Wirtschaftsfaktor
2050 werden zehn statt bisher zwei Prozent der Beschäftigten in der Pflege tätig sein
Als die damalige Kohl-Regierung 1995 die gesetzliche Pflegeversicherung einführte, verband sie damit vor allem die Erwartung, dass die neuen Geld- und Sachleistungen für ambulante und stationäre Betreuung Pflegebedürftiger das Angebot an Pflegeeinrichtungen deutlich erhöhen und verbessern würden. Mehr als zehn Jahre später hat sich diese Erwartung weitgehend erfüllt. Zwar weist die Qualität der Pflege ausweislich der Prüfberichte des Medizinischen Dienstes der Krankenkassen und der Heimaufsichten der Länder noch immer zum Teil schwerwiegende Mängel auf, doch sehen sich die Pflegebedürftigen und ihre Angehörige heute einem breiten, nahezu unübersichtlichen Leistungsangebot von der Hilfe bei der häuslichen Pflege durch Angehörige bis zur vollstationären Versorgung in Heimen gegenüber.
Vor allem bei der ambulanten Pflege löste die Einführung der Pflegeversicherung, aus der jährlich bislang rund 17 Milliarden Euro und künftig, nach der im Juli in Kraft getretenen Pflegereform, nahezu 20 Milliarden Euro in den Pflegemarkt fließen, einen regelrechten Boom aus, der im Wesentlichen von neu gegründeten privatwirtschaftlich organisierten Unternehmen getragen wurde. Auch der stationäre Pflegemarkt ist seither stark gewachsen und hat eine ganze Reihe neuartiger Pflegekonzerne hervorgebracht, die allerdings noch längst nicht in Größenordnungen wie vergleichbare Unternehmen in den USA vorgestoßen sind.
Von den mehr als 11.000 zugelassenen privaten Pflegediensten befinden sich nach Daten des Statistischen Bundesamts rund 60 Prozent in privater Trägerschaft, 40 Prozent beträgt der Anteil freigemeinnütziger Träger wie Diakonie, Caritas und Arbeiterwohlfahrt. Nur zwei Prozent der ambulanten Pflegedienste gehören der öffentlichen Hand. Die privaten Anbieter sind auf dem Vormarsch, da sie Kostenvorteile haben. So zahlen sie in der Regel ihren Beschäftigten weniger als die an die Tarifbedingungen des öffentlichen Dienstes angelehnten gemeinnützigen Träger. Anders als der stationäre Pflegemarkt dominieren bei der ambulanten Pflege regionale kleine Anbieter. Ein Pflegedienst betreut im Durchschnitt nur 43 Pflegebedürftige.
Dagegen gewinnen auf dem stationären Pflegemarkt Pflegeheimketten an Boden: etwa Pro Seniore (106 Einrichtungen), Kursana (87 Einrichtungen), Curanum AG (68 Einrichtungen), Marseille Kliniken AG (65 Einrichtungen) und Casa Reha (49 Einrichtungen), um nur fünf der größten Anbieter zu nennen. Sie profitieren von Synergien wie einer gemeinsamen Verwaltung, der Auslagerung bestimmter Dienstleistungen wie Wäsche und Catering an Fremd- oder zunehmend auch eigens gegründete Tochterunternehmen und verfügten in der Vergangenheit auch über eine effizientere Personalorganisation. Hier ziehen öffentliche und gemeinnützige Träger aber zunehmend nach, straffen sehr zum Leidwesen der Berufsverbände den Personaleinsatz und kaufen Dienstleistungen bei Externen ein, die nicht an teure Tarifverträge gebunden sind.
Doch nach wie vor ist auch der stationäre Pflegemarkt höchst kleinteilig strukturiert: Von den rund 10.000 Heimen befinden sich nur einige Hundert im Besitz größerer Unternehmen. Durchschnittlich werden in einem Pflegeheim 65 Pflegebedürftige betreut, in den privat geführten sind es sogar nur 53.
Experten sehen für die Zukunft das größere Wachstumspotenzial bei Pflegeheimen und betreutem Wohnen im räumlichen Zusammenhang mit einem Pflegeheim. Insgesamt soll sich demografiebedingt die Zahl der Pflegebedürftigen bis zum Jahr 2050 nicht nur von derzeit knapp mehr als zwei Millionen auf mehr als vier Millionen verdoppeln. Es wird auch zu einem starken Anstieg der Zahl der Hochbetagten kommen, die heute zu rund 50 Prozent auf Pflege angewiesen sind. Vor allem aber werden, weil es immer mehr kinderlose Haushalte gibt und die Kinder wegen der gestiegenen Mobilitätsanforderungen oft weit entfernt von ihren Eltern leben müssen, immer mehr Pflegebedürftige nicht im eigenen Haushalt betreut werden können. Damit geht der Trend hin zu einer stärkeren Professionalisierung der Pflege, von der aus heutiger Sicht vor allem die Heimanbieter profitieren werden.
