Moderne Grossmacht
Mit den Sommerspielen möchte China aus dem Schatten seiner Vergangenheit heraustreten
Yi, er, san", "eins, zwei, drei", hallt es durch die Turnhalle der Yangfandian-Schule im Westen Pekings. Mit strenger Mine gibt eine junge Lehrkraft den Takt vor. 50 Mädchen und Jungen in roten Trikots beginnen rhythmisch zu klatschen und zu brüllen.
Die Kinder üben keine sozialistischen Parolen, sondern Anfeuerungsrufe für Athleten: "Das heilige olympische Feuer strahlt; das Licht sendet Träume in die Welt; mögen die Olympiasportler noch brillantere Leistungen vollbringen." Was in der Übersetzung gestelzt klingt, kommt im chinesischen Original durchaus gut rüber.
Doch die Lehrerin ist nicht zufrieden. "Mehr Begeisterung", fordert sie. Die Schüler haben große Pläne: Sie wollen im August in den Stadien der Hauptstadt Sportler aus aller Welt zu Höchstleistungen anfeuern. Dafür gehen sie zum Olympiaunterricht.
Der Jubelkurs für Kinder ist Teil einer großangelegten Kampagne, den olympischen Geist in alle Winkel des Reichs der Mitte zu tragen. Wenn am 8. August die Sommerspiele im neuen Nationalstadion eröffnet werden, soll ganz China auf Olympia eingeschworen sein, soll Peking in neuem Glanz erstrahlen. Dafür wird nichts dem Zufall überlassen.
So wollen Chinas Meteorologen mit allen Mitteln - etwa mit Silberjodpatronen - verhindern, dass die Eröffnungszeremonie von Regenschauern vermasselt wird. Botaniker haben Blumen gezüchtet, die selbst im heißen August blühen. Und Pekings Bürgern wird in Benimmkampagnen Spucken und Drängeln ausgetrieben. Tausende von Taxifahrern pauken zudem Englisch - wenn auch nur mit mäßigem Erfolg. Schon lange geht es nicht mehr nur um die Ausrichtung eines sportlichen Großereignisses. Unter dem Motto "Eine Welt, ein Traum" will sich das Reich der Mitte auch als neue, moderne Großmacht präsentieren.
"Die Olympischen Spiele sind ein Symbol für China und die Chinesen", sagt Professor Liu Liqun von der renommierten Akademie für Sozialwissenschaften. Mit Olympia trete China endlich aus dem Schatten seiner Geschichte heraus: Nach der Demütigung durch den Westen im 19. Jahrhundert, später durch die Japaner im Zweiten Weltkrieg, nach den Jahren der Isolation unter Mao "wird China jetzt endlich von der Welt anerkannt - auf gleicher Ebene", erläutert Professor Liu.
Dafür stemmt Peking einen gewaltigen Kraftakt. Die 17-Millionen-Metropole hat sich in den vergangenen Jahren im Eiltempo modernisiert. Weniger als drei Monate vor Beginn der Spiele wird immer noch hektisch gebaut - neue U-Bahnlinien, neue Wohnblöcke, neue Einkaufszentren. Für das größte Sportereignis der Welt sind spektakuläre Bauten entstanden - wie das imposante Stahlgeflecht des Nationalstadions, "Vogelnest" genannt, das bereits jetzt zum Wahrzeichen geworden ist.
Nicht alle sind davon begeistert. Der Künstler Ai Weiwei, der das Stadion mitentworfen hat, gehört in Peking zu den wenigen, die offen ihre Meinung sagen. Man baue eine Welt der Illusionen auf, moniert der bärtige 50-Jährige in seinem versteckten Atelier im Galerieviertel. Es gehe immer nur ums Image: "China hat enorme Probleme. Da darf man nicht einfach die Olympischen Spiele benutzen, um nur den Glamour zu zeigen - das ist einfach nicht die Wahrheit."
Aber im vorolympischen Propaganda-Getöse gehen Leute wie Ai Weiwei unter. In den staatlich kontrollierten Medien kommt er nicht zu Wort. Der bunte Vogel der Kunstszene weiß genau, wie weit er gehen darf, ohne Schwierigkeiten zu bekommen.
