Religion
Gestern galt sie noch als tot, heute gilt sie schon als Bedrohung für Freiheit und Demokratie. Zwei Plädoyers zur strikten Trennung von Politik und Glauben
Mit den Vorhersagen politischer, wirtschaftlicher oder gesellschaftlicher Entwicklungen ist es so eine Sache: all zu oft liegen sie gründlich daneben. Eindrucksvoll demonstriert wurde dies - um ein einschneidend historisches Beispiel zu wählen - mit dem Zusammenbruch des sozialistischen Ostblocks. Selbst Vertreter der wissenschaftlichen Zunft, die sich diese Zäsur sehnsuchtsvoll herbeigewünscht hatten, rieben sich während und nach den Wendejahren 1990/91 verwundert die Augen.
Wirtschaftsforscher mögen das Wachstum für das kommende Jahr annähernd berechnen und Demoskopen das Abstimmungsverhalten der Bürger Wochen vor dem Wahltermin hochrechnen können. Und selbst dies kann - wie die vergangene Bundestagswahl gezeigt hat - zu ebenso grandiosen Fehleinschätzungen führen. Prognosen jedoch, die noch weiter in die Zukunft reichen sollen, weisen ein ungleich höheres Fehlerpotenzial auf. Zu groß ist die Zahl der unberechenbaren Variablen. Karl Popper wies 1992 in einem Interview mit dem "Spiegel" deshalb zu recht darauf hin, dass er es für völlig verfehlt halte, einen Intellektuellen danach zu beurteilen, ob er gute Prophezeiungen mache oder nicht. Umso erstaunlicher, welch lautstarkes Lamento dennoch ausbricht, wenn die Geschichte erneut partout nicht jene Entwicklung einschlagen will, wie vorhergesagt. Und ebenso erstaunlich, mit welcher Vehemenz zugleich das Gegenteil von dem, was sich gerade noch als falsche Vorhersage erwiesen hat, zur neuen Gewissheit erhoben wird.
Aktuell lässt sich dieses Phänomen beobachten, wenn es im wahrsten Sinne des Wortes um "Gott und die Welt" geht - um die Religion. Da machen auch die beiden neuen Werke von Robert Misik und Elie Barnavi keine Ausnahme. Der österreichische Journalist und Buchautor beginnt sein Klagelied unter dem viel sagenden Titel "Gott behüte" so: "Vor vierzig Jahren prophezeite der international renommierte Religionsexperte Peter Berger in der ,New York Times', dass sich im ,21. Jahrhundert religiöse Gläubige wahrscheinlich nur noch in kleinen Sekten finden' werden, ,aneinandergekuschelt, um einer weltweiten säkularen Kultur zu widerstehen'." Und ironisch fügt er an: "Es ist keine allzu große Übertreibung, wenn man sagt, die Prophezeiung erwies sich als nicht exakt zutreffend."
Bei seinem in Tel Aviv lebenden Autorenkollegen klingt dies - genau wie der Buchtitel "Mörderische Religion" es ahnen lässt - schon wesentlich bedrohlicher, fast schon biblisch-apokalyptisch: "Da dachte man, Gott sei tot, begraben oder zumindest aus der Öffentlichkeit verbannt. Dann aber stellt man angesichts lärmender Bombenexplosionen, lodernder Brandsätze, hasserfüllter Demonstrationen und Verwünschung seiner selbst ernannten Wortführer mit Entsetzten fest, dass Er wiederkehrt, und zwar mit Pauken und Trompeten."
So unterschiedlich Misik und Barnavi stilistisch argumentieren, inhaltlich verfolgen sie doch weitgehend das gleiche Ziel: die strikte Trennung von Staat und Kirche, von Politik und Religion. Gute Gründe und Argumente für ihre Forderung haben beide Autoren angesichts der entfesselten Gewaltorgien im Namen Gottes in Gegenwart und Vergangenheit: Barnavi nennt sie die "Schattenseite aller schriftlich fixierten Offenbarungsreligionen". Musik geht noch einen Schritt weiter, für ihn sind die Religionen ein "Aufputschmittel", das die Völker gegeneinander aufhetzt und nicht das "Opium", wie Karl Marx einst meinte, um das Volk ruhig zu stellen: "Religion neurotisiert". Doch um was geht es hier nun genau? Um die Religion prinzipiell? Oder doch "nur" um ihren Missbrauch in Form eines gewaltbereiten Fundamentalismus?
