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140 Millionen Opfer von Genitalverstümmelung gibt es. Jawahir Cumar gehört dazu - und kämpft dagegen
Als sie 14 war, brach sie im Sportunterricht zusammen. Der Arzt stand vor einem Rätsel - bis eine gynäkologische Untersuchung es ans Licht brachte: Sie war so eng zugenäht, dass ihre erste Periode nicht abfließen konnte. "Sie mussten das dann sofort aufschneiden", erzählt Jawahir Cumar.
Die heute 31-Jährige wurde im Norden Somalias geboren. "Schon damals war mein Vater gegen die Beschneidung", sagt sie, doch ihre Großmutter brachte sie, als sie fünf war, einfach zum Arzt. Damit erging es Jawahir besser als der Masse der etwa 8.000 Mädchen, die jeden Tag weltweit beschnitten werden: Ihr äußeres Geschlecht wurde unter Vollnarkose und mit sterilen chirurgischen Instrumenten verstümmelt. Die meisten afrikanischen Mädchen und Frauen müssen diese Tortur bei vollem Bewusstsein ertragen und die Beschneiderinnen im Busch nehmen dafür, was sie haben: Klappmesser, abgebrochene Rasierklingen, Glasscherben, scharfe Steine, heiße Butter und Zitronensaft zum Desinfizieren und Akaziendornen zum Zunähen.
"Als ich aufwachte, waren meine Beine zusammengebunden und man sagte mir: "Du bist jetzt beschnitten und musst hier ruhig liegen. Doch dann kamen die furchtbaren Schmerzen ..." erinnert sich Jawahir Cumar. Sie ist eine von etwa 140 Millionen Frauen, die in 34 Ländern - überwiegend im mittleren Afrika, aber auch im nahen Osten, in Malaysia, im kurdischen Teil Iraks und in Australien - an ihren Genitalien verstümmelt wurden. Seit den 80er-Jahren gibt es Aufklärungskampagnen, doch noch immer, so schätzt die UN, kommen jährlich etwa zwei Millionen Opfer dazu.
Als Jugendliche, in der Schule in Deutschland, war Jawahir Cumar trotz jenes rettenden Öffnungsschnitts jeden Monat zwei Tage krank. "Die anderen hatten das nicht, da wurde mir langsam klar, dass ich anders bin." Mit 17 heiratete sie. "Da ich Moslem bin, war ich natürlich Jungfrau." Und das wäre sie auch am liebsten geblieben. "Wir waren schon sechs Monate verheiratet und ich wollte das gar nicht probieren. Er hat dann irgendwann gesagt, das geht ja nicht."
Wieder hatte sie "Glück". Viele afrikanische Männer glauben, in dieser Situation ihre Potenz beweisen zu müssen, versuchen es mit Gewalt oder nehmen selbst ein Messer zur Hand oder die Beschneiderin kommt noch mal. Jawahir darf sich vom Frauenarzt mit einer weiteren Öffnungsoperation helfen lassen. Sie ist heute Mutter von drei Kindern - 13, 9 und 7 Jahre alt.
Über zehn Jahre hatte sie bereits in Deutschland gelebt, als sie 1996 bei einem Besuch in der somalischen Heimat die Trauer einer Familie mitbekam. Eine Achtjährige war bei der Beschneidung verblutet. "Macht ihr das etwa immer noch?", fragte sie entgeistert. "Ja selbstverständlich, was denkst Du denn!"
Zurück in Deutschland gründet die damals 20-Jährige in Düsseldorf den Verein "Stop Mutilation" und beginnt mit Spenden, im nordsomalischen Puntland eine Mutter-Kind-Station auszustatten, denn in Ostafrika, wo die schlimmste Form der Verstümmelung mit Zunähen üblich ist, stirbt vermutlich jedes vierte Mädchen an den unmittelbaren Folgen der Beschneidung. Wer die Tortur überlebt, leidet lebenslang an Harn- und Blutstaus, Entzündungen und Schmerzen beim Geschlechtsverkehr. Geburten werden extrem erschwert. All dies bei äußerst mangelhafter medizinischer Versorgung. So ist die Kinder- und Müttersterblichkeit am Horn von Afrika weltweit am höchsten. Die Frauen werden dort im Schnitt nicht älter als 48 Jahre.
Acht Jahre später: Cumars Krankenstation ist gut aufgebaut, in Somalia herrscht Bürgerkrieg, doch die nördliche Region blieb verschont. Da wütet im Dezember 2004 der Tsunami, macht alles dem Erdboden gleich. Auch die Krankenstation. Doch sie lässt sich nicht entmutigen. Vom Club Düsseldorf Karlstadt der Soroptimist-International, der weltweit größten Organisation von Frauen im Berufsleben, bekommt sie auf der Suche nach neuen Spendern starke Unterstützung. Große Unternehmen werden gewonnen, so dass am 1. Juli 2005 der Grundstein für den Neubau eines Krankenhauses gelegt werden kann. Bald soll es als erste somalische Klinik für beschnittene Frauen und ihre Kinder seine Arbeit aufnehmen, braucht aber für den laufenden Betrieb weitere Spender.
Außerdem finanziert Cumar in Puntland eine Schule, an der 400 Jungen und 700 Mädchen ausgebildet werden. Bedingung für die Aufnahme der Mädchen ist, dass sie unbeschnitten sind. "Wir erklären dort ab der ersten Klasse wie schädlich die Beschneidung ist und sagen den Jungen immer wieder, dass es besser ist, unbeschnittene Mädchen zu heiraten."
