China UND DER WESTEN
Die Rolle der Volksrepublik in einer multipolaren Welt
Dass der Autor sich in keinem Kapitel mit den Olympischen Spielen in Peking beschäftigt, mutet merkwürdig an. Martin Guan Djien Chan, ein in Konstanz geborener Deutsch-Chinese, nimmt für sich in Anspruch, den Schlüssel zum Verständnis der chinesischen Politik in Händen zu halten. Da war zu erwarten, dass er auch die Bedeutung dieses medienträchtigen Großereignisses analysiert und bewertet, auch wenn durch die Proteste in Tibet und deren brutale Niederschlagung die Spiele und deren Veranstalter in einem anderen Licht erscheinen, als dies bei Drucklegung vorherzusehen war. Mag sein, dass Chan das Thema zu brisant war, oder dass es nicht in die chinesische Sichtweise von Politik passt, wie sie Chan immer wieder darlegt. Dennoch hat er ein lesenwertes Buch vorgelegt, das sich sehr ausführlich mit der Frage beschäftigt, wie insbesondere Deutschland mit der ständig mächtiger werdenden Volksrepublik umgehen sollte.
Bereits heute haben viele tausend Menschen in Deutschland direkt und noch viel mehr indirekt mit China zu tun. Es sind zum einen Manager und Spediteure, die für Ex- und Importe nach und aus Ostasien zuständig sind, aber auch Architekten, Ingenieure, Hochschullehrer und Hotelfachleute. China wird, so die These des Autors, für Deutschland in Zukunft genauso wichtig oder sogar noch wichtiger sein als die USA. Daher sollten die Deutschen mindestens genauso gut informiert sein wie über die Vereinigten Staaten. Die Gewerkschaften protestierten gegen die Auslagerung von Arbeitsplätzen, aber, fragt Chan, wie viele Gewerkschafter kennen sich in China aus oder haben sich mit dem chinesischen Arbeitsrecht auseinandergesetzt? Welcher Bankangestellte kann darüber Auskunft geben, bei welchen chinesischen Banken die deutsche EC-Karte akzeptiert wird? Und welche Firmen stehen hinter gelisteten chinesischen Aktien?
Der Autor, regelmäßiger Gastdozent in der Volksrepublik, will nicht den Auguren folgen, die meinen, dieses Jahrhundert werde ein asiatisches oder chinesisches Jahrhundert werden. Europa und Nordamerika würden ihre Vormachtstellung nicht so schnell abgeben und weiterhin überproportional viel politisches Gewicht und wirtschaftlichen Einfluss haben. Allerdings werde der Westen allmählich aus dem Zentrum der Welt gedrängt werde: "Es wird eine multipolare Welt werden, in der Europa und Nordamerika Macht und Einfluss mit mehreren anderen Weltregionen teilen müssen, wobei China an oberster Stelle stehen wird."
Für China habe die Suche nach seiner neuen Rolle in der Welt bereits begonnen. Europa hingegen, meint der Sinologe, beharre auf seinem etablierten Weltbild. Und dann kommt Chan doch noch auf die Menschenrechte zu sprechen. Die chinesische Führung akzeptiere prinzipiell die Universalität der Menschenrechte - was aber nicht heiße, dass diese auch eingehalten werden. Diese Universalität werde in den neuen postmodernen Wertekodex der chinesischen Zivilisation eingehen, ist sich Chan sicher. Die Rechtsstaatlichkeit, so wie sie im Westen verstanden werde, dagegen nicht. Die Idee, dass das geschriebene Gesetz unter allen Umständen eingehalten werden müsse, widerspreche nicht nur der konfuzianischen Tradition, sondern sei auch rational nicht zu rechtfertigen und sogar unmoralisch.
Um die chinesische Sichtweise zu erklären, begibt sich der Autor auf schwieriges Terrain - beispielsweise wenn er die Nürnberger Gesetze heranzieht, die mit perfider juristischer Perfektion die Rassentrennung im Dritten Reich geregelt hätten. Bedeute dies, so fragt er, dass die Rassentrennung rechtens war? Ganz sicherlich nicht. Aber es geht ja gerade nicht um die Rechtsauffassung in Diktaturen, sondern um eine demokratisch legitimierte Rechtssprechung. Und davon ist die Volksrepublik, wenn es um Menschenrechte, Pressefreiheit und die Tolerierung von Minderheiten geht, noch meilenweit entfernt.
Der erwachte Drache - Großmacht China im 21. Jahrhundert.
Konrad Theiss Verlag, Stuttgart 2008; 200 S., 24,90 ¤