Um vorschnellen Urteilen entgegen zu treten: Weder Misik und Barnavi verdonnern die Religionen zur ewigen Verdammnis, und sie versuchen auch nicht, ihre Leser zu strammen Atheisten zu bekehren, wie sich dies der Evolutionsbiologe Richard Dawkins erst unlängst wieder mit seinem Werk über den "Gotteswahn" zur Aufgabe gemacht hat. Ganz abgesehen davon, dass sie beide auf einem deutlich höheren argumentativem Niveau bewegen. Elie Barnavi tut dies nicht, weil er selbst gläubiger Jude ist. Robert Misik tut es nicht, da er es offensichtlich mit dem Grundsatz Friedrich des Großen hält, dass jeder nach seiner Facon glücklich werden dürfe. Obwohl es ihn offensichtlich ganz gehörig in den Fingern juckt, sich ausführlicher darüber auszulassen, was davon zu halten sei, dass Menschen sich dem Glauben hingeben, "dass die Welt innerhalb von sechs Tagen erschaffen wurde und der Allmächtige am Samstag ein Nickerchen machte". Letztlich belässt er es bei seinen ironischen und polemischen Einlassungen.
Misik und Barnavi wissen beide, dass ihre Forderung nach einer strikten Trennung zwischen Politik und Religion ein schier unlösbares Unterfangen ist. Beide sind sich bewusst, dass Religion schon immer auch politisch war und ist. Und sie legen beide ausführlich dar, warum dies so ist. Sicher, eine formale Trennung zwischen Staat und Kirche lässt sich formal vergleichsweise einfach bewerkstelligen, und ist zumindest in den meisten Staaten auch längst Realität - wenn auch in unterschiedlichen Abstufungen. Religiöse Überzeugungen, Werte und Moralvorstellungen aus der politischen Debatte zu verbannen, ist hingegen ungleich schwieriger, besser gesagt illusorisch. Mit welchem Recht sollte dies auch geschehen in Staaten, in der jede andere Interessengruppe ebenso um ihren Einfluss kämpft?
Barnavi versteht seine Forderung deshalb auch eher in dem Sinne, dass der Staat der Religion - vor allem in ihren fundamentalistischen Erscheinungsformen - klare Grenzen aufzuzeigen habe. Als Beispiel für eine gelungene Grenzziehung benennt er die Politik des israelischen Staates gegenüber den jüdischen Fundamentalisten in der Frage des Abzuges aus dem Gazastreifen: "Doch der Staat zeigte seine Zähne, und der Rückzug aus dem Gazastreifen ging glatt über die Bühne. Zum ersten Mal seit der Eroberung der Gebiete im Sechstagekrieg machten die Fundamentalisten Bekanntschaft mit der Macht des Staates und entdeckten zugleich, wie tief der Graben zwischen ihnen und ihren Landsleuten geworden war."
Barnavi macht keinen Hehl daraus, dass diese Grenzen notfalls eben auch mit vorgehehaltener Waffe zu ziehen sind. So sei der muslimische Fundamentalist "einerseits zwar ein frommer Mann, andererseits aber auch ein unverbesserlicher Macho, der Gewalt versteht und respektiert". Einen Dialog mit den Fundamentalisten jedweder Ausrichtung hält er für ein sinnloses, gar gefährliches Unterfangen. Auf der einen Seite stehe die Kultur, auf der anderen die Barbarei - und "zwischen beiden ist kein Dialog möglich".
Barnavis "Streitschrift" stellt letztlich nicht mehr als einen Aufruf - den er deutlich Richtung Europa formuliert - zur kompromisslosen Verteidigung demokratischer Werte gegen jeden Angriff aus dem fundamentalistischen Lager dar. Bleibt die Frage, ob eine solche Mahnung derzeit überhaupt noch nötig ist, ob der Westen wirklich noch im multikulturellen Dornröschenschlaf dämmert, wie er glauben machen will?
Immerhin weiß Barnavi, wie und wo er die Grenzen zwischen Politik und Religion ziehen will. Bei Misik kann man da nicht so sicher sein. Seine Angst, der aggressive Islamismus würde gleichsam eine Fundamentalisierung des nach eigener Aussage "geläuterten" Christentums in Europa nach sich ziehen, erscheint dann eben auch recht neurotisch. Zumal er überzeugende Beweise für diese These nicht vorzubringen vermag. Auf diese Weise entstehen höchstens weitere Prophezeiungen, die dann eines Tages wieder zurückgenommen werden müssen. So Gott will.
Gott behüte! Warum wir die Religion aus der Politik raushalten müssen.
Mörderische Religion. Eine Streitschrift. Ullstein Verlag, Berlin 2008; 173 S., 18 ¤