im Rückblick
An 68 scheiden sich die Geister - damals, heute und in Zukunft
Studenten lernen es in der Regel im ersten Semester: Gutes wissenschaftliches Arbeiten setzt eine gesunde Distanz zum Forschungsobjekt voraus. Das ist nicht nur eine akademisch-theoretische Idee, sondern auch eine schlichte Erkenntnis aus dem täglichen Leben. Die Größe der Menschenmenge etwa, in der man sich selbst gerade befindet, lässt sich am schwersten aus deren Mitte abschätzen. Das Bild wird klarer, je weiter man sich von der Menge entfernt und sie in ihrer Gänze wahrnehmen kann.
Es war in der Tat eine ziemliche Menge von insbesondere jungen Menschen, die in den Jahren 1967 bis 1970 das Gefühl hatte, Teil einer ganz besonderen Bewegung zu sein. Studenten in vielen deutschen Städten, vor allem aber Berlin und Frankfurt, verstanden sich als Teil einer intellektuellen Avantgarde, die klar formulierte, was sie von der deutschen Gesellschaft im allgemeinen und dem politischen System im speziellen hielt: wenig. Die Agenda derer, die heute unter dem Schlagwort "68er" firmieren war umfassend. Sie wollten nicht weniger als eine radikale Umwandlung der bürgerlichen Gesellschaft und eine Abschaffung des als faschistisch und repressiv wahrgenommen Staates. Dabei mischten sich konkrete Forderungen wie etwa die nach einer umfassenden Hochschulreform mit Träumereien von der linken Weltrevolution und der Ankündigung einer völlig neuen Gesellschaft. Die 68er, so schrieb der Hamburger Politikwissenschaftler Wolfgang Kraushaar einmal, seien ein Baum mit vielen Wurzeln und noch mehr Ästen und Zweigen. Und man könnte ergänzen: ein Baum, um den sich unzählige Mythen ranken.
Es war zu erwarten, dass das Phänomen 68 anlässlich des 40. Jubiläums der Protestbewegung wieder verstärkt unter die Lupe genommen wird. Tatsächlich bringt das Jahr 2008 unzählige Bücher hervor, die sich mit der bewegten Zeit beschäftigen, die den einen als Aufbruch in überfällige Reformen und den Abschied von der vermeintlich bleiernen Nachkriegsgesellschaft, den anderen als Beginn eines verhängnisvollen Werteverfalls und Geburtsstunde des deutschen Terrorismus gilt. Drei von ihnen belegen auf eindrucksvolle Weise, wie schillernd 68 war - und dass die Geschichte der Bewegung auch Jahrzehnte nach ihrem Ende noch nicht auserzählt ist. Und sie zeigen einmal mehr, wie stark eine überzeugende Analyse von genügender Distanz abhängig ist.
Während der Historiker Götz Aly mit seinem Buch "Unser Kampf. 1968 - ein irritierter Blick zurück" mitten in der Menge zu stehen und sich vergebens um eine umfassende Perspektive zu bemühen scheint, gelingt es Wolfgang Kraushaar und Norbert Frei, die Studentenbewegung aus größerer Distanz anzugehen und daran auch neue Aspekte zu entdecken - was angesichts der Flut der immergleichen Erinnerungsliteratur zum Thema nicht nur wohltuend, sondern auch überraschend ist.
Kraushaar, der wohl profilierteste Kenner der 68er-Bewegung in der Bundesrepublik und gewissermaßen Botaniker des 68er-Baums, beleuchtet in seinem Buch "Achtundsechzig. Eine Bilanz" die Konstitutionsfaktoren und Ursprungsmythen der Bewegung, lässt Revue passieren, was sie tatsächlich erreicht hat und spürt der Frage nach, was 68 eigentlich mit Rousseau und der deutschen Romantik zu tun hat.
Norbert Frei ordnet die deutsche Studentenbewegung in "1968. Jugendrevolte und globaler Protest" in eine weltweite Revolte zu beiden Seiten des Eisernen Vorhangs ein.
