Gesellschaft
Uwe-Karsten Heye über die Chancen des Alterns
Seit Frank Schirrmacher in seinem "Methusalem-Komplott" vor den alles zerreibenden Walzen des Alterungsprozesses gewarnt hat, setzen sich Autoren scharenweise mit dem unumkehrbaren demografischen Wandel in Deutschland auseinander. Inzwischen ist sattsam bekannt, dass die Zahl der Hundertjährigen sprunghaft ansteigen wird, dass die Alterspyramide sich auf die Spitze stellt, Jugendliche gleich mehrere Rentner durchfüttern, und die Pflegeheime vor dem Ansturm der Greisenschar werden kapitulieren müssen. Aber es geht auch anders. Der Journalist Uwe-Karsten Heye hat den Mut, die überbordende Stoffmenge über den Alterungsprozess und seine Folgen auf die Chancen für jeden Einzelnen und die Gesellschaft insgesamt abzuklopfen.
Das setzt Kreativität voraus, denn die These von der "revolutionären Kraft der alternden Gesellschaft" will untermauert sein. Der ehemalige Regierungssprecher Gerhard Schröders, jetzt 67, bedient sich eines Kunstgriffs: In einem Brief an seinen Sohn, einem Nachzügler, beschreibt er aus der Sicht eines bald 80-Jährigen die Veränderungen im Zusammenleben von Jung und Alt. Im Jahre 2019 nämlich übernehmen die Alten Schulpatenschaften, stellen sich für Ergänzungsunterricht zur Verfügung, und Kindergärten werden von so genannten Senioren-Paten unterstützt. Aufgaben, die Rentner und Pensionäre gleichsam ins Leben zurückbringen, die aber auch die derzeit sträflich vernachlässigte Bindekraft zwischen den Generationen stärken könnten.
Der Autor beschwört nicht den sozialen und biologischen Terror der Altersangst, sondern überprüft die Qualität des sozialen Miteinanders und entwickelt neue Rollenbilder, in denen sich Alte wie Junge wiedererkennen können. Was noch wie Zukunftsmusik eines phantasievollen Journalisten klingt, wird zumindest teilweise Realität werden müssen, soll nicht ein freudloser Weg in eine kalte, von Kindern entwöhnte Gesellschaft führen.
Das Bildungssystem wird angesichts geburtenschwacher Jahrgänge gründlich reformiert werden müssen. Und, so behauptet der Autor, es sei zu erwarten, dass die alternde Gesellschaft ihren Bedarf an qualifizierten Arbeitnehmern in den kommenden 20 Jahren vor allem über die Frauen kompensieren kann. Vorausgesetzt, deren völlige Gleichstellung werde als positiver Nebeneffekt des demografischen Wandels vollzogen.
Zugleich werden sich die nächsten Generationen darauf einstellen müssen, dass ein Zuwachs an aktiver Lebenszeit auch die Arbeitswelt verlängert. Das jetzt anvisierte Rentenalter von 67 Jahren werde nicht ausreichen. Um diese Grenze durchlässiger zu machen, bringt Heye die freie Wahl des Rentenalters in die Diskussion.
Eine längere Lebensarbeitszeit erfordere aber auch, im mittleren Erwachsenenalter ab 35 Jahren weiter zu lernen. Dann ließen sich, behauptet der Autor, bis ins hohe Alter neue Entwürfe für das eigene Leben ent-wickeln, was einen unendlichen Gewinn an Lebensqualität bedeute. Nebenbei zeige sich inzwischen, dass der Fachkräftemangel den Unsinn beenden werde, Menschen über 50 aus der Arbeitswelt zu entlassen.
Die "Phase des jungen Alters" nach dem Ausscheiden aus dem Erwerbsleben sei ein in der Menschheitsgeschichte einzigartiges biologisches und soziales Phänomen. Die Potenziale dieser Alterswende würden erst wahrgenommen, seit es mit der Geburten-rate unaufhaltsam bergab gehe. Andererseits könne eine phantasievolle Familienpolitik zu einer Wende und neuem Babyboom führen - allerdings ohne das verklärte Familienbild des vorletzten Jahrhunderts.
Auch wenn die Überlegungen nicht immer neu sind, so ist Heye erfinderisch im Auf-zeigen spannender Lebensentwürfe. Das ist schon lesenswert, denn gegenüber dem, was heute für die meisten den Standard nach der Verrentung bedeutet, sind die von ihm vor-geschlagenen Anforderungen an eine alternde Gesellschaft überraschende Alternativen.
Gewonnene Jahre oder Die revolutionäre Kraft der alternden Gesellschaft. Karl Blessing Verlag, München 2008; 224 S., 18,95 ¤