Gesellschaft
Eine persönliche Abrechnung mit dem deutschen Bildungssystem
Bruno Preisendörfer hat es geschafft: Er hat Abitur gemacht und eine Universität besucht. Er hat einen Doktortitel erworben und damit das Recht, zwei Buchstaben und einen Punkt vor seinen Namen zu setzen, die ihm auch in den Augen seiner Mitmenschen Reputation und Ansehen verleihen. Er ist Journalist und Schriftsteller und hat es damit fraglos zu etwas gebracht.
Warum das erwähnenswert ist? Weil es für den Spross einer Familie, in der vor ihm niemand studiert hat, eine ungewöhnliche Laufbahn ist. Gemeinhin werden in Deutschland eher jene, die bereits Doktoren im Haus haben, auf die Universität gelotst, alle anderen in Richtung Werkbank, an der kaum mehr jemand gebraucht wird. In Zahlen ausgedrückt nehmen 83 von 100 Kindern aus akademisch gebildeten Familien ein Studium auf; unter den anderen nur 23. Den Grundstein für die Ungleichheit legt bereits die Grundschule. Kinder aus bildungsnahen Haushalten haben - bei gleichen Fähigkeiten - eine mehr als zweieinhalb Mal so große Chance, eine Gymnasialempfehlung zu bekommen, wie Kinder aus bildungsfernen. Studien, die auf die eine oder andere Art belegen, dass das deutsche Bildungssystem sozial ungerecht ist, liefert die Bildungsforschung seit Jahren nahezu im Monatstakt.
Regt das, außer den immer gleichen Mahnern der immer gleichen Forschungsinstitute, noch jemanden auf? Das müsste es jedenfalls - nämlich all jene, die nicht mit den gleichen Chancen ausgestattet werden. Von sich selbst ausgehend aber sozusagen stellvertretend für all jene, die qua Geburt für dumm verkauft werden, hat Preisendörfer ein ebenso kluges wie böses Buch geschrieben.
Unter dem wenig Raum für Interpretation lassenden Titel "Das Bildungsprivileg. Warum Chancengleichheit unerwünscht ist" stellt der Berliner Journalist seine eigene Bildungsgeschichte in Zusammenhang mit dem großen Ganzen. Das hätte in der persönlichen Abrechnung eines verletzten Menschen ohne großen Zugewinn für den Leser enden können - ist es aber nicht. Die Gegenüberstellung von Selbsterlebtem und schulpolitischer Debatte ist höchst erhellend. Erstens macht sie das Selbstverständliche auch einmal deutlich: dass es echte Menschen sind, die auf einen viel zu kurzen Bildungsweg geschickt werden.
Zweitens gewährt Preisendörfer einen Blick in eine Familie, der die Alma Mater kein natürlicher Aufenthaltsort, sondern eine höchst fremde Institution ist. Ein Kind aus einer Arbeiterfamilie, das nach oben will - und das gilt erst recht für Millionen Kinder von Migranteneltern - muss sich nämlich im Zweifel nicht nur gegen das Schulsystem, sondern auch gegen seine Herkunft durchsetzen.
Vor allem aber hätte er nicht so erfrischend böse schreiben können, wäre er nicht selbst einer der "Bifs" - der Bildungsfernen. "Die Scham über die Kränkung treibt uns das Blut in die Wangen", schreibt er, "der Zorn über sie lässt uns erbleichen." So liest sich das Buch - und stellt eine These ins Zentrum über die häufiger gesprochen und gestritten werden sollte: Die in Sonntagreden viel beklagte Ungerechtigkeit verfolge in Wirklichkeit einen klaren Zweck: die Besitzstandswahrung des Bürgertums. Wo die Bifs einrückten, argumentiert Bruno Preisendörfer, geriete schließlich auch der eigene Nachwuchs unter Druck.
Wieso der heute 51-Jährige es dennoch geschafft hat? Als er trotz guter Noten mit einer Realschulempfehlung beleidigt wird, hört er sich nach Alternativen um. Er kämpft sich durch die Prüfung an einem Benediktiner-Internat und scheitert am Ende an Latein. Er pendelt zurück auf die Realschule, dann wieder auf das Gymnasium. Später studiert und promoviert er mithilfe von Bafög und Nafög (Nachwuchsförderung), zwei Instrumenten, die tatsächlich mehr Gerechtigkeit schafften. Die größten Helfer auf seinem Weg seien allerdings gewesen: "Zufälle, wenn auch von mir selbst erkämpfte."
Das Bildungsprivileg. Warum Chancengleichheit unerwünscht ist.
Eichborn Verlag, Frankfurt/M. 2008; 192 S., 16,95 ¤