GEWALT
Sport ist ein »Reservat der Männlichkeit«. Er schafft künstliche Konflikte, die häufig mit Fäusten ausgetragen werden. Das war allerdings schon immer so
Seit der Antike existieren Spiele auf Leben und Tod. "Die Athleten der ersten Olympischen Spiele hatten wenig Regeln, Anstand und Hemmungen", erzählt Gunter Gebauer, Philosoph und Sportsoziologe an der Freien Universität Berlin. Wenn keine Kriege stattfanden, wurde ausgiebig Sport getrieben, mit Mitteln, die aus Kriegen bekannt waren. Bereits 450 Jahre vor Christus randalierten Zuschauer im Stadion von Delphi. In Pompeji musste Kaiser Nero das Amphitheater schließen, von den Massenkrawallen im Mittelalter ganz zu schweigen. Es verging keine Phase in der Geschichte, in der Sportstätten nicht auch Schauplätze von Gewalt waren.
Daran ändert auch der Zivilisierungsprozess der vergangenen Jahrhunderte nichts. Die Gesellschaft hat die Gewalt durch Repression von Jahrzehnt zu Jahrzehnt zurückgedrängt. "Gewalt hat sich in innere Zwänge verwandelt", sagt Gebauer. "Hin und wieder können diese Triebe hervorbrechen. Viele Männer leben ihre Spannungen in Reservaten der Männlichkeit aus."
Der Sport bietet solche Reservate, vor allem der Fußball. Die Verhaltensregeln in den Stadien unterscheiden sich von den alltäglichen. Die Grätsche, das Foul, die erlaubte Gewalt auf dem Spielfeld, ist eingebettet in Männlichkeitsrituale. "Der Fußball bietet künstliche Konflikte, er ist ein ständiges Ringen zwischen Freisetzung und Beherrschung", sagt Gebauer. Doch warum werden härtere Sportarten wie Rugby oder Boxen nicht von Ausschreitungen auf den Tribünen begleitet? "Für Rugby- oder Boxzuschauer gibt es keinen Grund, sich nach den Veranstaltungen weiter zu schlagen", beschreibt Gebauer. "Sie haben genug Gewalt gesehen. Wo beim Fußball die Grenzen sind, geht es bei den Hooligans erst richtig los."
Ihren Ursprung hat die Hooligan-Bewegung im England der 1960er-Jahre. Die Arbeiterklasse, gebeutelt durch die schwindende Industrie, rang um Anerkennung. Passive Unterhaltung, Museen oder Bibliotheken, war den jungen Männern fremd, sie selbst wollten die Initiative ergreifen, in den Pubs und in den Stadien. Die so genannten Firms, die berüchtigten Hooligangruppen, pflegten den englischen Nationalismus, ihre Stadionkurven und Mannschaften verteidigten sie wie einen unbezahlbaren Schatz, notfalls mit ihren Fäusten.
Die 1980er-Jahre gingen als das blutigste Jahrzehnt in die Geschichte des Fußballs ein, fast 200 Menschen kamen in englischen Stadien ums Leben. Erst die Regierung von Premierministerin Thatcher berief eine Kommission ein: Stehplätze und Zäune mussten aus den Stadien verschwinden, Notausgänge erweitert werden. Durch Kamerasysteme konnten Krawallmacher ausgemacht und für Jahre verbannt werden. Bei internationalen Spielen wurden Reisepässe der Gewalttäter eingezogen und Meldeauflagen verhängt. Während der WM 2006 in Deutschland mussten rund 3.500 Engländer auf der Insel bleiben.
Ähnliche Fortschritte vollzogen sich auch in den Niederlanden und in Deutschland. Mitte der 1980er-Jahre war die Bewegung der Hooligans aus Britannien nach Mitteleuropa geschwappt. In Berlin, Frankfurt, Köln und Dortmund hatten sich schlagkräftige Gruppen gebildet, aus allen sozialen Schichten äußerten junge Männer ihre Alltagsspannungen, Frustrationen und Ressentiments. Sie prügelten sich aus Spaß und gaben sich unpolitisch. Erst mit dem Nationalen Konzept Sport und Sicherheit (NKSS) trat 1992 eine sinnvolle Gegenmaßnahme in Kraft. Sozialpräventive Fanprojekte wurden gegründet, inzwischen sind es hierzulande 39. In diesem Jahr erhalten sie insgesamt etwa 4 Millionen Euro von Kommunen, Ländern und dem Deutschen Fußball-Bund (DFB). Die Stadien wurden vor der WM 2006 für fast 2 Milliarden Euro neu gebaut oder modernisiert. Seither können Kameras nahezu jeden Winkel ausleuchten.