Wer den Mund zu weit aufmacht, bekommt es mit der Staatssicherheit zu tun. Bürgerrechtler haben in den vergangenen Monaten massive Repressalien erlebt. Entgegen allen Vesprechungen habe China bei der Respektierung der Menschenrechte keine Fortschritte gemacht, kritisiert Mark Allison von Amnesty International in Hongkong. Im Gegenteil: "Aktivisten wie der Dissident Hu Jia sind eingesperrt worden, gerade weil sie einen Zusammenhang zwischen den Spielen und den Menschenrechten hergestellt haben."
Man dürfe die Spiele nicht politisieren, betonen hingegen die Organisatoren. "Die Spiele gehören nicht nur Peking, sondern der ganzen Welt", sagt Weng Hui, Sprecherin des Organisationskomitees Bocog. Boykottaufrufe etwa seien "unfair" und "unangemessen".
Gerade seit der Krise in Tibet scheint China entschlossener denn je, sich die Olympia-Party nicht verderben zu lassen. Gedämpft wird die Euphorie jetzt durch das schwere Erdbeben im Südwesten, das die Kräfte im gesamten Land absorbiert. Zuvor hatte die ausländische Kritik an China eine geradezu trotzige Gegenreaktion hervorgerufen. Aufgestachelt von den anti-westlichen Tönen der staatlichen Propaganda blüht Nationalismus auf. "Hand in Hand begrüßen das Militär und das Volk die Olympischen Spiele", heißt es auf gigantischen Plakaten in Peking. Überall wird für Olympia und die nationale Einheit getrommelt. "Mit Herz, Verstand und Geist dienen", lautet der Slogan in Pekinger Wohnsiedlungen.
Auch innenpolitisch sind die Spiele mehr als ein Sportwettkampf. Sie sollen im bevölkerungsreichsten Land der Welt ein Wir-Gefühl erzeugen. In Zeiten wachsender sozialer Spannungen und rasch steigender Preise schweißten die Spiele das Land zusammen, hat China-Experte David Zweig beobachtet. Dass China in der Lage ist, das Mega-Ereignis zu stemmen, werde bereits als großer innenpolitischer Erfolg gewertet. "Damit zementiert die Kommunistische Partei ihren Führungsanspruch", sagt der Professor von der Hongkonger Universität für Wissenschaft und Technologie.
Dabei bedarf es zumindest in Peking keiner olympischen Überzeugungsarbeit mehr. Die meisten Bürger sind stolz, dass ihre Stadt die Spiele ausrichten darf. "Die Olympischen Spiele sind eine Ehre für ganz China und für Peking", freut sich Pendler Zheng (54), der an der U-Bahnstation Dongzhimen auf einen Zug wartet. "Die Entwicklung der Stadt wird durch die Spiele um 30 oder 50 Jahre beschleunigt."
In der Tat hat die Stadt, die als eine der dreckigsten der Welt gilt, gewaltige Anstrengungen unternommen. Vor allem um den Smog in den Griff zu bekommen.
Die alten, knatternden Xiali-Taxis und die dieselbetriebenen Gelenkbusse sind von den Strassen verschwunden und durch umweltfreundliche Fahrzeuge ersetzt worden. Dreckschleudern wie das gigantische Stahlwerk Shougang wurden ins Umland verlegt.
Pekings Olympiaorganisatoren schmücken sich gerne mit solchen Erfolgen. "Die Menschen in Peking haben gewaltig von den Vorbereitungen zu den Spielen profitiert", sagt Vizebürgermeister Liu Jingmin. Aber das große Aufräumen vor der Eröffnungsfeier macht vor nichts und niemandem halt. Millionen von Wanderarbeitern, ohne die die spektakulären Olympiabauten nie entstanden wären, fürchten, dass sie die Stadt vor August verlassen müsssen. Ihre armseligen Gestalten passen nicht zum Bild vom neuen China. Unfertige Bauten werden hinter Mauern und Plakatwänden versteckt. Mit strengen Visavorschriften will man den Besucherstrom kontrollieren. Jeder Protest während der Spiele soll unterbunden werden.
Ob die perfekten Spiele gelingen, bleibt dennoch offen. Denn Chinas Kritiker werden all diese Maßnahmen kaum zum Schweigen bringen. China habe sich das teilweise selbst eingebrockt, sagt Professor Zweig. Von Anfang an, seien die Spiele politisch überfrachtet worden. "Für China sind die Spiele eine große Coming-out-Party", sagt Zweig, sie seien der Höhepunkt der Öffnungspolitik, die vor 30 Jahren begonnen hat. "Aber wenn man Besucher in sein neues Haus einlädt, muss man auch damit rechnen, dass sie in die schmutzigen Ecken hinterm Sofa gucken."