Zwar versucht die Politik hier gegenzusteuern, indem sie mit der Pflegereform die ambulanten Pflegeleistungen erhöht hat. Außerdem können sich in Zukunft leichter Wohngemeinschaften bilden, die die ihnen zustehenden Pflegeleistungen bündeln können, um sich eine passgenaue häusliche Pflege einzukaufen. Eine weitere Initiative zielt auch die Gründung von Mehrgenerationenhäusern ab. Doch bislang lässt sich nicht absehen, ob diese Bemühungen, attraktive Alternativen zur Heimpflege zu etablieren, von Erfolg gekrönt sein werden.
Zur Zeit wird noch fast die Hälfte der Pflegebedürftigen ausschließlich von ihren Angehörigen betreut, allerdings mit abnehmender Tendenz. Seit 2003 sank ihre Zahl. Währenddessen nahm die Zahl der in Heimen Versorgten stärker zu als die der von ambulanten Diensten Betreuten. Wie stark der Pflegemarkt insgesamt in den nächsten Jahrzehnten boomen wird, lässt sich vor allem an der Beschäftigung ablesen. Nach einer Studie der Stiftung für soziale Marktwirtschaft in Zusammenarbeit mit dem Freiburger Finanzwissenschaftler Bernd Raffelhüschen soll sich die Zahl der Pflegekräfte von derzeit 545.000 (davon 405.000 in Pflegeheimen, jeweils gerechnet in Vollzeitäquivalenten) bis 2050 auf 1,8 Millionen erhöhen. Sollte es gelingen, den Trend ins Heim durch bessere ambulante Angebote abzuschwächen, kommt die Studie für dieses Jahr immerhin noch auf 1,35 Millionen Beschäftigte in der Pflege. Während heute nur rund zwei Prozent aller sozialversicherungspflichtig Beschäftigten in diesem Zweig tätig sind, könnten es dann bis zu zehn Prozent sein.
Ob es tatsächlich so kommt, hängt entscheidend davon ab, ob die Leistungen der Pflegeversicherung mit dem Bedarf Schritt halten. Unklar ist auch, ob die Betroffenen beziehungsweise die bei Bedürftigen einspringenden Sozialämter die von den Pflegekassen nicht getragenen Kosten, die so genannten Hotelkosten, weiterhin übernehmen. Erste Weichen in diese Richtung wurden mit der Pflegereform gestellt. So wurden die Leistungssätze erhöht und sollen in Zukunft dynamisiert werden. Derzeit kommen zu den 17 Milliarden Euro aus der Pflegekasse rund 8 Milliarden Euro hinzu, die von den Pflegebedürftigen oder ihren Angehörigen zusätzlich aufgebracht werden müssen. Davon zahlen die Sozialämter rund 2,5 Milliarden Euro (Zahlen alle von 2005). Auch diese Summen werden in Zukunft stark steigen müssen, umso stärker, je weniger es gelingt, attraktive Alternativen zur Heimpflege zu schaffen.
Limitiert wird das Wachstumspotenzial des Pflegemarkts zudem durch den Faktor Mensch. Zumindest aus heutiger Sicht scheint es schwer vorstellbar, dass es bei einem insgesamt schrumpfenden Erwerbspersonenpotenzial gelingen wird, die erforderliche Zahl an jungen Menschen für den Pflegeberuf zu interessieren - zumindest nicht zu den derzeit oft miserablen Konditionen bei Einkommen und Arbeitsbedingungen. Bis 2050 wäre durchschnittlich ein Zuwachs von drei Prozent jährlich erforderlich. Höchst zweifelhaft ist auch, ob der deutsche Pflegearbeitsmarkt - abseits von der heute schon hohen Dunkelziffer von illegalen Pflegekräften aus Asien oder vor allem Osteuropa - in Zukunft interessant für Zuwanderer sein wird.
Wie brisant die Finanzausstattung durch Pflegeversicherung und Sozialhilfe für das Schicksal der Pflegebranche ist, zeigt auch schon ein Blick auf die heutige ökonomische Lage. Zwar gibt es bislang, abgesehen von den börsennotierten Pflegeunternehmen, kaum aussagekräftige Daten darüber, wie lukrativ das Geschäft mit der Pflege tatsächlich ist. Doch kam im Jahr 2006 das Rheinisch-Westfälische Institut für Wirtschaftsforschung Essen (RWI) auf der Basis einer Auswertung der Jahresabschlüsse von 508 Pflegeheimen zu dem Ergebnis, dass etwa 16 Prozent der Heime eine "sehr hohe Insolvenzwahrscheinlichkeit" aufweisen. Insgesamt liege die Chance, mit einem Pflegeheim pleitezugehen, mit 1,9 Prozent etwas höher als bei den Krankenhäusern - vor allem wenn es weniger als 72 Plätze hat und keiner Kette angehört, wie das RWI feststellte. Doch, wenn man einige Regeln beachte, so das Resümee der Studie, biete die Pflege grundsätzlich ein "stabiles Geschäftsfeld, weil es immer eine Nachfrage nach Pflegeleistungen geben wird".
Der Autor ist Parlamentskorrespondent beim "Handelsblatt" in Berlin.