"Gelöst ist das Gewaltproblem jedoch nicht", entgegnet Gunter A. Pilz, Fanforscher der Universität Hannover. "Es hat sich nur verlagert." Die Hooligans treffen sich nun zumeist in der Abgeschiedenheit, in Waldgebieten oder geschlossenen Industrieanlagen, oft unter der Woche, losgelöst vom Spielgeschehen: Aus den Hooligans sind moderne Straßenkämpfer geworden.
Anders ist die Lage im deutschen Osten. Einst erfolgreiche Traditionsvereine der ehemaligen DDR wie Dynamo Dresden, Lokomotive Leipzig oder der Hallesche FC sind nach der Wende tief gestürzt, ihre Fanscharen sind nach wie vor groß. So mischt sich die Wut der Anhänger über den sportlichen Niedergang mit der Enttäuschung über soziale Probleme; in Städten und Gegenden, in denen Arbeitslosigkeit und der Einfluss der NPD sowie von rechtsextremen Kameradschaften ausgeprägter sind als in den alten Bundesländern. "Die Rechten schaffen sich eine eigene Infrastruktur", sagt Martin Gerster, Sportausschuss-Mitglied im Bundestag und Sprecher der SPD-Arbeitsgruppe Rechtsextremismus. Jugendzentren oder Seniorengruppen werden geschlossen, rechte Gruppen stoßen auf subtile Weise in das Vakuum. "Auch den Fußball nutzen sie als Köder", berichtet Gerster. Im thüringischen Hildburghausen haben NPD-Funktionäre zum Beispiel einen Freizeitverein gegründet. So scheint der Fußball kein Spiegelbild der Gesellschaft zu sein, sondern ein Brennglas, in dem politische Trends verschärft wahrgenommen werden.
Die Grenzen zwischen Schlägern und Rassisten sind fließend, viele distanzieren sich jedoch voneinander, daher verbietet sich eine Pauschalisierung. Anders ist die Lage in Italien, wo gewaltbereite Fans zurzeit die größten Probleme verursachen. Immer wieder kommen Polizisten oder Fans ums Leben. Fangruppen beeinflussen die Politik der Vereine, verhindern Verpflichtungen farbiger Spieler und erpressen Freikarten, um sie weiterzukaufen. Italien bietet das deutlichste Beispiel dafür, dass die politischen Hintergründe einen großen Einfluss auf das Klima im Sport haben. Ähnlich sieht es in Teilen Osteuropas oder in Südamerika aus.
"So etwas wäre in Deutschland undenkbar", sagt Helmut Spahn, der Sicherheitsbeauftragte des DFB. "Allerdings haben auch wir Probleme, die wir nicht verharmlosen dürfen." Die Bewegung der so genannten Ultras, die ihren Ursprung in einer linken Protestbewegung in den 1960er-Jahren Italiens hatte, gewinnt seit Mitte der 1990er-Jahre auch in Deutschland an Einfluss. Fast jeder Verein in den ersten drei Ligen wird von Ultras unterstützt, die die Bewahrung der klassischen Fankultur als oberstes Ziel haben. Doch sie sorgen nicht nur für aufwendige Choreografien und Konfettiregen. Im vergangenen Jahr verletzten Ultras des FC Bayern eine Frau auf einer Autobahnraststätte schwer. Vor zwei Monaten sorgten Ultras des 1. FC Nürnberg in Frankfurt fast für einen Spielabbruch.
Sind Ultras die Hooligans der Zukunft? "Das hängt von den Freiräumen ab, die man ihnen gewährt", sagt Fanforscher Pilz. Für Hooligans ist Gewalt eine lustvolle Kompensation des Alltags, für Ultras ist sie Mittel zum Zweck und eine Reaktion auf die Einschränkung der Polizei. Doch können sich Ultras hier wie in Italien radikalisieren und die Politik in den Vereinen beeinflussen? In Hamburg, Köln und Mönchengladbach übten einige Druck gegen erfolglose Spieler aus, in Dresden drohten einige der Mannschaft Prügel an. Pilz bezeichnet die Mischform zwischen Hooligan und Ultra als Hooltra. Gelöst ist das Gewaltproblem also nicht, oder, wie der Philosoph Gunter Gebauer formuliert: "Im Fußball liegt eine zerstörerische Kraft."