WISSENSCHAFT
Schnellere Bobs, schmalere Boote - im Berliner Institut für Forschung und Entwicklung von Sportgeräten (FES) wird der Erfolg technisch geplant
Er will Ingenieur werden. Solche Leute tüfteln gern. Insbesondere, wenn sie zu Olympia wollen und ein "unkoordinierter Möchtegernathlet" sind, wie Richard Douglas Fosbury über sich urteilt. Mit 1,93 Meter Körpergröße ist er wie geschaffen für den Hochsprung. Doch 2,10 Meter als Bestleistung: Damit reißt man nicht viel bei Olympia, wenn der Weltrekord bei 2,28 Metern liegt - höchstens die Latte. Also lässt sich "Dick" was einfallen und arbeitet zum Unmut seines Trainers an einer neuen Technik. "Besser wäre es, wenn du zum Zirkus gehen würdest", rät ihm Coach Bernie Wagner. Den Vorschlag ignoriert Fosbury und gewinnt kurzerhand die USA-Olympiaausscheidung, mit 2,18 Meter, mittels neuartiger Lattenüberquerung.
In Mexiko ist es dann wahrlich wie im Zirkus. "Olé" rufen die Zuschauer bei jedem seiner Versuche. Und die haben es in sich. Statt mit dem klassischen Bauchwälzer, dem "straddle", segelt er rücklings über die Querlatte und springt höher, als es ihm die Kopf schüttelnde Fachwelt zutraut. Als er dann mit 2,24 Meter Olympiasieger wird, schwant den Meisten: Fosbury's "Flop" ist keiner. Eine neue, revolutionierende Technik ist geboren. Letzte Zweifel schwinden, als Ulrike Meyfarth für Deutschland Olympiagold in München holt - mit 16. Es ist eine Lehrvorführung. Die Meisten entern die Latte noch vornüber, Meyfarth dagegen rücklings. Mit 1,90 Meter über-"flopt" sie die Straddle-Konkurrenz und lässt, als sie den Olympiasieg sicher hat, Weltrekordhöhe auflegen. Die Latte bleibt liegen.
Vielleicht wären die aktuellen Hochsprung-Weltrekorde von 2,09 Meter bei den Frauen und 2,45 Meter bei den Männern ohne Fosburys Tüfteleien noch nicht existent. Aber wahrscheinlich ist das nicht. Irgendein Biomechaniker hätte sicher wenig später herausgefunden, welches beim vorliegenden, knapp gehaltenen Regelwerk (einbeiniger Absprung) die beste Technik ist, um eine Hochsprunglatte zu überqueren. Unvorhergesehene Quantensprünge, wie die vom experimentierfreudigen Vermessungsingenieur Fosbury hervorgerufen, sind heute eigentlich nicht mehr zu erwarten, angesichts der Heerscharen an Trainings- und Bewegungswissenschaftlern, Sportmedizinern, Sportinformatikern, Physikern, Mathematikern, also der Sportwissenschaftler, die seit Jahrzehnten den Hochleistungssport begleiten. Im Computerzeitalter geht es oft um minimale Verbesserungen. Selten noch werden völlig neue Bewegungsmuster zur siegbringenden Technik. Bevor ein Turner eine neue waghalsige Figur am Reck ausprobiert, hat er sie schon am Rechner vorgeturnt. Simulationen eröffnen neue Möglichkeiten, sparen Geld, weil manchmal aufwendige und daher teure Praxistests entfallen.
Wie zum Beispiel in Berlin-Schöneweide, am Institut für Forschung und Entwicklung von Sportgeräten, kurz FES genannt. Seit Anfang der 60er-Jahre sind hier Ingenieure und Wissenschaftler unter einem Dach vereint, um Sportlern bestmögliche Geräte zur Verfügung zu stellen.
