Niederlande
Eine Reise zu den jungen Immigranten in Amsterdam
Der Rezensent Geert Mak lässt es nicht an Pathos fehlen: In "den unzugänglichsten Erdteil" habe sich die Autorin begeben, schreibt der große Chronist der Niederlande, in "die verschlossene Welt der traditionellen muslimischen Familie in der europäischen Stadt". Unwillkürlich schreckt man ein bisschen zurück - um dann zu denken: Vermutlich ist daran etwas Wahres; und zwar unabhängig davon, ob Margarith Klijwegt sich in Amsterdam oder Berlin auf den Weg gemacht hätte.
Zuwanderer in den Niederlanden unterscheiden sich von jenen in Deutschland in mancher, aber längst nicht in jeder Hinsicht: Auf der einen Seite gibt es indonesische, surinamische, marokkanische und türkische Niederländer, die aus der Mittelschicht nicht wegzudenken sind. Auf der anderen Seite macht der männliche Nachwuchs vor allem marokkanischer Familien wohl mehr Probleme als junge Türken in Deutschland. Und gläubige Muslime praktizieren ihre Religion in hier kaum denkbarer Intensität. Islamische Schulen sind mehr Regel als Ausnahme - was in einem ohnehin religiös geprägten Land auch kaum verwundern kann.
Sehr verwundern musste allerdings, dass noch bis vor wenigen Jahren darüber debattiert wurde, ob an diesen Schulen auch ohne Kopftuch unterrichtet werden dürfte. Seit dem 11. September und dem Mord an dem Regisseur Theo van Gogh ist die Skepsis gegenüber dem Islam enorm gewachsen; die Zuwendung zur Religion unter Jugendlichen aber auch. Beides kennt man aus Deutschland.
"Schaut endlich hin!" hat Margalith Kleij-wegt das Ergebnis ihrer Reise durch ein muslimisches Wohnquartier in Amsterdam genannt. Gerichtet ist die Aufforderung offenbar an die Familien selbst - der Originaltitel lautet "Unsichtbare Eltern". Wer das Buch liest, bekommt allerdings den Eindruck, es gäbe noch mehr, die einmal hinschauen sollten: Lehrer zum Beispiel, Streetworker, die Polizei. Anders als sie kennt die Journalistin nun das Zuhause aller Schüler einer achten Klasse in einer so genannten "schwarzen Schule" im heruntergekommenen Westen Amsterdams.
Die Familien, die im Vorfeld von der Schule angeschrieben worden waren, ließen sie hinein, wenn auch häufig erst beim ersten, zweiten oder dritten Versuch. Das mag man als Feindseligkeit gegenüber Niederländern deuten, aber auch als völlige Perplexität: Regelmäßig sagte man ihr, sie sei die erste, die zu Besuch käme - nach zehn, 20 oder 30 Jahren in einem Land, in dem die Menschen traditionell keine Vorhänge aufhängen, um ihre Offenheit zu demonstrieren. Warum eigentlich schauen holländische Lehrer nicht einmal bei den Eltern vorbei, wenn die sich nicht in die Schule bemühen?
In den engen Wohnungen offenbart sich der Autorin eine Parallelwelt, die den Namen zur Abwechslung einmal verdient. Nahezu ausnahmslos trifft sie auf Mütter, die kein Wort Niederländisch sprechen; auf Elternpaare, die nicht die geringste Vorstellung haben, was ihre Kinder in der Schule treiben. Weil sie sich nicht auskennen, haben sie die Verantwortung häufig an ihre ältesten Söhne delegiert - und die sind weit davon entfernt, sich zu kümmern. Sie trifft auf Familien, denen das Gebet gen Mekka der größte Halt im Leben ist, vielleicht zusammen mit dem Häuschen, das sie sich nach Jahrzehnten in zwei Zimmern immer noch im Rif-Gebirge leisten.
Sie beobachtet Antisemitismus unter den Jugendlichen, der einem den Atem raubt, aber auch ganz normale Schüler, die beim Lernen dringend mehr Unterstützung bräuchten. Die bekommen nur jene Jugendlichen, die in einem islamischen Internat wohne, und zwar unter Anleitung von älteren muslimischen Jugendlichen, die weder gewalttätig noch religiös verblendet sind - sondern Jura oder Betriebswirtschaft studieren. Was unterscheidet die einen von den anderen? Auch darüber würde man gern mehr erfahren.
Schaut endlich hin! Wie Gewalt entsteht. Berichte aus der Welt junger Immigranten.
Herder Verlag, Freiburg 2008; 188 S., 16,95 ¤