Politische Theorie
Über die Bedeutung der Körperlichkeit in Demokratien
Darauf muss man erstmal kommen: "Warum interessieren wir uns für die Haarfarbe Gerhard Schröders oder die Schönheitsoperationen Silvio Berlusconis? Philip Manow antwortet: Weil ein Teil der symbolischen Bedeutung, die ihren Sitz einst im Körper des Königs hatte, in der Demokratie nachlebt, nicht nur im Herrscherkörper, sondern auch im zentralen politischen Körper der repräsentativen Demokratie: dem Parlament." Soweit ein Ausschnitt aus dem Umschlagtext der "Politischen Anatomie demokratischer Repräsentation".
Am Beginn des Weges zum Verständnis dieses Zusammenhangs steht ein Streifzug durch parlamentarische Plenarsäle. Warum optierten die Franzosen nach 1789 für einen Halbkreis, während sich britische Abgeordnete im Parlament gegenüber sitzen? Nach der Enthauptung von Louis XVI. und dem damit einhergehenden Ende der Monarchie trat das Parlament an den Ort der höchsten politischen Macht. Die Nationalversammlung als neues Machtzentrum musste Einheit symbolisieren, was durch die Form des Halbkreises gewährleistet schien.
Für die britische Sitzanordnung hingegen, das Rechteck mit dem Monarchen an der Stirnseite und Bänken für Adel und Klerus an den Längsseiten, gab es keinen Grund zur baulichen Modifikation. Schließlich versinnbildlicht in England bis heute der Monarch die Einheit des Volkes.
Diese Unterschiede und die Genese der Sitzanordnungen des Palais Bourbon und des House of Commons führen den Politikwissenschaftler aus Konstanz zu seiner zentralen These: Gerade in der parlamentarischen Sitzanordnung zeige sich auch heute noch das Nachleben des politischen Körpers. Dieser, der zuvor seinen symbolischen Sitz im Körper des monarchischen Herrschers hatte, siedelt über in sein demokratisches Pendant, das Parlament. Damit wendet sich Manow gegen die in der politischen Theorie weit verbreitete Vorstellung, in der Demokratie sei der Ort der Macht nicht mehr darstellbar, weil das Volk nicht physisch abgebildet werden könne.
Der Vorstellung einer "nach-metaphysischen" (Habermas), entkörperlichten und weitgehend bilderlosen Demokratie tritt Manow entgegen mit weiteren Ausführungen zur Immunität von Abgeordneten, zur Öffentlichkeit parlamentarischer Debatten, zur Diskontinuität des Gesetzgebungsprozesses zum Ende einer Wahlperiode und zur Proportionalität zwischen Repräsentanten und Repräsentierten.
Und die Haarfarbe Schröders und die Schönheitsoperationen Berlusconis? Das Interesse des Herrschers an seinem Körper sowie das Interesse der Öffentlichkeit an der Körperlichkeit des Herrschers (zuletzt: Angela Merkels Dekolleté) zeigen laut Manow: Der Körper des Herrschers ist keineswegs ein normaler Körper. Die Körperlichkeit der politischen Führungsperson (humanitas) steht in potenziellem Konflikt mit der dignitas (Würde) des Amtes, das er ausübt. Das Publikum reagiert indigniert im Angesicht von Schweißflecken in den Achselhöhlen der Kanzlerin, denn Hinweise auf Alltäglichkeit des Herrschers erinnern uns "an die Brüchigkeit der Fiktion vom übernatürlichen, ewigen Herrschaftskörper".
Manows Ausführungen klingen sicherlich ein wenig konstruiert und diesen Eindruck hat man an auch anderen Stellen seines Essays. Die Selbstverständlichkeit, mit der Parallelitäten hergestellt werden zwischen baugleichen Cadillacs in George W. Bushs Wagenkolonne und der demokratischen Lösung des Nachfolgeproblems bei vorzeitigem Herrschertod oder zwischen dem abgetrennte Köpfe auffangenden Korb an der Seite einer Guillotine und einer Wahlurne ist mitunter anstrengend. Das macht aber nichts, denn letztlich münden Manows Ausführungen immer wieder in eine zunächst nicht für möglich gehaltene Stringenz, sodass man am Ende beinahe denkt: Darauf hätte man auch selber kommen können.
Die politische Anatomie demokratischer Repräsentation.
Suhrkamp Verlag, Frankfurt/M. 2008; 170 S., 10 ¤