Alys Buch erschien als erstes der drei im Februar und es wird mutmaßlich auch das bleiben, das für den meisten Furor sorgt. Aly hat kein Buch geschrieben, das 1968 einordnen oder analysieren will; er hat eine Abrechnung verfasst. Weil es ihm wohl nicht als ausreichend erschien, die 68er als größenwahnsinnige und gewaltbereite Mao-Jünger darzustellen, griff er zur größtmöglichen Keule. Er macht sie zu Widergängern der 1933er. Seine These: Es gebe unübersehbare und unverzeihliche Parallelen zwischen Nationalsozialisten und den 68ern. Dass letztere die Welt nicht ebenso wie ihre Vorgänger in eine Katastrophe gestürzt hätten, sei ein Glück und "der Festigkeit der zweiten deutschen Republik" zu verdanken.
Der Historiker glaubt es zu wissen, schließlich war er selbst Teil der Bewegung. Sein Buch ist durchzogen von Wut über sich selbst und die damaligen Weggefährten - vor allem aber auf jene, die mit 68 abgeschlossen und nach ihrem revolutionären Zwischenspiel "den späten Wiedereinstieg in die Normalgesellschaft" bewerkstelligt haben. Der zum Teil geifernde Ton, in dem sich Aly insbesondere im ersten Kapitel über die "Wohlstandsrevoluzzer" empört, die Professuren und Ressortleiter-Stellen ergatterten, sich an "Umschulungsmaßnahmen im Osten gesund" gestoßen oder sich in Ministerien "verzogen" hätten, erweckt den Eindruck, hier sei einer frustriert darüber, den Absprung eben nicht rechtzeitig geschafft zu haben.
Aly selbst hat in einem Interview mit der "Zeit" schon 2005 zugegeben, eine gewisse Lust an der Provokation zu empfinden: "Wenn ich einen Artikel für die ,taz' schreibe, schreibe ich rechts, wenn ich für die ,Welt' schreibe, komme ich von links. Wenn ich für die ,Süddeutsche' arbeite, habe ich deren Leser vor Augen: links-liberal, schönes Leben und ein bisschen feist." Daraus erklären sich die zuweilen arg platten Analogien, die Aly zwischen 68ern und Nationalsozialisten herstellt. So hätten nicht nur Rudi Dutschke und Co die Trennung zwi-schen Akademikern und Massen beseitigen wollen und sich im martialischen Antikapitalismus gefallen - auch Hitler und Goebbels hätten sich statt "verweichlichter Bürgersöhnchen" Studenten gewünscht, die Anteil am Massenkampf nehmen, und die NS-Studenten hätten den Widerstand der Revolutionäre gegen die "staatlichen Unterdrückungsmaßnahmen" und den "Moloch Kapitalismus" angekündigt.
Dieser holzschnittartige Vergleich von Zitaten ist ärgerlich - und im Übrigen unangemessen für einen Historiker, der sich mit viel beachteten Werken zum Nationalsozialismus einen guten Namen gemacht hat. Noch ärgerlicher ist Alys Versuch, mit Versatzstücken aus "Kursbuch"-Texten und Gesprächen den Beweis für die Gefährlichkeit der 68er zu führen. Die waren heterogen und keine gleichgeschaltete Armee, die Bernd Rabehl blind gefolgt wäre, wenn er von der Umerziehung der Bürokraten nach der Machtübernahme faselte. Sie taten es ja im Übrigen auch nicht, sondern kehrten in ihrer großen Mehrheit in die unrevolutionierte Gesellschaft zurück.
Wohin ihr Ausflug ins Revoluzzertum sie tatsächlich geführt hatte, ist sachlicher und unaufgeregter bei Wolfgang Kraushaar nachzulesen. Ja, die Studenten flirteten mit der Gewalt und inszenierten sich martialisch, um ihre Distanz zum durchschnittlichen Bundesbürger zu demonstrieren. Ja, die 68er hingen in schauderhaft unkritischer Weise den totalitären Ideen Maos und den Befreiungsbewegungen der Dritten Welt an. Und ja, die neue deutsche Linke war zum Teil erschreckend antisemitisch. Kraushaar selbst hat vor einigen Jahren aufgeklärt, dass es der Ex-Kommunarde Albert Fichter war, der im November 1969 mit einem Bombenanschlag auf das Jüdische Gemeindehaus in Berlin für ein "Fanal" sorgen wollte. Er gehörte den "Tupamaros West-Berlin" an, die die jüdische Gemeinden zu "Agenturen des zionistischen Staates Israel" erklärt hatten.
