Indonesien
Zehn Jahre Demokratie - eine Zwischenbilanz
"An Indonesien wird sich zeigen, ob Islam und Demokratie miteinander kompatibel sind", sagt Budiman Sujatmiko. Der ehemalige Studentenführer saß wegen seiner pro-demokratischen Aktivitäten unter dem Militärregime des früheren Diktators Suharto mehrere Jahre im Gefängnis. Einige seiner Freunde haben ihre Verhaftung nicht überlebt. Gekleidet in ein Batikhemd empfängt er seine Gäste heute im feudalen Büro der Demokratischen Partei Indonesiens (PDI-P), für die er bei den Wahlen im kommenden Jahr ins Parlament ziehen will. "Formal haben wir den Übergang zur Demokratie bereits geschafft: Wir haben ein Multiparteiensystem, ein Verfassungsgericht und der Präsident wird direkt vom Volk gewählt. Was uns allerdings noch fehlt, ist ein demokratischer, multikultureller Geist, der für einen Wohlfahrtsstaat mit sozialer Gerechtigkeit notwendig wäre - sowie eine Aussöhnung mit der Vergangenheit."
Zehn Jahre alt ist die Demokratie im Land mit der größten muslimischen Bevölkerung der Welt. Am 21. Mai 1998 trat der damalige Präsident Suharto zurück, nachdem Studenten im ganzen Land wochenlang "Reformasi" gefordert hatten - eine Erneuerung des politischen Sys-tems nach mehr als 30 Jahren autoritärer Herrschaft der Militärs. Die Protestbewegung formierte sich im Laufe der Wirtschaftskrise, die das korrupte Militärregime seit 1997 stark geschwächt hatte.
Seit dem Rücktritt des kürzlich verstorbenen Suharto hat sich Indonesien formal gesehen zwar in eine Demokratie verwandelt. Dennoch geht es in der täglichen Praxis oft nicht sehr demokratisch zu. Fast die Hälfte der Bevölkerung muss von höchstens zwei Dollar am Tag leben und hat nur sehr eingeschränkten Zugang zu den ohnehin maroden Gesundheits- und Bildungssystemen. Vor allem die allgegenwärtige Korruption verhindert einen Rechtsstaat in unserem Sinne: Wer genug Geld hat, kann Gerichte bestechen, Gesetze beugen und Genehmigungen für fast jedes noch so umstrittene Unternehmen bekommen. Oder sich Pos-ten in politischen Parteien kaufen.
"Die Reformasi hat zu vielen Gesetzesänderungen geführt, leider jedoch häufig nur auf dem Papier", sagt Karlina Leksono Supelli, damals einer der führenden Köpfe der "Bewegung"; heute lehrt sie an der Philosophischen Hochschule Driyarkara in Jakarta. Sie nennt als Beispiele die ungesühnten Menschenrechtsverbrechen des Militärs unter Suharto: Hunderttausende politischer Gefangener, die Wiedergutmachung verlangen; Entführungen, Folterungen und Morde an Regimegegnern, deren Schicksal oft bis heute unaufgeklärt ist; brutale Unterdrü-ckung von Unabhängigkeitsbewegungen in Osttimor, Aceh und Papua auf Kosten der Zivilbevölkerung. "Ich fürchte, dass unser Land nach außen inzwischen so demokratisch aussieht, dass keiner mehr darauf schaut, was hinter den Kulissen passiert. Das Ausland bewertet den Standard einer Demokratie vor allem nach dem Verlauf der Wahlen. Eine formale Demokratie reicht aber nicht, solange die Korruption nicht wirklich unter politischen Druck gerät."
Viele ehemalige Reformasi-Aktivisten sind enttäuscht von der Entwicklung ihres Landes und haben sich aus der Politik zurückgezogen. Weder die Studenten noch die intellektuelle Elite waren wirklich auf den politischen Prozess vorbereitet, der auf den Umstutz Suhartos folgte. "Bei all den Forderungen nach Demokratisierung hatte unsere Bewegung ganz vergessen, sich darüber Gedanken zu machen, wie man ein Land regiert. Die Reformer haben es nicht geschafft, den von ihnen geöffneten Raum zu füllen. Am Ende blieb nur das alte Lager übrig: Es ist eine Tragödie der verpassten Chance", bemerkt Budiman Sujatmiko.
Um seine eigene Chance nicht zu verpassen, trat der Mitbegründer der linken Demokratischen Volkspartei (PRD) vor einigen Jahren in die etablierte PDI-P ein. Nur mit Hilfe bereits vorhandener Strukturen könne er im Land etwas bewegen, sagt er. Tatsächlich sind die Seilschaften aus dem System Suharto keineswegs schwächer geworden - auch nicht nach dem Tod des Despoten, der im Januar dieses Jahres trotz laufender Gerichtsprozesse gegen ihn ein Staatsbegräbnis erhielt. Angesichts des anstehenden Wahlkampfs traut sich kein Politiker heikle Themen wie die Aufklärung der Menschenrechtsverbrechen anzufassen. "Die haben alle Angst. Man stelle sich vor: Diejenigen, die die Verantwortung für diese Verbrechen tragen, wollen bei der Wahl im kommenden Jahr alle Präsident werden!", sagt der Jesuitenpater Sandyawan Sumardi, der im Land für seinen unermüdlichen Einsatz für politisch Verfolgte bekannt ist.
Mit Sorge betrachtet er die Entwicklung des Islams im Vielvölkerstaat Indonesien. Einflüsse aus dem Nahen Osten propagieren zunehmend einen "reinen" Islam im Gegensatz zu dem mit alten Traditionen vermischten, moderaten Islam, den die meisten Indonesier praktizieren. "Keine Religion kann ohne ihren kulturellen Zusammenhang gesehen werden. Unser künftiges Hauptproblem ist daher nicht der Konflikt zwischen Islam und Christentum, sondern zwischen Islam und Islam", erklärt der Pater, der selbst in einem rein muslimischen Armenviertel lebt, in dem er eine alternative Schule betreibt. "In Indonesien neigt die Religion dazu, die Demokratie zu stören - vor allem weil, sie sich als Glaubensinstitution in Politik und Wirtschaft einmischt. Am Ende kann man nicht mehr zwischen Religionsgemeinschaften und politischen Parteien unterscheiden. Dieses Land ist noch weit entfernt davon, eine Demokratie zu sein."