DOPING
Saubere Wettkämpfe scheinen nur noch Wunschvorstellung zu sein. Selbst renommierte Ärzte stützen das System
Der Glaube der Leute ist verloren, das weiß Viktor Röthlin, und er versucht, so gut es geht, sich damit zu arrangieren. Viktor Röthlin aus der Schweiz ist einer der besten Marathonläufer der Welt, Dritter der Weltmeisterschaften, erst im Februar hat er seinen eigenen Nationalrekord über die 42,195-Kilometer-Strecke auf 2:07:23 Stunden verbessert und für den Sommer ist sein Ziel eine olympia-Medaille in Peking. Das sind die Koordinaten des Misstrauens, er sagt es selbst: "Dass meine Leistungsentwicklung in den vergangenen zwei, drei Jahren mich bei vielen Leuten in Dopingverdacht gebracht hat, ist mir völlig klar." Es liegt nichts Konkretes gegen ihn vor. Dennoch: "Jeder denkt ohnehin, was er denken will", sagt Röthlin, "weil Hunderte, Tausende von Sportlern das schon gesagt haben, was ich jetzt auch sage, und dann irgendwann erwischt wurden." Und tatsächlich: Wer kann sicher sein, dass Viktor Röthlin die Wahrheit sagt?
Viktor Röthlin ist der Zeuge eines verlorenen Kampfes um Glaubwürdigkeit. Natürlich, die Welt des Sports dreht sich auch im Jahr 2008 weiter, sie ist ja ohnehin zu vielfältig, um sie ganz im Sumpf verschwinden zu sehen. Selbst in einschlägigen Dopingsportarten kann man noch so etwas wie Massenbegeisterung erleben. Sportartikelindustrie und Sponsoren füttern den Profisport weiterhin, auch Röthlin lebt gut davon. Aber wer die Dinge nüchtern betrachtet, findet selbst nach den großen Skandalen noch so viele Schlupflöcher für Sünder und so viel verdorbene Mentalität, dass ein wirklich reiner Hochleistungssport nicht zu erkennen ist.
Erst kürzlich veröffentlichte die schwedische Wissenschaftlerin Jenny Jacobsson Schulze eine Studie, die die genetische Veranlagung zur Verträglichkeit des Hormons Testosteron nachwies und wiedermal daran erinnerte, wie chancenlos die - zweifellos verdienstvolle - Antidopinganalytik teilweise selbst bei der Fahndung nach den größten Dopingklassikern ist. Der Testosteron-Test misst das Verhältnis von Testosteron und dessen Abbauprodukt Epitestosteron. Liegt der E/T-Quotient bei 4:1, liegt ein Dopingverdacht vor, den die Analytiker durch eine Isotopen-Analyse sicher eingrenzen. Aber es gibt Menschen, denen das Enzym zum Testosteron-Abbau fehlt. Diese Menschen bekommen selbst bei hohen Gaben künstlichen Testosterons keine erhöhten Werte. Vor allem trifft das auf Fernasiaten zu - laut Studie sieben Mal mehr als auf Europäer. Demnach haben 65 bis 70 Prozent aller Asiaten die genetische Anlage zum Dopen. Gentests oder individuelle Steroid-Profile könnten Werkzeuge gegen die Ungewissheit sein.
Auch aus dem Radsport kamen Nachrichten, die zeigten, dass die Dopingszene immer noch eine große Lobby hat: Mitte April erklärte der Ansbacher Jörg Jaksche seine Karriere für beendet. Der Radsport verliert damit einen der aussagekräftigsten Kronzeugen, den er je hatte. Zehn Jahre lang hatte Jaksche im Systemzwang des Profiradsports mitgedopt, hatte sich den szeneüblichen Gesetzen der Omertà verschrieben und schwieg auch noch hartnäckig, als er schwer belastetet war.
Er legte schließlich doch ein Geständnis ab, erst im "Spiegel", später beim Bundeskriminalamt, und gab viele wertvolle Hinweise. Dafür bekam er Strafnachlass. Jaksche wäre Ende Juni 2008 wieder startberechtigt. Aber in der Szene wollte ihn keiner mehr haben. Der Dopingenthüller hat es sich mit den Protagonisten des Dopingsports verscherzt. Als auch noch der deutsche Rennstall Team Milram eine baldige Anstellung ablehnte, gab Jaksche auf. Genau an dem Tag, an dem auch bekannt wurde, dass Ivan Basso, Gewinner der Italien-Rundfahrt 2006, ebenfalls als Kunde des spanischen Blutpanschers Eufemiano Fuentes enttarnt, bis Oktober gesperrt, allenfalls halberzig kooperativ mit den Behörden, einen Vertrag bis 2010 beim Team Liquigas unterschrieben hatte.
