Nur noch ein paar Tage, dann werden einige völlig unbekannte Parteien in den Bundestag einziehen: Die APD und die KVP, die LRP, die PSG und die ÖSP. Sie werden im Reichstag ihre Repräsentanten wählen und sich über Gesetzesvorhaben beugen. Die Entscheidungen, die sie treffen, werden jedoch keinerlei Einfluss auf die Bundesrepublik Deutschland haben. Die Abstimmenden sind nämlich erst 16 bis 20 Jahre alt und auf Einladung des Bundestages bei der Veranstaltung "Jugend und Parlament" zu Gast in Berlin. 300 Jungen und Mädchen aus ganz Deutschland werden vier Tage lang die Rolle eines Abgeordneten übernehmen - und von der Wahl des Fraktionsvorsitzendem bis zur dritten Lesung eines Gesetzentwurfs Politikalltag im Schnelldurchlauf erleben.
Im Büro von Kay Wahlen stehen schon jetzt alle Zeichen auf Besuch: Das Telefon klingelt, das Fax rattert, das Mailprogramm piept. Jeder Jugendliche kommt auf Einladung eines echten Volksvertreters - was bedeutet, dass erst 300 Abgeordnete Namen durchgeben und Nachfragen stellen und anschließend aller Kandidaten kontaktiert, eingeladen, angemeldet und mit der richtigen Bahnkarte versehen werden müssen. Wen die Parlamentarier melden, ist ihnen überlassen. "Die Wege sind ganz verschieden", sagt Wahlen, der beim Besucherdienst des Bundestags für "Jugend und Parlament" verantwortlich ist. "Funktionäre der Jugendorganisationen sehen wir hier ebenso wie Kandidaten, die mithilfe einer kleinen Ausschreibung in der Lokalpresse gefunden wurden."
In Berlin erwartet die Jugendlichen ein erstaunlich realitätsnahes Programm. Bei ihrer Ankunft wird ihnen eine Fraktion zugelost. Nach einer Kennenlernphase wählen sie Fraktionsvorsitzende und Schriftführer und verteilen sich auf die Ausschüsse. Im nächsten Schritt beschäftigt jeder Jugendliche sich mit einem von vier Gesetzesvorhaben, die von Kay Wahlen und seinem Team für die Initiative entwickelt wurden. "Eines davon",verrät Wahlen, "wird sich mit der Wehrpflicht befassen." Wie die Parteien sind auch die Gesetzentwürfe fiktiv - aber eigentlich nur leicht von der Realität abgewandelt. Letztes Jahr zum Beispiel stand eine Debatte über die EU-Osterweiterung auf dem Programm: Soll Balkonien EU-Mitglied werden oder nicht? Als Hintergrundmaterial bekamen die Jugendlichen echtes Material von Institutionen, Verbänden und aus der Presse - in dem das Land Montenegro fein säuberlich durch "Balkonien" ersetzt worden war. Nach der dritten Lesung waren die Jungparlamentarier kaum vom Verhalten gewählter Profis zu unterscheiden. Die "Regierenden" von KVP (Konservative Volkspartei) und APD (Arbeiterpartei Deutschlands) stimmten für die Aufnahme von Beitrittsverhandlungen; zwei von drei Oppositionsparteien mehrheitlich dagegen. Wie hoch es in Ausschüssen und Plenum herging, daran kann sich die Elise Zerrath (im Bild rechts) noch erinnern. Überraschend war es für die damals 21-jährige Teilnehmerin zu erleben, wie sehr es bei politischen Verhandlungen auf Persönlichkeiten ankommt. "Dass wir Konservative mit den Sozialdemokraten einig wurden, hatte viel mit den Fraktionsvorsitzenden zu tun," erzählt die Studentin der Kulturwirtschaft, "die beiden haben sich einfach verstanden - und sie waren kompromissbereit." Nah am echten Leben zu sein ist auch Sinn und Zweck der Simulation. "Wir wollen wirklich plastisch vermitteln, wie sich Alltag im Parlament anfühlt", erklärt Wahlen, dem dafür ein 17-köpfiges Team zur Seite steht.
Ob die Jugendlichen sich hinterher für eine politische Laufbahn begeistern, ist eher zweitrangig. "Es gibt einige, die danach sagen: Für mich ist das nichts", sagt Wahlen. "Das ist völlig in Ordnung. Entscheidend ist, dass sie nach den Tagen besser verstehen, wie der Bundestag funktioniert." Den meisten macht die Simulation aber so viel Spaß, dass sie gerne länger bleiben würden. Auch Elise Zerrath hat der Besuch im letzten Jahr nicht abgeschreckt. Es hat ihr so viel Spaß gemacht, dass sie dieses Jahr wieder dabei ist: als Praktikantin ist die "Ehemalige" nun vollauf mit der Vorbereitung des parlamentarischen Szenarios für ihre Nachfolger beschäftigt.