Neben der Organisation von Klinik und Schule in der Heimat, ihrem Beruf als Dolmetscherin in Deutschland und ihren Aufgaben als alleinerziehende Mutter ist Jawahir Cumar auch in ihrem direkten Umfeld in Düsseldorf aufklärend tätig. So berät und begleitet sie afrikanische Frauen beim Gynäkologenbesuch und übersetzt für sie.
Die Mehrzahl der Frauenärzte hierzulande ist nicht gut in der Beschneidungsthematik ausgebildet. Betroffene Frauen erleben Reaktionen von schockierter Unwissenheit, Hilflosigkeit und mangelnder Sensibilität: Ärzte rennen entsetzt aus dem Raum, empören sich moralisch oder fragen, ob die Frau da unten Feuer gehabt hätte, erzählt Jawahir Cumar. Inzwischen kennt sie jedoch einige Ärzte, die genug wissen, um sensibel beraten und behandeln können.
Cumar kämpft aber auch gegen Irrglauben und Informationsmangel in ihrer Community. Vier bis sechs Beratungsanfragen hat sie pro Woche. Doch obwohl dem Integrationsministerium in Düsseldorf diese Aktivitäten bekannt sind, gibt es von dort bislang keine Unterstützung. Jahrelang hat Jawahir Cumar ihre Beratungen in den eigenen vier Wänden durchgeführt, bis die Diakonie ihr 2005 dafür einen Raum zur Verfügung stellte. Den teilt sie sich nun gemeinsam mit anderen Initiativen.
Seit 1999 kämpft auch Ahmed Mahmud an ihrer Seite. In der Heimat war er Lehrer, jetzt ist er Dolmetscher für arabische Sprachen und Betriebsrat in einer Chemiefabrik. Das monatliche Leiden seiner Schwester, die sich dann wegen des Blutstaus vor Schmerzen kaum rühren kann, hat ihn aktiv werden lassen. So konnte der 51-Jährige wenigstens seine Nichten vor der Beschneidung bewahren. Mehr noch: Über die Jahre ist aus ihm ein gefragter Berater der Männer geworden. Ahmed Mahmud liefert ihnen Argumente im Kampf um die Unversehrtheit ihrer Töchter.
Und Jawahir Cumar unterstützt die Frauen, wenn sie für ihre Töchter mit ihren Männern ringen müssen. Oft macht sie dafür Besuche, denn manche Frauen können kein Deutsch, kennen sich, obwohl sie Jahre hier leben, nicht mit öffentlichen Verkehrsmitteln aus, dürfen das Haus nur verlassen, wenn es der Mann erlaubt.
So besuchte sie eine Somalierin. Ihr Mann hatte die vierjährige Tochter einem Freund in Saudi-Arabien versprochen, der verlangte dafür die Beschneidung des Kindes. "Ich habe ihr die Telefonnummer vom Frauenhaus gegeben. So konnte sie ihrem Mann sagen: 'Wenn Du das machst, dann gehe ich'." Der aber hatte nicht mit Jawahir Cumar gerechnet: "Du kommst nicht weit. Du kennst Dich ja nirgends aus." Seine Frau aber machte ernst. Sie lebt jetzt mit dem Kind im Frauenhaus.
Mit anderen schaut Jawahir Cumar bei Tee und Gebäck Filme und redet darüber. Das helfe, damit die Frauen sich erinnern, wie grausam die Beschneidung ist, denn viele verdrängen die traumatische Erfahrung. Ein Kind aus Bonn konnte durch so einen Filmabend gerettet werden. "Ich wusste, dass die Mutter ihre Tochter in Somalia beschneiden lassen wollte. Da habe ich 30 Frauen zum Tee eingeladen." Meist gäbe es nach den Filmen ein hitziges Für und Wider. "Einige meinen dann, wir leben ja hier in Deutschland, da brauchen die Töchter nicht unbedingt einen Mann. Aber die, die keinen dauerhaften Aufenthaltsstatus haben, sind meist für die Beschneidung, damit die Töchter später Heiratschancen haben."
Für ein in Mönchengladbach lebendes Mädchen aus Somalia musste Cumar noch härtere Geschütze auffahren. Sie verschaffte deren Mutter Unterstützung durch das Jugendamt. Das drohte mit Sorgerechtsentzug und lässt das Kind jetzt regelmäßig untersuchen.
Nach Cumars Erfahrung reagieren die Ämter sehr unterschiedlich. In Mönchengladbach wurde die Sozialarbeiterin sofort aktiv. In anderen Ämtern hat Cumar schon abweisende Reaktionen erlebt: Man könne sich nicht in die Familien einmischen, es sei nicht Aufgabe des Jugendamtes, da nachschauen zu gehen. "Es liegt im Ermessen der Bearbeiter und hängt sehr davon ab, mit wem man es zu tun hat", sagt Cumar nach jahrelanger Erfahrung als Dolmetscherin auf den Ämtern Nordrhein-Westfalens.
Die Frauenrechtsorganisation "Terre des femmes" fordert nicht nur deshalb, dass weibliche Genitalverstümmelung ein eigens definierter Tatbestand werden sollte, und zwar weltweit verfolgt. Dann wären Ermessensfragen ein für allemal geklärt.