Das Zeichen ist klar: Kaum einer im Radsport will wirklich den Kampf gegen die Hintermänner des Drogenschmuggels. Niemand will sich zu tief in seine Vergangenheit leuchten lassen, nach all dem was passiert ist - im deutschen Radsport. Ein Enthüllungsbuch des früheren Masseurs Jef D'hont über Dopingpraktiken beim deutschen Rennstall Team Telekom/T-Mobile löste eine Lawine aus, die wie die Neuerfindung der Ehrlichkeit über der unheilbar radsportvernarrte Nation niederging. Selbst Rolf Aldag und Erik Zabel gestanden Blutdoping. Die Freiburger Sportärzte Andreas Schmid und Lothar Heinrich räumten es ein. Olympia-Arzt Georg Huber gab zu, einst mit Testosteron nachgeholfen zu haben.
Mittlerweile ist T-Mobile ausgestiegen aus dem Radsport, und Kapitel um Kapitel schreibt sich die Doping-Geschichte fort. Entlastet wird dabei eher selten. Die Staatsanwaltschaft Bonn hat das Strafverfahren gegen den früheren Radhelden Jan Ullrich eingestellt. Ullrich zahlt eine sechsstellige Summe, die er "kein Schuldeingeständnis" nannte und ist nicht vorbestraft. Aber Oberstaatsanwalt Fred Apostel sagte zum Abschied: "Die Staatsanwaltschaft geht von einem hinreichenden Tatverdacht aus, dass Ullrich Dopinghandlungen unternommen hat." Nur kriminell sei Ullrich eher nicht, weil "davon auszugehen ist, dass Doping im Radsport in starkem Maße verbreitet, dies dem Beschuldigten bekannt und insoweit die Hemmschwelle zur Anwendung verbotener Mittel herabgesetzt war".
Kürzlich legte die unabhängige Kommission zur Aufklärung der Dopingpraxis an der Uniklinik Freiburg ihren Zwischenbericht vor. Die Geständnisse der Ärzte Heinrich und Schmid erklärte sie dabei für lückenhaft und brachte die Einzeltäterthese mancher Freiburg-Freunde ins Wanken, indem sie auch die ehemaligen Freiburg-Mediziner Andreas Blum und Stefan Vogt als Empfänger stattlicher Zahlungen des Teams T-Mobile zu erkennen gab; Blum und Vogt bestreiten, gedopt zu haben. Was wird noch alles ans Licht kommen aus der Breisgauer Sportmedizin, deren Abkömmlinge im ganzen Land als hochrangige Sportärzte arbeiten? Betreffen die Enthüllungen wirklich nur den Radsport?
In der Leichtathletik haben die Enthüllungen um das kalifornische Labor Balco vor Jahren schon das perfide Geschäft des systematischen Dopens offenbart. Und doch steht der Fall mehr denn je für die Scharade des Spitzensports. Jahrelang war die US-Sprinterin Marion Jones, in Sydney 2000 als dreifache Olympiasiegerin gefeiert, vehement für ihre Unschuld eingetreten. 160 negative Testergebnisse waren Teil ihrer Beweisführung. Zur Zeit sitzt sie im Gefängnis. Wegen Meineids. Als sie kein Geld mehr hatte für eine starke anwaltliche Verteidigung, gestand sie. Sie hatte eben doch gedopt. Die Lehre daraus? Sportlerbekenntnisse und negative Tests sagen nicht viel über die Reinheit des Athleten. Und diese Lehre verfolgt einen auch beim Blick auf einen weiteren brisanten Fall.
Die österreichische Staatsanwaltschaft geht seit einigen Wochen einer anonymen Anzeige nach, die im Zusammenhang mit Dopingvorwürfen gegen die Wiener Blutbank Humanplasma steht. In der Anzeige sind auch zehn frühere und aktuelle deutsche Biathleten als Zeugen genannt. Ob wirklich ein Vergehen vorliegt, ist noch längst nicht klar, und natürlich entfachte die Anzeige zunächst eine ordentliche nationale Empörung. Es gab Unschuldsbekundungen und Eidesstattliche Versicherungen vom Deutschen Skiverbandes. Aber der Verdacht ist in der Welt, dass auch einige sympathische Protagonisten des deutschen Nationalwintersports ihr Blut auffrischen ließen. Und er wirkt keineswegs abwegig - im Sport der verlorenen Glaubwürdigkeit.
Der Autor ist Sportredakteur bei der
"Süddeutschen Zeitung" in München.