Antisemitismus
Walter Laqueur erzählt jene leidvolle Geschichte, die nicht enden will
Es muss hart gewesen sein, dieses Buch zu schreiben. Walter Laqueur, als Begründer der Terrorismusforschung zu Weltruhm gelangt, hat sich in seinem jüngstem Buch einem Thema zugewandt, das ihn wie kaum ein anderes seiner Forschungsgebiete selbst betrifft: dem Antisemitismus.
Laqueur, 1921 als Jude in Breslau geboren, floh 1938 aus dem nationalsozialistischen Deutschland nach Palästina und erlebte dort den Aufbau Israels, bevor er den jüdischen Staat wieder verließ, um in Paris, London und Washington zu lehren und zu forschen. Daran, wie stark das Thema ihn persönlich betrifft, lässt er keinen Zweifel: "Ich gehöre zu den letzten noch lebenden Angehörigen einer Generation, die den europäischen Antisemitismus in seiner extremsten Form selbst erlebt hat." Es sei unwahrscheinlich, dass ein Angehöriger seiner Generation auf den Gedanken käme, den Antisemitismus als nebensächlich zu behandeln - andererseits werde, wer den mörderischen Antisemitismus kennen gelernt habe, nicht zu Überreaktionen neigen. Mit dieser selbst verordneten Distanz legt Laqueur die Messlatte hoch an - und es ist wohl seine größte Leistung, dass es ihm trotz aller persönlichen Betroffenheit gelingt, diesen Anspruch in seinem gesamten Buch auch zu erfüllen.
Ein Buch, das in seinem Fazit beklemmend ist. Auch wenn der Antisemitismus heute nicht mehr mit der Verfolgung der Juden in den 30er- und 40er-Jahren vergleichbar sei, spreche nichts dafür, dass das letzte Kapitel seiner langen Geschichte bereits geschrieben sei. Laqueur lässt diese lange Geschichte Revue passieren und arbeitet heraus, dass sich die Hintergründe des Antisemitismus seit seinem Aufkommen in der Antike zwar geändert haben, es aber schon immer Ressentiments gegeben habe. "Juden wurden abgelehnt, wenn sie schwach waren und wenn sie stark waren, wenn sie sich um Assimilation bemühten und wenn sie an ihrer traditionellen Religion und Lebensweise festhielten." Während die tätlichen Übergriffe auf Juden im Altertum auch "Ausdruck einer mehr oder weniger normalen Xenophobie" gewesen sein könnten, habe der Aufstieg des Christentums und insbesondere seine nachfolgende Interpretation den Wendepunkt in der Geschichte des Antisemitismus dargestellt.
Dabei verweist Laqueur auf globale Unterschiede. Während der Antisemitismus in Westeuropa überwiegend theologisch motiviert gewesen sei, habe er in Osteuropa - insbesondere in Polen - stärker soziale Wurzeln gehabt. In der arabischen Welt sei es Juden lange Zeit besser ergangen als im christlichen Europa, wo der Judenhass im Holocaust seinen grauenvollen Höhepunkt fand. Nach der Gründung Israels 1948 würden sie in der arabischen Welt jedoch als Aggressoren wahrgenommen.
Gemein ist allen Formen des Antisemitismus ein Hang zu Verschwörungstheorien. Bereits im Mittelalter unterstellte man den Juden Ritualmorde und Brunnenvergiftungen, später kolportierten Neonazis und Trotzkisten, Zionisten hätten sich mit Hitler verschworen, Juden zu ermorden, um nach 1945 einen jüdischen Staat gründen zu können. Auch in der Moderne reißen diese Vorwürfe nicht ab: So sind einige arabische Medien davon überzeugt, die Anschläge des 11. Septembers seien von Juden geplant und ausgeführt.
Laqueurs Prognose ist düster: Noch immer sei Israels Existenz von seinen Nachbarn nicht akzeptiert. Und in Europa würden die Regierungen, weil sie nicht als islamophob gelten wollen, zunehmend Zugeständnisse an ihre Muslime machen. "Von den Juden wird dabei erwartet, sich unsichtbar zu machen, sich still und leise zu verhalten und keine unnötigen, gefährlichen Spannungen und Konflikte heraufzubeschwören." Es ist Laqueurs unausgesprochener Appell, sich dieser Mechanismen bewusst zu werden und ihnen entgegenzuwirken. Erst dann muss die Geschichte des Antisemitismus vielleicht irgendwann nicht mehr weiter geschrieben werden.
Gesichter des Antisemitismus. Von den Anfängen bis heute.
Propyläen, Berlin 2008; 247 S., 22,90 ¤