Mittlerweile geht es um Nuancen, deren Auswirkungen gigantisch sein können, wenn viel Technik, Wind und Wetter sowie ein kompliziertes Regelwerk den Wettkampf eingrenzen. Etwa im Bobsport. Das FES ist so etwas wie die Medaillen-Schmiede der rasenden Zigarren. Nur: Eine Teststrecke in Schöneweide an der Spree? Schön, dass es mittlerweile Computerprogramme gibt, die Aussagen darüber treffen können, ob Ideen praxistauglich sein könnten. Gewissheit bringt aber auch das nicht immer. Die gibt es manchmal erst im Wettkampf. Über eine "Körpersimulation" hätten sich 1976 vor den Olympischen Spielen in Montreal die westdeutschen Schwimmer sicher gefreut. 250.000 D-Mark sind vereinbart, für eine nicht nachweisbare Substanz im Sportlerkörper, die den Leistungen der Schwimmer mächtig Auftrieb geben sollte - Luft. Verabreicht in den Darm, soll sie eine bessere Wasserlage bescheren. Die Praxistests verlaufen wenig Bahn brechend. Luftvoll sind nur noch wenige Athleten, als sie ins Wasser springen. Und andauernder Druckabfall führt dazu, dass auch der vermeintliche Vorteil rapide sinkt. Ob es luftigen Vortrieb gibt, ist nicht überliefert. Fakt ist nur: Das ging mächtig in die Hose.
Aber vielleicht wurde die ethisch fragwürdige Methode bereits ohne unser Wissen genutzt. Denn ständige Entwicklung bringt neue Ideen, Werkstoffe und Möglichkeiten, um alte Überlegungen umzusetzen - wie den Klappschlittschuh. "Eine Idee von 1898 aus Holland", erläutert Harald Schaale, Institutsdirektor des FES, als ein Exponat nebst Sportler-Autogramm in seinem Büro bewundert wird. Damals gab es keine Werkstoffe, um den Klappmechanismus so zu bauen, dass er effizient funktioniert. Fast 100 Jahre später schon: Mit Einführung des neuen Schuhs purzeln Rekorde und es gibt eine neu zu erlernende Technik. Der Klappschlittschuh erfordert eine andere Fahrweise. Ein Beispiel, wie die Maschine im Sport den Mensch beeinflusst. Meist ist es umgekehrt. Aber eigentlich ist das zweitrangig. Es geht um das "Gesamtsystem Mensch-Maschine", das hochkomplex ist, so Schaale. Am Ende muss der Sportler mit seinem Gerät optimale Leistungen erbringen: Das ist der Plan. In Schöneweide sitzt die ingenieurwissenschaftliche Seite, die diesen umzusetzt. Boots- und Schiffbauer geben beispielsweise gerade dem Olympia-Ruder-Vierer für Peking den letzten Schliff. Aber Peking 2008 ist schon Geschichte. Vancouver 2010 ist hoch aktuell, London 2012 wird geplant. Über Sotschi 2014 wird bereits diskutiert. Wie sind die Bedingungen vor Ort? Heißer Sommer, viel Wind, kalte Winter, wie ist die Bahn und, und, und. Im "technologischen Zentrum" FES gibt es einen ständigen Austausch mit den Natur- und Ingenieurwissenschaftlern, Elektronikern, Physikern, den Sporthochschulen in Köln und Leipzig, um sich dem Optimum zu nähern. Es ist ein sich ständig erneuerndes Netzwerk an Spezialisten, das gebraucht wird, um die strategische Ausrichtung im Einzelnen letztlich zu bestimmen. Es ist Teamwork zwischen Athlet, Wissenschaft und Ingenieurskunst. Dafür stellt das Bundesministerium des Innern dem FES 3,5 Millionen Euro jährlich zur Verfügung. Eine Summe, die nicht üppig scheint, bei insgesamt 14 Sportarten, die in Schaales Haus betreut werden.
Höchstleistungen werden schon lange generalstabsmäßig geplant, Olympiasiege quasi am Reißbrett entworfen. Das ist Praxis im weltumspannenden Hochleistungssport. Doch nach wie vor gibt es sie: Zufälle, die Sportarten verändern und Athleten berühmt machen. Wie den bis dato unbekannten Schweden Jan Bokloev, der beim Training zu stürzen droht, instinktiv die Ski auseinander reißt und plötzlich ein Luftpolster, das Auftrieb verschafft, spürt. Und so die Bruchlandung abwendet. Jahre und hunderte Übungsstunden später gewinnt er 1988/89 den Skisprung-Weltcup. Dank des zufälligen Luftpolsters fliegt einfach viel weiter als die Konkurrenz.
Der Autor ist freier Journalist in Berlin.