deutschen Einheit, die sich in der Wendezeit als "Zerstörung der Bonner Republik" ereignet, in Frage gestellt werde. Nach überzeugenden Belegen sucht man in dem Band freilich vergebens.
Abstrus mutet die Interpretation der Hauptstadt-Abstimmung im Bundestag an: "In Wahrheit ist die Wahl Berlins ein (...) Bekenntnis zur Tradition des Bismarck-Reiches." Wo um Himmels willen ist so etwas zu bemerken? Herles hadert offenbar mit der Wiedervereinigung. Er moniert zu Recht, dass 1990 keine neue Verfassung ausgearbeitet und dem Volk zur Abstimmung vorgelegt wurde. "Wahrscheinlich", so der Autor, wäre die Einheit bei einem solchen Votum gescheitert - eine etwas abwegige These angesichts der Erfahrungen der Wendezeit.
Neurose D. Eine andere Geschichte Deutschlands.
Piper Verlag, München 2008; 304 S., 19,90 ¤