Obwohl auf den ersten Blick Karl Marx die zentrale theoretische Autorität der 68er-Bewegung gewesen sei und die sich zugleich als "Renaissance und Rehabilitierung des Marxismus" verstanden habe, habe ihr geheimes Motto eher von Jean-Jacques Rousseau gestammt: "Zurück zur Natur". Der französische Philosoph habe den Menschen für ein Naturwesen gehalten, das sich von seinen Ursprüngen entfernt habe. Dem habe auch das Menschenbild vieler 68er entsprochen. Und Kraushaar entwickelt eine weitere neue These: Die Studentenbewegung habe unbewusst an die romantische Bewegung des 18. Jahrhunderts angeknüpft. Anders als Novalis und Brentano aber hätten sich die 68er nicht auf eine "Revolte im Geiste" beschränkt, sondern wollten oraktisch eingreifen und hätten deshalb dem gesamten politischen System den Kampf angesagt.
Anders als Aly analysiert Kraushaar nur die Fakten, ohne die Empörung mitzuliefern. Deshalb kann er nüchterner als sein Kollege auf das blicken, was seiner Ansicht nach von 1968 geblieben ist: In den meisten ihrer politischen Ziele seien die 68er zwar gescheitert, sie hätten aber Teilerfolge in der Anti-Notstandsbewegung erzielt, den Einzug der NPD in den Bundestag, der 1969 zu befürchten stand, verhindert und zu einer parlamentarischen Mehrheit für die Bildung einer sozialliberalen Koalition beigetragen und damit letztlich "innen- wie außenpolitisch eine reformorientierte Politik ermöglicht". Soziokulturell falle die Bilanz freilich negativer aus: 68 stehe auch für einen "fundamentalen Angriff auf die Gesellschaft als einen Traditionszusammenhang von Identitätsmustern, Werten und Mentalitäten". Damit habe die Bewegung einerseits die Türen zu einer "subjektbestimmten Modernität" geöffnet, andererseits auch "Abgründe wie den Terrorismus" sichtbar werden lassen.
Zu einem ähnlichen Schluss kommt auch Norbert Frei. So sei der Kern der Bewegungen hinter dem Eisernen Vorhang das "Verlangen nach politischer Freiheit" gewesen, während in der Dritten Welt soziale und ökonomische Benachteiligungen eine größere Rolle gespielt hätten und in den USA die Rassendiskriminierung einer der Auslöser gewesen sei. Grundsätzlich sei den Bewegungen im Westen eine Sache gemeinsam gewesen: Der "runderneuerte nichtdog-matische Marxismus", angereichert mit Elementen der Psychoanalyse, der Kulturkritik und Existenzphilosophie habe die neue Linke fasziniert und die Revolte befeuert. "Was mitriss, waren die plötzlich schier unbegrenzt erscheinenden Möglichkeiten, als eine neue Generation im Eintreten für eine bessere Welt sich selbst zu beweisen."
Anstatt wie Aly die 68er in ihren Fantastereien allzu zu ernst zu nehmen, verweist Norbert Frei auf die Diskrepanz zwischen Parolen und Praxis: Selbst der bedürfnisloseste der studentischen Revolutionäre habe die grundlegenden Vorzüge und Freiheiten des westlichen Lebens beansprucht. Gerade in dieser Doppelzüngigkeit liege auch Trost: "So ernst, wie viele Parolen klangen, nahmen es (und sich) doch wohl nur wenige." Frei weist zu Recht darauf hin, man könne den 68ern "schlecht ihren Hedonismus zum Vorwurf machen, wenn man sie des Totalitarismus überführen will - und umgekehrt". Die RAF sei das zweifellos fürchterlichste Zerfallsprodukt der 68er-Bewegung gewesen, aber eben nicht das einzige.
Auch im Jubiläumsjahr der Revolte wird es noch viel Streit darum geben, was 68 war. Eines der treffendsten Urteile darüber fällte Theodor Adorno. Er schrieb 1969 in einem Brief an Herbert Marcuse: "Die Meriten der Studentenbewegung bin ich der letzte zu unterschätzen: sie hat den glatten Übergang zur total verwalteten Welt unterbrochen. Aber es ist ihr ein Quentchen Wahn beigemischt, dem das Totalitäre teleologisch innewohnt."
Unser Kampf. 1968.
S. Fischer Verlag, Frankfurt/M. 2008; 256 S., 19,90 ¤
1968. Jugendrevolte und globaler Protest
Deutscher Taschenbuch Verlag, München 2008;
288 S., 15 ¤
Achtundsechzig. Eine Bilanz.
Propyläen, Berlin 2008; 334 S.,19,90 ¤